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(Basis)demokratie, Maintainertum und ein OHA-Modell für Oekonux (was: [ox] Basisdemokratie)



Hi alle!

Ich bin wirklich froh, dass diese Debatte *endlich* kommt. Ich hoffe
sehr, dass an ihrem Ende eine neue Regelung der OHA-Frage für Oekonux
steht.

Um den Rahmen gleich ein wenig einzugrenzen: Können wir annehmen, dass
wir wollen, dass eine solche Regelung sich zumindest grob an dem
orientiert, was Freie Software in dieser Hinsicht zu bieten hat? Oder
gibt es Gründe anzunehmen, dass das Freie Projekt Oekonux irgendwie
grundlegend anders funktioniert?

Ansonsten will ich erst mal eher theoretisch auf das Thema eingehen.
Konkrete Ableitungen sollten wir m.E. erst treffen, wenn wir noch
besser verstanden haben, um was es eigentlich geht. Na, hier meine 2
Cent.

Last week (8 days ago) Till Mossakowski wrote:
1. Die Rolle des Maintainers ist unverzichtbar
    (Begründung: nur so kann Zerfaserung verhindert und nachhaltige
     Wirkung erzielt werden)

Wichtig erstmal: Es gibt eine Rolle. Rolle und Person sind aber seit
Ende des Feudalismus getrennt - in diesen Dingen jedenfalls. Mit dem
Auseinanderfallen von Person und Rolle entsteht natürlich sofort die
Frage, wie das wieder zusammen gebracht werden kann. (Repräsentative)
Demokratie löst dieses Problem indem per Mehrheitsentscheid die
Rollen-/Amtsinhaber bestimmt werden.

M.E. gibt es hier zwei Entfremdungsschritte. Der erste Schritt besteht
in der Entfremdung der allgemeinen Rolle von der konkreten Tätigkeit.
Bin je ich MaintainerIn, so ist ein Teil je meiner Tätigkeit eben
MaintainerInnen-Tätigkeit - unabhängig davon übrigens, ob je ich will
oder nicht: Die Rolle legt die Sicht anderer auf je mein Tun ein Stück
weit fest. Da je ich aber im Gegensatz zur FeudalherrIn nicht als
MaintainerIn geboren bin, fällt da etwas auseinander. Ein Phänomen
übrigens, das (konkret) ich in meiner Maintainer-Tätigkeit oft genug
erlebt habe. Ich kann mich dann nicht so verhalten, wie ich es ohne
diese Rolle täte. Allerdings habe ich für dieses Entfremdungsproblem
keine Lösung. Das Konzept der Rolle finde ich auf jeden Fall als
Strukturierungshilfsmittel ausgesprochen nützlich.

Der zweite Entfremdungsschritt besteht in der personalisierten Wahl.
Es geht ja in einem OHA-System eigentlich nicht darum, *wer*
Entscheidungen trifft, sondern *welche* Entscheidungen getroffen
werden. Gebe je ich meine Stimme an eine MaintainerIn ab, so habe ich
aber keinen direkten Einfluss mehr auf die Entscheidungen - das
Problem der Partizipation. Schlimmer aber noch ist der Wahlvorgang an
sich, in dem ja überhaupt nicht mehr über die konkrete Tätigkeit der
MaintainerIn entschieden wird, sondern nur noch über ihre Person. Wozu
das führt können wir beinahe tagtäglich in Wahlkämpfen beobachten:
Eine größere Entfremdung zwischen der Sache um die es geht - eine
bestimmte Rolle in einem OHA-System gut auszufüllen - und einer
modernen demokratischen Wahl kann ich mir kaum vorstellen.

Diese Entfremdungsproblematik bei der Demokratie macht mich sehr
skeptisch gegenüber demokratischen Wahlen.

Neben der Maintainer-Rolle gibt es sicher noch mehr. Welche?

Zur Maintainer-Rolle:

Thomas U. Grüttmüller wrote:
Und was macht der in deinem Modell? Wenn er nach Lust und Laune entscheiden
darf, hat es nichts mit Basisdemokratie zu tun.

er/sie macht Arbeit, ohne die das Ganze nicht laufen würde, und trifft
dabei natürlich auch (de facto-)Entscheidungen, das lässt sich gar nicht verhindern.

Aha, da macht also jemensch auch Arbeit - oder in meinem Speak:
betätigt sich. Das finde ich z.B. gegenüber Demokratie und anderen im
Kern fordistischen Modellen einen ganz großen Unterschied. In den
fordistischen Modellen fallen Entscheidung und Handeln nämlich gerne
auseinander. Das ist auch klar: Fordistische Arbeit beruht genau
darauf, dass die Handelnden nur Verlängerungen der Maschine sind und
im Prinzip genauso funktionieren.

Bei Kreativveranstaltungen, wie sie in der heraufziehenden
Informationsgesellschaft die Regel sind, funktioniert aber genau das
nicht mehr:

6 days ago Till Mossakowski wrote:
Dennoch wird es immer so sein, dass der Maintainer viele
Detailentscheidungen trifft, die schon aus Zeitmangel gar nicht alle diskutiert werden
können.

Eben. Nur dass hier letztlich *alle* Rollen betroffen sind. Einen
wichtigen Faktor nennt Till auch:

Der Mainainer hat dabei erstmal einen Vertrauensvorschuss.
[...]
Deshalb ist der Vertrauensvorschuss so wichtig, und auch die Möglichkeit
der Abwahl, falls das Vertrauen nicht mehr gegeben ist.

Eben. Wenn Command and Control nicht mehr funktioniert, weil die Art
der Tätigkeit es schlicht nicht mehr herbgibt, dann ist Vertrauen die
einzige Art gemeinsam weiter zu kommen. Ein Fakt übrigens, der auch in
den Teilen der kapitalistischen Arbeitswelt eine Rolle spielt, die
bereits in die Informationsgesellschaft hinein ragt.

Das halte ich allerdings nur für einen Notbehelf:

Deshalb ist der Vertrauensvorschuss so wichtig, und auch die Möglichkeit
der Abwahl, falls das Vertrauen nicht mehr gegeben ist.

Viel wichtiger wäre doch, die Vertrauensbasis wieder herzustellen -
oder?

Es taucht natürlich die Frage auf, wie die Vertrauensbasis überhaupt
entstehen kann. Klar scheint mir, dass es dafür keine antagonistischen
Interessen geben darf. Dies scheint mir in der Regel dann gegeben zu
sein, wenn die Ziele eines gemeinsamen Vorhabens klar sind. Wichtige
Nebenbedingung ist allerdings, dass es eben keine, oder höchstens
marginale entfremdete Interessen an dem gemeinsamen Vorhaben gibt.
Sonst entsteht das, was Benni mir als "Pfründe sichern" vorgeworfen
hat.

Mir scheint diese Orientierung auf gemeinsame Ziele grundlegend.
Letztlich ist ein Fork genau dann gerechtfertigt, wenn die Ziele sich
so unterscheiden, dass die Interessen antagonistisch werden.

Und wo ich gerade beim Fork bin: Ja, ich kenne einen erfolgreichen
Fork auf der Ebene politischer Projekte. Oekonux ist mit gewissem
Recht nichts anderes als ein Fork aus der Krisis heraus. Allerdings
war das recht schmerzlos, weil ich für meinen Teil mich sehr früh
entschieden habe, nicht innerhalb der Krisis für das zu kämpfen
(verwende ich selten, aber hier scheint es mir angemessen), was mir
damals vorschwebte.

Neben der Orientierung auf gemeinsame Ziele kommt noch so etwas wie
Bewährung hinzu. Erst nach einer gewissen Phase kann je ich sehen, ob
dass, was je ich für gemeinsame Ziele gehalten habe, auch in der
Praxis so von je mir und den anderen geteilt wird. Die praktische
Bestätigung der gemeinsamen Ziele im Handeln der Teilnehmenden ist
das, was letzlich Vertrauen schafft. Dies ist ein permanenter Prozess
und eine Abwahl wäre nichs weiter als ein Eingeständnis des Scheiterns
dieses Prozesses.

Zu den Rollen gibt es aber noch andere spannende Beiträge.

Last week (7 days ago) Franz Nahrada wrote:
Der Grund ist
sehr simpel: Das Produktionsmodell Freier Software kennt nicht die
abstrakte Gleichbehandlung von Menschen nach dem Prinzip der Demokratie.

Ja, das fühle ich auch so. Aber: Das widerspricht letzlich dem Modell
von Rollen, da Rollen ja eben gerade die Abstraktion von Tätigkeiten
konkreter Personen sind. Interessant!

Stattdessen sind die Mitbestimmungsmöglichkeiten in einem Projekt immer
nach dem Grad der Mitarbeit abgestuft. Wiewohl Projekte automatisch user
requirements in sich aufnehmen, polls veranstalten können, so
funktionieren sie doch im Prinzip nach dem Muster daß Menschen gemeinsam
ein Interesse organisieren. Wenn ein Mensch in seiner Funktion für ein
Projekt zu egomanisch wird, können ihm andere die Kooperation verweigern.

Auch Franz hebt diese enge Kopplung von aktivem Handeln und
Entscheiden nochmal hervor. Übrigens eine Erfahrung, die es auch in
der Selbstverwaltungsszene gibt: Dort geht es auch nicht an, dass
Leute neu in ein seit zehn Jahren bestehendes Projekt kommen und als
Erstes und ohne Rücksicht den Pflug ansetzen. Ich habe noch keine
guten Begriffe dafür, aber in gewisser Weise hat auch das was mit dem
Vertrauen zu tun. Kann je ich diesem Neuling vertrauen, dass sie
ebenso langfristig wie je ich die Ziele des gemeinsamen Handelns
mitträgt?

(Wobei die Ziele des gemeinsamen Handelns nichts grundsätzlich
Statisches, aber eben auch nichts grundsätzlich Beliebiges sind.)

Last week (8 days ago) Till Mossakowski wrote:
3. Eine Gruppe, die sich verstärkt Gedanken um die Zukunft des Projekts
    macht (wie pox), ist unverzichtbar
    (Begründung ähnlich wie bei 1)

Hier würde ich vor allem eine Arbeitsteilung sehen, die den
Bedürfnissen der je Beteiligten folgt. Manche Leute - ich z.B. -
organisieren gerne, andere setzen nur gerne mal etwas unstrukturiert
in die Welt. Wichtig: Beide sind dabei aufeinander angewiesen, denn
die Fähigkeiten ergänzen sich!

5. In Sachfragen (wie z.B. der Wiki-Diskussion) wird versucht, einen Konsens
    zu erreichen. Erst wenn dies nicht gelingt, wird per Abstimmung
    entschieden
    (Begründung: Konsens ist wünschenswert, aber nicht zwanghaft erreichbar.
     Bei einem offenen Konflikt wirkt eine Abstimmung klärend.
     Zudem hat die "Basis" (ox) so niedrigschwellige Einflussmöglichkeiten.
     Bereits der Hinweis auf die Möglichkeit, bei pox mitzumachen, ist zu
     hochschwellig für jemanden wie z.B. mich. Erst recht ist der Hinweis auf
     die Möglichkeit zu forken, viel zu hochschwellig.

Der Konsens ist ja hier sehr umstritten (meine Definition: Konsens ist
erreicht, wenn keineR dagegen sein muss). Vor allem StefanMz mag das
nicht. Mich würde interessieren warum.

Es gibt eine lange Tradition von Rätedemokratie (führe ich jetzt nicht näher
aus), die auch in der freien Software-Bewegung ihren Niederschlag gefunden hat,
im Debian-Projekt. Wenn Oekonux Impulse für eine zukunftsfähige Gesellschaft
geben will, sollte es sich meiner Meinung auch hier etwas tun.

Aber die Rätedemokratie entstammt einer Zeit, wo die
Produktivkraftentwicklung einen ganz bestimmten Stand erreicht hatte.
Dies hat einerseits eine bestimmte Rollenverteilung (Kopf vs. Hand)
zur Folge und andererseits sind auch die technischen Möglichkeiten zur
Partizipation heute ganz andere.

Nehmen wir nur [pox]. Früher wäre das ein Gremium gewesen, dass sich
regelmäßig irgendwo trifft und einsam entscheider. Mit Glück gibt es
nach einem Monat ein papiernes Protokoll, von dem du nur hoffen
kannst, dass es einigermaßen die Debatte wider spiegelt. [pox] ist
dagegen transparent bis zum Abwinken und die Einstiegshürde - kann ja
auch vorüber gehend sein - ist wirklich extrem niedrig und jederzeit
zu machen. Das ist ein qualitativer Unterschied in der Technik, der
m.E. auch ganz klar nach Unterschieden in der Organisation ruft.

Na, so weit mal für heute. Ich schreibe aber sicher noch mehr zu
diesem Thema. Und ich freue mich, dass wir diese Debatte *endlich* so
produktiv haben :-) :-) .


						Mit Freien Grüßen

						Stefan

--
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Web-Site: http://www.oekonux.de/
Organisation: http://www.oekonux.de/projekt/
Kontakt: projekt oekonux.de



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