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Re: [ox] Re: Wissens- und/oder Informationsgesellschaft?



Hallo Hans-Gert,

ein paar Fragen und Notizen zu deiner Mail:

Zitiere Hans-Gert Gräbe <graebe informatik.uni-leipzig.de>:
1) Ich stimme Stephan Eissler zu, dass der Begriff einer
XY-Gesellschaft unter formationstheoretischen Gesichtspunkten nur
sinnvoll ist, wenn bei der Ausprägung der Semantik dieses Begriffs
(und darum muss es dann auch gehen) das qualitativ Neue der
aufkommenden Gesellschaft sichtbar wird. Erst auf _dem_ Hintergrund
gewinnt auch die ganze Keimformdebatte neben ihrer phänomenologischen
dann auch _inhaltliche_ Substanz.

Auch das reicht IMHO noch nicht hin, denn die verlängerte Frage lautet:
Neue Qualität - in Bezug auf welche Dimension?

Ich habe dazu in Wien eine klare Position in die Diskussion
eingebracht, die ich auch gern auf http://www.opentheory.org/mtb-mawi
weiter diskutieren möchte: Es geht um den Wechsel von der
Sozialisation produktiver Arbeit zur Wissenssozialisation als
Leitsozialisation der Gesellschaft.

Siehst du, hier hast du implizit die Dimension, bzgl. derer du die
Qualität betrachtest, mit drin: "Sozialisation". Allerdings weiss ich
nicht wirklich, was du damit meinst: Was ist denn "Sozialisation
produktiver Arbeit"?

2) Ein ganzer Teil der insbesondere von StefanMn vorgebrachten
Überlegungen zu Daten, Information und Wissen ist bereits vor gut vier
Jahren in der Diskussion um Torsten Wöllerts Projekt
http://www.opentheory.org/wissenstendenz enthalten und krankt an einem
grundlegenden Defizit: Sie berücksichtigt nicht, dass "Wissen" nicht
nur beschafft, sondern auch angeeignet werden muss. Erst in der
zweiten Phase entscheidet sich, ob es für die eigene Kompetenz
wirklich "nützlich" ist. Insofern ist die Metapher vom "Rohstoff
Wissen" eine sehr trügerische, weil sie die Beschaffungsphase
hypertrophiert. Mehr dort als Kommentar.

Das Aneignungsargument hast du schon in mehreren Kontexten gebracht.
Ich habe immer drüber hinweggelesen, weil ich nicht weiss, worauf du
hinaus willst. Ich frage jetzt Mal:

Ich verstehe nicht, warum du Vergegenständlichung und Aneignung überhaupt
trennst. IMHO ist das _ein_ Prozess: Du kannst heute kaum mehr Wissen
einfach so "aufnehmen", sondern jede Aneignung ist immer mit
Vergegenständlichung verbunden, so wie jede Vergegenständlichung die
Aneignung zur Vorausetzung hat. (Vergegenständlichung meint dabei nicht
"in-Stoff" bringen, sondern allgemein "in-Form" bringen). Oder?

Zweiter nachfragender Einwand: Ist Wissen bei dir eine individual-
oder eine gesellschaftstheoretische Kategorie? Du sprichst meistens von
der individuellen Aneignung - IMHO kann der Begriff "Wissen" aber nur 
gesellschaftstheoretisch adäquat gefasst werden.

Genau darum geht es auch bei den gegenwärtigen Auseinandersetzungen um
die Begrifflichkeit "geistiges Eigentum". Die ökonomisch verortete
Seite möchte die Beschaffungshürden möglichst hoch ansetzen, die an
der Wissens-Sozialisation interessierte (Stichwort etwa "Göttinger
Erklärung", http://www.urheberrechtsbuendnis.de) möchte diese für
"Phase 2" äußerst hinderliche Hürde möglichst schleifen. Dasselbe
verfolgt im Prinzip Stallman mit der GNU-Philosophie.

Was ist "Phase 2"?

Die Argumentation sollte hier nicht hinter Eben Moglens "dotCommunist
Manifesto" zurückgehen.

Was meinst du hier?

Btw. der Link: http://emoglen.law.columbia.edu/publications/dcm.html

3) Über den Informationsbegriff "einfach mal so" zu reden, ohne
minimale Denkstandards überhaupt zur Kenntnis zu nehmen, halte ich für
wenig produktiv. Der Begriff ist derart zentral philosophisch
durchdekliniert, dass wir uns vor der Debatte über ein Minimum an
"gesetzten" Argumenten verständigen sollten. Ich nehme an, da stimmt
mir insbesondere StefanMz zu.

:-)

Ein sehr schöner Aufsatz zum Einlesen ist hier Helmut Klemms "Ein
großes Elend" im Informatik Spektrum vom August 2003 (vol="26" 
pages="267-273", bei http://www.springerlink.com, wer darf, habe auch 
eine "digitale Privatkopie").

Wenn du deine Privatkopie mit mir sharen würdest, täte ich mich freuen:-)

Ausgabe sämtlich durch 'Information' ersetzt worden sind, und geht
dann näher auf eine intensive Kontroverse zum Informationsbegriff ein,
die der Marburger Wissenschaftsphilosoph Peter Janich 1998 losgetreten
hat.

An dieser Debatte war ich beteiligt (damals hies die Zeitschrift "Ethik
und Sozialwissenschaften"). Mein Beitrag steht allerdings nicht im Netz,
das werde ich mal nachholen. Ich wurde mit einer Kollegin von Janich mit
Herbert Hörz in eine Schublade gesteckt (was mich ehrt) und abgefertigt
(was mich ärgerte).

Ein paar Zitate aus dem Aufsatz Klemms:
<zitat>Information, forderte Janich, müsse zwingend auf das
"Verständnis gelingender menschlicher Kommunikation" aufbauen und
deshalb von der Lebenswelt her verstanden werden. Das technisch
geprägte (und hier auf der Liste sehr präsente - HGG)
Informationsverständnis wäre damit - so Janich - "vom Kopf auf die
Füße" gestellt. ...  Die Kontroverse begann 1998 mit Janichs Artikel
und Stellungnahmen von über 30 Autoren im selben Heft - mit Misstönen
[und wurde extrem aggressiv geführt] ... Man sah "Grundannahmen der
Informatik infrage gestellt" (insbesondere die Relevanz des
Shannonschen Informationsbegriffs - HGG) und ließ sogar durchblicken,
Janich hätte sich erst mal "mit Fachleuten unterhalten sollen".
</zitat>

Eine für die Informatik peinliche Debatte. Nur leider war auch Janich
so schwach, aber das wenige, was er richtigerweise kritisiert hat,
hat die Hardcore-Informatiker ziemlich angegangen.

Weiter folgt viel Substanz zum Thema (die Genese des
Informationsbegriffs über die Jahrhunderte als verschiedene Varianten
des "informare", des In-Form-Bringens, des Formbegriffs überhaupt,
mit einer großen Vielfalt von ontologischen und gnoseologischen
Aspekten in unterschiedlichen Wichtungen), die ich hier nicht
ausbreiten möchte außer vielleicht folgendem:
<zitat>"Wo ist die Information", wollte man auch von Janich wissen.
Diese Frage macht schon Philosophen Schwierigkeiten - Informatikern,
Ingenieuren und Technikern umso mehr. Sie stehen meist außerhalb der
begrifflichen Tradition und sind in den engen Horizont der radikalen
Neubestimmung eingeschlossen, aus der "Information" als eine kaum
wieder zu erkennende Größe hervorgegangen ist. </zitat>

Mein Bemühen im Artikel zielte darauf ab, eine solche Frage als falsch
zu verwerfen, weil darin eine "substanzialistische" Grundannahme
steckt, als ob ein Ort oder eine Form gäbe, wo die Information "ist".

Klemm verweist immer wieder auf Raphael Capurro (www.capurro.de),
dessen Buch "Leben im Informationszeitalter" (Akademie Verlag 1995)
ich nur wärmstens als Anfangslektüre empfehlen kann. Online habe ich
einen längeren Artikel von Fuchs-Kittowski zu bieten, siehe meine nicht
sehr aktuelle Texte-Seite http://www.hg-graebe.de/Texte, der aber sicher
kein Ersatz für die Lektüre von Capurros Buch ist.

Capurro habe ich mal live erlebt, und er hatte (mir) nichts Neues zu
sagen - ich fand's eher fad. Das hat mich davon abgehalten, sein Buch
zu lesen. Habe ich was verpasst?

Außerdem erinnere ich an den Aufsatz von Uli Briefs: [ox] 20.10.2000, 
http://www.oekonux.de/liste/archive/msg01088.html und meine Bemerkung 
dazu, http://www.oekonux.de/liste/archive/msg01091.html, auch wenn das 
schon "verjährt" ist.

Finde ich nicht "verjährt" - auch wenn Ulrich Briefs den Mythos
"Informationen haben den gleichen Charakter und Stellenwert wie Materie
und Energie" fortschreibt und IMHO den Kern der Debatte nicht erfasst
hat (den wir hier diskutieren: neue Qualität der Entwicklung).

Ciao,
Stefan


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