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Re: [ox] Wissens- und/oder Informationsgesellschaft?



Hi El et al!

3 weeks (24 days) ago El Casi wrote:
Stefan Merten (2005-06-25 12:53 [PHONE NUMBER REMOVED]):
[von früher]:
Wie würdest du das Wissen bezeichnen, das mir z.B. das Heben meines
Arms ermöglicht? Also dieses sehr "verborgene" Wissen, dass i.d.R. in
frühen Lebensphasen bei der Beschäftigung mit dem eigenen Körper
bildet. Gesellschaftlich kumulierte Erfahrung ist das ja wohl nicht -
oder?

Das, was Dir das Heben Deines Arms ermöglicht, würde ich
Gravitation nennen!

Nun, Karl hatte diesen seltsamen Schluss schon moniert. Natürlich sind
es die Muskeln, die den Arm heben - eben gegen die Gravitation. Diese
Muskeln müssen aber auf eine bestimmte Art und Weise gesteuert werden
um das zu vollbringen. Wenn du - im Sinne deines Körpers - nicht dazu
in der Lage bist, diese Steuerung hinzukriegen, dann ist dein Arm
entweder lahm oder hebt sich nicht auf deinen Wunsch sondern macht die
wunderlichsten Dinge - epileptische Anfälle mögen zur Illustration
dienen.

Um es mit Hans-Gert auszudrücken: Du brauchst also eine Kompetenz im
Armheben, die eben nicht selbstverständlich ist. Du musst die
Möglichkeit haben, vom Gehirn aus deine Muskeln über deine Nerven und
meinetwegen über noch ein paar Zwischenstationen so zu beeinflussen,
dass der Arm das Gewünschte tut. An dieser Stelle sind minimal
übrigens Signale im Spiel.

*Wie* das jetzt genau zu bewerkstelligen ist, ist aber eine Sache von
Lernen. Kommt so ein Menschlein auf die Welt, muss es tatsächlich über
einige Jahre den Umgang mit seinem eigenen Körper lernen. Angeboren
ist wohl lediglich ein gewisser Antrieb, dieses Lernen auch zu tun.

Lernen führt für mich aber immer zu einem (individuellen) Wissen.
Wissen wiederum ist für mich eine unabdingbare Vorbedingung für
Kompetenz, also die Fähigkeit etwas zu tun.

Ob es sinnvoll sein kann, Gravitation als eine Form des Wissens zu
betrachten, habe ich schonmal gefragt.

Diese Bemerkung und einiges vom Rest dazu überspringe ich mal, weil er
offenbar auf einem Mega-Missverständnis beruht.

Da ich vermute, Dich nicht überzeugt zu haben (bzw. mich nicht
einmal verständlich gemacht haben zu können), möchte ich meinen
Zweifel nochmal anders formulieren:  Kann man als Wissen
bezeichnen, was es dem Knie ermöglicht, in die Höhe zu schnellen,
wenn man mit einem Hämmmerchen draufklopft?  Warum und inwiefern
(nicht)?

Zugegeben: Eine diffizile Frage. Mit dem obigen Instrumentarium wäre
zu fragen, ob es sich hier um eine erlernte Kompetenz handelt. Wohl
eher nicht - aber dafür bin ich nicht genug Biologe / Mediziner.

Vielleicht können wir es so eingrenzen: In Wechselwirkungen kommt dann
Information vor, wenn sie nicht durch simple Naturgesetze alleine
funktionieren.

Ja, viele Grauzonen. Was ich meine: Gravitation als Wechselwirkung hat
nichts mit Information zu tun, da einfaches Naturgesetz. Die Bildung
von Proteinen aus DNA hat m.E. dagegen sehr wohl etwas mit Information
zu tun, da die Bildung der Proteine eben nur mit Hilfe einer
(biologischen) Appartur aus der in der Information der DNA hervor geht
- jedenfalls so weit ich das verstanden habe.

Oder beim Computer - wo ich mich deutlich besser auskenne ;-) . Die
Information auf einer Festplatte lässt sich nur mit einer
(erheblichen) Apparatur operationalisieren. Die dingliche Darstellung
der Information selbst leistet die Operationalisierung jedenfalls
nicht.

Zu Deiner zweiten Frage, was habe Deine Möglichkeit, den Arm zu
heben, mit gesellschaftlich kumulierter Erfahrung zu tun, möchte
ich zurückfragen, ob Du überzeugt bist, daß ein Säugling, der
keinen Umgang mit Menschen hat, also bspw. im Brutkasten am Tropf
hängt, lernen würde, seinen Arm zu heben.  Ich würde das stark
bezweifeln.

Ich nicht, aber dass auch diese Formen von (individuellem) Wissen
gesellschaftlich überformt sind, hatte ich mit dem Balletbeispiel
angedeutet.

Damit gebe ich zwar jetzt zu, daß physikalische, chemische und
biologische Zusammenhänge nicht die einzigen Faktoren sind, die
Dir das Heben Deines Arms ermöglichen, aber noch lange nicht, daß
die Zusammenhänge, die im Gehirn des Individuums erst im Laufe
seines Lebens angelegt bzw. ausgeprägt werden müssen, pauschal als
Wissen bezeichnet werden können.  Denn im Gehirn tummelt sich bei
weitem mehr als das sogenannte Bewußtsein, zum Beispiel auch das,
was man gemeinhin als Unterbewußtsein bzw. Unbewußtes bezeichnet,
dessen Inhalt also in sprachlicher Konsequenz als Unterwissen bzw.
Unwissen bezeichnet werden müßte ;-)

Nur, wenn du Wissen mit Bewusstsein in eins setzt bzw. Wissen nur als
Teil des Bewusstseins zulässt. Davon bin ich allerdings weit entfernt.
Für all das, was so von Menschen gelernt werden kann, das für dich
nicht in Wissen resultiert, müsstest du dann eine Bezeichnung für das
Lernergebnis angeben.

Wenn man sich auf den Sprachgebrauch stützen möchte, kann man
allerdings sehr leicht auf die Idee kommen, es handele sich bei
den Voraussetzungen zum Heben des Arms um `individuelles Wissen'
-- schließlich ist es durchaus nicht ungebräuclich zu sagen `er
weiß, seinen Arm zu heben' (namentlich im Französischen ist diese
Art der Formulierung noch naheliegender als auf deutsch); aber
dann könnte man auch sagen, daß es Dein *Verständnis* sei,
aufgrund dessen Du `es verstehst, Deinen Arm zu heben', oder man
sucht dieses Etwas einfach in Deinem Können, da es schließlich vor
allem darum geht, ob Du Deinen Arm heben `kannst'...

Warum sage ich das? Um Dir jetzt die Frage stellen zu können, ob
bzw. inwiefern Du mit Deinem Begriff von Wissen `Können' und
`Wissen', `Fertigkeiten, Fähigkeiten' und `Kenntnisse'
unterscheidest -- unterscheiden kannst, zu unterscheiden verstehst
oder zu unterscheiden weißt ;-)

Ich sehe zunehmend, dass all diese Dinge mit in den Kontext gehören.
Wir sollten m.E. allerdings erstmal versuchen, mit eher wenigen Worten
auszukommen, um die Verwirrung nicht unnötig zu steigern.

Noch ein paar Gedanken/Fragen zum Verbalismus:

... würde ich deine Frage (die Rolle der nicht verbalisierbaren
eigenen Erfahrungen und die Frage, ob auch die einem
Sozialisierungsprozess unterliegen) *zunächst* ausklammern
wollen. Allerdings auch die Frage "Kennen Tiere Wissen?"

Wichtiges Stichwort scheint mir hier das Verbalisieren. Es gibt
in der aufklärerischen Tradition sicher eine starke Tendenz nur
das als Wissen zu bezeichnen, was verbalisierbar und damit
letztlich formalisierbar ist. Heute kommt hinzu, dass es mit der
Hilfe von Computern grundsätzlich auch technisierbar ist.

Diese Haltung halte ich aber für eine extrem ahistorische,
kulturell bornierte und noch dazu nicht hinreichende.
Ahistorisch ist sie, weil sie die Existenz von Wissen in
vorschriftlichen Kulturen schlicht leugnet.

Häh?  Wieso ist jetzt Verbalisieren mit Verschriftlichen
identisch?!

Ok, genau genommen müsste ich von vorverbalen Kulturen sprechen.
Wichtiger sind mir aber die non-verbalen Anteile in jeder Kultur.

Noch dazu ist sie nicht hinreichend, da der Begriff des
gesellschaftlichen Wissens damit auf das formalisierbare
reduziert wird. Das ist analog zu der Reduktion der
gesellschaftlich relevanten Arbeit auf die bezahlte. In beiden
Fällen ist aber der jeweilge Rest vermutlich sogar vom Umfang
her mindestens ebenso groß. Eine Ausblendung des
nicht-formalisierbaren Wissens aus dem Wissensbegriff kann also
nur zu in einem übergreifenden Sinne falschen Ergebnis führen.

Wenn man die Dinge differenziert betrachtet, leugnet man noch
nicht ihre Existenz, und in meiner Behauptung, eine Zitrone sei
kein Apfel, kommt wohl kaum meine Geringschätzung gegenüber der
Zitrone oder gegenüber dem Apfel zum Ausdruck.  Daher halte ich
diese Deine Replik für ziemlich unsachlich.

Ich bin sehr für Differenzierung. Du differenzierst aber in deinem
Beispiel für mich schon auf der Ebene von z.B. verbalisiertem und
non-verbalem Wissen. Da zu differenzieren scheint mir auch sinnvoll.
Das eine oder das andere aus der Betrachtung von Wissen aber ganz
auszublenden scheint mir aber ein blinder Fleck.

Und was die Formalisierbarkeit betrifft, möchte ich folgende
Fragen anregen:

- Hat Wissen etwas mit Bewußtsein zu tun?

Nein - wie oben schon ausgeführt.

- Hat Sprache etwas mit Bewußtsein zu tun? (Egal ob verbale
  Sprache oder Sprache, die sich auf irgendwelche anderen Zeichen
  stützt...)

Nicht mit dem, was ich als Bewusstsein bezeichnen würde. Sonst gäbe es
z.B. keine unbewussten Äußerungen wie z.B. Körpersprache - die aber
sehr wohl verstanden werden kann - bewusst und unbewusst.

- Hat Sprache, haben Zeichen etwas mit Formalisierbarkeit zu tun?

Zweifellos. Ich würde hier Stephans Ausführungen zu Symbolen/Zeichen,
Codes und Syntax folgen.

Und daran anschließend:

- Gibt es Wissen oder auch nur Kenntnisse ohne Verallgemeinerung?

Ich denke nicht. Wissen hat immer etwas mit der Abstraktion konkreter
Erfahrung zu tun und eine Abstraktion ist immer eine
Verallgemeinerung.

  (Falls nein: Kann man verallgemeinern ohne zu formalisieren?)

Schwierig. Ich würde sagen, ja, da nicht jede Verallgemeinerung einen
Formalismus braucht. Aber letztlich eine Frage, was alles unter Syntax
fällt.

- Gibt es geistige Kommunikation ohne Verallgemeinerung /
  Formalisierung?

Wenn ich mal dem einen Defintionsstrang folge, dann treten bei einer
Kommunikation zwei Wissende über (irgend eine) Syntax miteinander in
Verbindung. Da Syntax immer Formalisierung bedeutet: Nein.

-- Gibt es Wissen ohne Kommunikation?

Ganz sicher sogar. S.o.


						Mit Freien Grüßen

						Stefan

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Kontakt: projekt oekonux.de



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