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Re: [ox] Wissens- und/oder Informationsgesellschaft?



Hi Stefan!

Stefan Merten (2005-06-25 12:53 [PHONE NUMBER REMOVED]):
[von früher]:
Wie würdest du das Wissen bezeichnen, das mir z.B. das Heben meines
Arms ermöglicht? Also dieses sehr "verborgene" Wissen, dass i.d.R. in
frühen Lebensphasen bei der Beschäftigung mit dem eigenen Körper
bildet. Gesellschaftlich kumulierte Erfahrung ist das ja wohl nicht -
oder?

Das, was Dir das Heben Deines Arms ermöglicht, würde ich
Gravitation nennen!  

Ob es sinnvoll sein kann, Gravitation als eine Form des Wissens zu
betrachten, habe ich schonmal gefragt.  Wenn man noch andere
Faktoren betrachten will, die für das Heben Deines Arms als
Voraussetzung gelten können, so gehört dort sicher die Verdauung
und Verbrennung, die Kommunikation zwischen verschiedenen Geweben
und Zellen dazu... und auch die Selektion gehört dazu, welche
Lebewesen, welchen die Fähigkeit, ihren Arm zu heben, abging, die
Fortpflanzung erschwert hat, und somit relativ sichergestellt hat,
daß Du nicht zu diesen gehörst. Aber Wissen?  Was soll das mit
Wissen zu tun haben?

Da ich vermute, Dich nicht überzeugt zu haben (bzw. mich nicht
einmal verständlich gemacht haben zu können), möchte ich meinen
Zweifel nochmal anders formulieren:  Kann man als Wissen
bezeichnen, was es dem Knie ermöglicht, in die Höhe zu schnellen,
wenn man mit einem Hämmmerchen draufklopft?  Warum und inwiefern
(nicht)?

Zu Deiner zweiten Frage, was habe Deine Möglichkeit, den Arm zu
heben, mit gesellschaftlich kumulierter Erfahrung zu tun, möchte
ich zurückfragen, ob Du überzeugt bist, daß ein Säugling, der
keinen Umgang mit Menschen hat, also bspw. im Brutkasten am Tropf
hängt, lernen würde, seinen Arm zu heben.  Ich würde das stark
bezweifeln. (Fakt schein jedenfalls zu sein, daß ein solcher
Mensch nicht einmal ein Immunsystem aufbauen würde; wobei ich
natürlich nicht weiß, ob das Immunsystem oder das was es
ermöglicht, in Deinen Begriff von Wissen fallen (wenn ja/nein --
warum/warum nicht?).)

Damit gebe ich zwar jetzt zu, daß physikalische, chemische und
biologische Zusammenhänge nicht die einzigen Faktoren sind, die
Dir das Heben Deines Arms ermöglichen, aber noch lange nicht, daß
die Zusammenhänge, die im Gehirn des Individuums erst im Laufe
seines Lebens angelegt bzw. ausgeprägt werden müssen, pauschal als
Wissen bezeichnet werden können.  Denn im Gehirn tummelt sich bei
weitem mehr als das sogenannte Bewußtsein, zum Beispiel auch das,
was man gemeinhin als Unterbewußtsein bzw. Unbewußtes bezeichnet,
dessen Inhalt also in sprachlicher Konsequenz als Unterwissen bzw.
Unwissen bezeichnet werden müßte ;-)

Wenn man sich auf den Sprachgebrauch stützen möchte, kann man
allerdings sehr leicht auf die Idee kommen, es handele sich bei
den Voraussetzungen zum Heben des Arms um `individuelles Wissen'
-- schließlich ist es durchaus nicht ungebräuclich zu sagen `er
weiß, seinen Arm zu heben' (namentlich im Französischen ist diese
Art der Formulierung noch naheliegender als auf deutsch); aber
dann könnte man auch sagen, daß es Dein *Verständnis* sei,
aufgrund dessen Du `es verstehst, Deinen Arm zu heben', oder man
sucht dieses Etwas einfach in Deinem Können, da es schließlich vor
allem darum geht, ob Du Deinen Arm heben `kannst'...

Warum sage ich das? Um Dir jetzt die Frage stellen zu können, ob
bzw. inwiefern Du mit Deinem Begriff von Wissen `Können' und
`Wissen', `Fertigkeiten, Fähigkeiten' und `Kenntnisse'
unterscheidest -- unterscheiden kannst, zu unterscheiden verstehst
oder zu unterscheiden weißt ;-)

Die Wissensproblematik hat viele Facetten.

Zweifellos. ... 

Aber nicht alle Facetten sind Facetten der Wissensproblematik!

... Wie schon andernmails erwähnt zerlegt sich meine
Begrifflichkeit durch diesen Thread nach und nach. 

Da kann ich ja hoffen, wenigstens hierbei behilflich sein zu
können ;-)



Noch ein paar Gedanken/Fragen zum Verbalismus:

... würde ich deine Frage (die Rolle der nicht verbalisierbaren
eigenen Erfahrungen und die Frage, ob auch die einem
Sozialisierungsprozess unterliegen) *zunächst* ausklammern
wollen. Allerdings auch die Frage "Kennen Tiere Wissen?"

Wichtiges Stichwort scheint mir hier das Verbalisieren. Es gibt
in der aufklärerischen Tradition sicher eine starke Tendenz nur
das als Wissen zu bezeichnen, was verbalisierbar und damit
letztlich formalisierbar ist. Heute kommt hinzu, dass es mit der
Hilfe von Computern grundsätzlich auch technisierbar ist.

Diese Haltung halte ich aber für eine extrem ahistorische,
kulturell bornierte und noch dazu nicht hinreichende.
Ahistorisch ist sie, weil sie die Existenz von Wissen in
vorschriftlichen Kulturen schlicht leugnet. 

Häh?  Wieso ist jetzt Verbalisieren mit Verschriftlichen
identisch?!  [Du scheinst wirkklich einen Gebrauch der Sprache zu
pflegen, der sich nicht im mindesten darum schert, daß Sprache nur
als solche funktioniert, wenn ihre Elemente zu einem gewissen Maß
von den Teilnehmern in gleicher Weise interpretiert oder gar
verstanden werden können :-( ]

Noch dazu ist sie nicht hinreichend, da der Begriff des
gesellschaftlichen Wissens damit auf das formalisierbare
reduziert wird. Das ist analog zu der Reduktion der
gesellschaftlich relevanten Arbeit auf die bezahlte. In beiden
Fällen ist aber der jeweilge Rest vermutlich sogar vom Umfang
her mindestens ebenso groß. Eine Ausblendung des
nicht-formalisierbaren Wissens aus dem Wissensbegriff kann also
nur zu in einem übergreifenden Sinne falschen Ergebnis führen.

Wenn man die Dinge differenziert betrachtet, leugnet man noch
nicht ihre Existenz, und in meiner Behauptung, eine Zitrone sei
kein Apfel, kommt wohl kaum meine Geringschätzung gegenüber der
Zitrone oder gegenüber dem Apfel zum Ausdruck.  Daher halte ich
diese Deine Replik für ziemlich unsachlich.

Davon abgesehen denke ich, dass die Grenzen zwischen sehr
individuellem "verborgenem" Wissen wie dem oben beschriebenen
und "verborgenem" Wissen wie etwa dem Wissen über soziale
Verhaltensweisen fließend sind. Das fängt schon sogar schon bei
den Körperbewegungen an: Wer z.B. einmal eine Balletausbildung
genossen hat - mithin also einen gesellschaftlichen Einfluss -
wird sich anders bewegen als ohne.

Ja, und ein gehobelter Klotz wird sich anders anfühlen, als ein
ungehobelter. Aber was hat das mit Daten, Informationen oder
Wissen zu tun?

Und was die Formalisierbarkeit betrifft, möchte ich folgende
Fragen anregen:  

- Hat Wissen etwas mit Bewußtsein zu tun?  

- Hat Sprache etwas mit Bewußtsein zu tun? (Egal ob verbale
  Sprache oder Sprache, die sich auf irgendwelche anderen Zeichen
  stützt...)

- Hat Sprache, haben Zeichen etwas mit Formalisierbarkeit zu tun?

Und daran anschließend:

- Gibt es Wissen oder auch nur Kenntnisse ohne Verallgemeinerung?
  (Falls nein: Kann man verallgemeinern ohne zu formalisieren?)

- Gibt es geistige Kommunikation ohne Verallgemeinerung /
  Formalisierung?  -- Gibt es Wissen ohne Kommunikation?

Bonne journée,
El Casi.

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Kontakt: projekt oekonux.de



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