[ox] Interview mit Frithjof Bergmann (die ZEIT)
- From: "Franz Nahrada" <f.nahrada reflex.at>
- Date: Thu, 16 Dec 2004 15:52:42 +0100
Julian von der Wertkritik - Liste hat dankenswerterweise das jüngste
Bergmann-Interview gepostet. Auch mit einem relativ neutralen
Kommentar, was ich ihm hoch anrechne. Bei einem längeren Zusammen-
treffen hab ich F.B. die Oekonux-Gedankenwelt vorgestellt und er war
höchst interessiert an Austausch und Zusammenarbeit mit Oekonux.
Warum, ist unschwer dem Interview selbst zu entnehmen.
Julian schreibt in der Wertkritik:
"Frithjof Bergmann dingelt seit einigen Jahren durch die Gegend und
erzählt allen, die es wissen wollen, das die zunehmende Automatisierung
das Problem für die derzeitigen wirtschaftlichen Probleme sei. Als
Lösung fordert er die Etablierung lokaler Ökonomien ("Neue Arbeit"
lautet das nicht ungruselige Schlagwort). Er ist dabei selbstverfreilich
nicht auf wertkritischem Ticket unterwegs und in seinen
Schlussfolgerungen beiweilen etwas krude. Aber vielleicht interessiert
es ja trotzdem die Eine oder die andere."
-----Ursprüngliche Nachricht-----
Im Auftrag von Heinz Weinhausen
Gesendet: Donnerstag, 16. Dezember 2004 00:12
An: CONTRASTE-list
Betreff: [contraste-list] Bergmann-Interview
http://www.zeit.de/2004/51/I-view_Bergmann_1
DIE ZEIT
51/2004
»Das ist nur die erste Bö eines Orkans«
Die Industriegesellschaft zerstört sich selbst. Wir müssen Arbeit
schaffen, die wir wirklich wollen: Ein ZEIT-Gespräch mit dem
amerikanischen Philosophen Frithjof Bergmann
DIE ZEIT: Was halten Sie von Hartz IV?
Frithjof Bergmann: Das ist keine große Reform, gemessen an den
Problemen. Bei den Diskussionen in Deutschland wird die Automatisierung
übersehen. Ob Bankautomaten Geld ausgeben oder ob ich mir die
Bahnfahrkarte selbst drucke ? das ist ein flächendeckendes Phänomen.
ZEIT: In Ihrem neuen Buch behaupten Sie, die Automatisierung sei ein
Grund dafür, dass uns die bezahlte Arbeit ausgehen würde. Doch in einer
Reihe von Industrieländern ist in den vergangenen Jahrzehnten viel
Arbeit entstanden.
Bergmann: Natürlich gibt es Beispiele wie die Niederlande und Schweden?
ZEIT: ?oder die USA, England, Dänemark.
Bergmann: Man hat in diesen Ländern mit größerer Fantasie einige
Teillösungen gefunden. Doch auch dort ist Arbeit knapp, viele Menschen
finden nur eine Teilzeitbeschäftigung?
ZEIT: ...in Holland ist aber auch die Gesamtzahl aller geleisteten
Arbeitsstunden gestiegen.
Bergmann: Mir geht es um das Gesamtbild. Was wir bisher erleben, ist nur
die erste Bö eines Orkans, der noch draußen auf dem Ozean wirbelt. Wenn
sich die Art von Automatisierung verbreitet, die jetzt technisch möglich
wird, dann wird sich bald zeigen: Alle Teillösungen haben nur einen
Aufschub gebracht. Das Lohnarbeitssystem, das es historisch gesehen noch
nicht lange gibt, stirbt ab.
ZEIT: Was gibt es denn für Anhaltspunkte, Zahlen oder Studien, die die
Existenz dieses Orkans belegen? In Deutschland hat die
Automobilindustrie trotz Rationalisierung und Verlagerung in den
vergangenen zehn Jahren mehr als 100000 zusätzliche Arbeitsplätze
geschaffen.
Bergmann: Denken Sie an das Gesamtbild. Überall auf der Erde geht der
Bedarf an bäuerlicher Arbeit zurück. Auch in Deutschland gibt es
sterbende Dörfer. In der so genannten Dritten Welt, die ich die
»abstürzende Welt« nenne, ist eine wahre Völkerwanderung im Gange vom
Land in die Städte ? ob in China, Indien, Mexiko oder Brasilien. Wenn
man das Problem in dieser Dimension sieht, dann sind Reformen wie in den
Niederlanden oder jetzt in Deutschland keine Lösungen. Und zur
Automatisierung: Jetzt kommt eine neue revolutionäre Technik hoch, das
ist der Fabrikator. Der kann als einzelne Maschine herstellen, wofür man
sonst ein Fließband voller Apparate braucht.
ZEIT: Sie meinen ein Gerät, das Gegenstände mit komplizierten Formen
bilden kann, indem es metallisches Pulver Schicht für Schicht
verschmilzt.
Bergmann: Ja, ein neues Produktionsprinzip. Anstatt für einen Motorblock
mit einem großen Stück Metall anzufangen und da etwas wegzufeilen oder
auszubohren, kann man den Block aus feinem Stahlpulver schichtweise
aufbauen, in einem Kasten, der etwas größer ist als ein
Wohnzimmer-Aquarium. Viele Menschen tüfteln bereits daran, mit dieser
Technik Brillen, Kontaktlinsen, Kameras und Ähnliches herzustellen.
ZEIT: Sie selbst schreiben, dass diese Technik aber nicht nur
Rationalisierungsschübe auslöst, sondern gleichzeitig zur Lösung des
Arbeitslosenproblems beiträgt ? wenn die Menschen nämlich viele Sachen,
die sie zum Leben brauchen, selbst herstellen.
Bergmann: Ja, allerdings muss ich eines klarstellen: Es geht mir bei
dieser »Neuen Arbeit« nicht nur um das Problem der Arbeitslosigkeit,
sondern auch darum, dass das jetzige System viele Pathologien aufweist.
Menschen müssen unter hohem Druck länger arbeiten, als sie es wollen ?
oft in Tätigkeiten, die weit unter ihren Begabungen liegen. Das System
ist deshalb ineffizient. Viele erleben ihre Arbeit als eine milde
Krankheit, nicht als etwas, was sie wirklich wollen oder sie beflügelt.
Gleichzeitig haben wir großartige Technologien, die wir intelligent
nutzen könnten. Dazu will ich Schritte aufzeigen, hin zu einer besseren,
humaneren, fröhlicheren Kultur.
ZEIT: Wie sieht Ihre neue Arbeitskultur aus?
Bergmann: Vereinfacht gesagt: Ein oder zwei Tage die Woche werden wir
auch in Zukunft der Lohnarbeit nachgehen, eineinhalb Tage produzieren
wir in gemeinschaftlicher High-Tech-Fertigung etwas für den eigenen
Bedarf, und zwei oder drei Tage arbeiten wir an etwas, was wir wirklich
wollen.
ZEIT: Zunächst zur High-Tech-Eigenproduktion: Sie haben schon vor Jahren
die Entwicklung eines Selbstbau-Autos angekündigt. Wie steht es damit?
Bergmann: Das Projekt ist zwischenzeitlich ins Stocken geraten, wird
aber jetzt wieder aufgegriffen. Auch hier in Deutschland bin ich im
Gespräch mit kleineren Betrieben, die auf unserer Entwicklung aufbauen
wollen. Bei diesem Auto ging es von Anfang an um ein Auto für die Dritte
Welt, das man in kleinen Werkstätten herstellen kann. Da bietet der
Fabrikator neue Möglichkeiten.
ZEIT: Vielleicht in ein, zwei Generationen?
Bergmann: ?nein, das ist ganz nah. Der Fabrikator hat seine Stärke nicht
in der Massenware. Aber nehmen Sie zum Beispiel die Millionen alter
Autobusse, die in der Dritten Welt herumfahren. Es gibt ein Projekt, mit
dem diese gefährlichen Klapperkisten erneuert werden sollen. Der
Fabrikator kann die Ersatzteile dafür herstellen.
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Anmerkung: bei der "Tagen der Utopie" im April in Vorarlberg hoffe ich
ein Gespräch zwischen Markus Merz (OS-Car) und Frithjof Bergmann,
die beide dort referieren, herbeizuführen ;-) (Franz)
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ZEIT: Aber nach Ihren Plänen sollen wir auch in den Industrieländern
Handys und Waschmaschinen selbst zusammenschrauben. Das sei billiger.
Bergmann: Große Betriebe sind teuer. Denken Sie an die Infrastruktur,
den Parkwächter, das Reinigungspersonal. Dagegen müssen Sie sich diese
Selbstbau-Werkstätten wie Copyshops vorstellen: Die benutzen Sie auch
für wenig Geld, um etwas selbst herzustellen. Heute kann man sich ja
schon Bücher oder Briefmarken selbst drucken.
ZEIT: Wenn diese Herstellung billiger ist, wird sie sich schon am Markt
durchsetzen.
Bergmann: Ja, aber man muss das auch mit der Lösung sozialer Probleme
wie der Arbeitslosigkeit verknüpfen. Statt durch enorme Subventionen und
Steuervergünstigungen für die Wirtschaft Arbeitsplätze zu schaffen,
sollte man lieber in den Städten Werkstätten einrichten, die diese neuen
Techniken für Arbeitslose zugänglich machen. Die könnten dann für sich
selbst etwas bauen, etwas lernen und damit sogar besser wieder einen
Teilzeitjob finden.
ZEIT: Neben die Eigenproduktion soll die Arbeit treten, die man
»wirklich wirklich« will, wie Sie sagen. Selbstbestimmte Arbeit, die
aber bezahlt wird?
Bergmann: Ja, bei der alten Lohnarbeit gehe ich auf Sie zu und sage:
»Das ist, was ich möchte, bitte machen Sie das!« Bei der Neuen Arbeit
überlegen Sie, was Sie wirklich wollen, dann schauen Sie sich um und
finden einen Platz, wo das hinpasst, und werden für das bezahlt, was Sie
sich ausgesucht haben. Viele gebildete Menschen sind mit ihrer Arbeit
unglücklich oder haben sie verloren, so wie der promovierte Biologe, der
Taxi fährt. Diese Leute wollen anders arbeiten. Wie produktiv wirklich
gewollte Arbeit sein kann, zeigt die Computersoftware Linux, die
Interessierte aus eigener Initiative weiterentwickeln. Das ist eine
180-Grad-Wende. Und wenn die Menschen sich noch für verhältnismäßig
wenig Geld ein einfaches Handy oder einen Kühlschrank selber bauen,
hätten sie mehr Freiräume.
ZEIT: Sie sprechen davon, dass man nur 38 Produkte als Grundversorgung
zum Leben brauchte?
Bergmann: Ja, es wird eine wachsende Gruppe von Menschen geben, die
bewusst die Wahl trifft, nicht Galeerensklave in irgendeinem Betrieb zu
sein, nur um mir diesen oder jenen Schnickschnack leisten zu können.
Leute, die etwas bescheidener leben, damit sie das machen können, was
sie wirklich wollen.
ZEIT: Aber die meisten Leute haben wahrscheinlich schon in ihrem
Toilettenschrank 38 verschiedene Produkte. Tickt die Masse einfach
anders?
Bergmann: Kommt auf die Dynamik an. Die Pathologie des Arbeitssystems
nimmt zu. Eine immer größere Zahl von Menschen wird merken, dass der
Preis, den sie für ihre 38 Toilettenartikel zahlen, sehr hoch ist: der
große Leistungsdruck, kaum Zeit für die Familie, wenig Sex. Auf der
anderen Seite wird es immer leichter, Dinge selbst herzustellen. Man
kann sich schon mit High Tech seinen individuellen Lippenstift oder ein
spezielles Shampoo machen. Das ist eine Entwicklung am Markt.
ZEIT: In Ihrem Buch ist aber auch von einer Umerziehungskampagne die
Rede, die nötig wäre.
Bergmann: Wir leben in einer Kultur, in der durch Reklame und
Massenmedien Illusionen verbreitet werden. Ich meine im Sinne der
Aufklärung nur, dass die Leute über andere Möglichkeiten und über
Realitäten informiert werden sollten. Niemand soll gezwungen werden,
nach dem Konzept der Neuen Arbeit zu leben, es geht um ein Angebot.
ZEIT: Was sollte die Politik statt Hartz IV tun?
Bergmann: Sie sollte Werkstätten für Eigenproduktion fördern, und so wie
Ökologie oder Gleichberechtigung propagiert wird, sollte auch neues
Denken über Arbeit verbreitet werden. Viele Arten von Arbeit sind
schädlich oder lassen den Geist abstumpfen ? Jobs, die niemand erledigen
sollte. Das und die Suche nach etwas, was man wirklich will, gehört in
die Lehrpläne an den Schulen. Statt Unternehmen Subventionen zu zahlen,
könnte man Menschen Stipendien geben, damit sie etwas Sinnvolles tun. Es
gibt viele Ansatzpunkte.
ZEIT: Sie schreiben, viele Menschen hätten Angst vor der »ökologischen
Apokalypse«, der »Aids-Pandemie« oder der Ankunft des Anarchismus, und
die oberen Zehntausend fürchteten sich vor dem totalen Stillstand der
Wirtschaft. Außerdem malen Sie das Bild vom ersten wirklichen und
zugleich endgültigen Weltkrieg an die Wand, nämlich Arm gegen Reich, und
stellen das als ziemlich realistisches Szenario dar. Sind Sie ein
Untergangsprophet?
Bergmann: Nein, im Gegenteil! Das sind mögliche Entwicklungen, aber es
muss nicht so kommen. »Neue Arbeit« ist eine schon lange dauernde
Anstrengung, diese Schrecken zu verhindern und einen Weg zu einer
humaneren, intelligenteren, fröhlicheren und sinnlicheren Zukunft zu
bauen.
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Das Gespräch führte Kolja Rudzio
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Web-Site: http://www.oekonux.de/
Organisation: projekt oekonux.de