Liberale Theorie, was Re: [ox] Wissens- und/oder Informationsgesellschaft?
- From: Hans-Gert Gräbe <graebe informatik.uni-leipzig.de>
- Date: Tue, 26 Jul 2005 11:26:50 +0200
Hallo Stephan,
danke für deine Ausführungen zu liberaler Theorie. Dass du als
"Liberaler" so argumentierst ist mir klar; und eigentlich erwarte ich es
ja auch so. Schublade auf, Schublade zu - und fertig -- das liegt mir
allerdings fern; und du hast hoffentlich die Quotes um das Wort
Liberaler wohlwollend registriert. Dass du als Kenner der Materie hier
viel Input geben kannst, steht außer Zweifel. Wie im Übrigen auch
Karsten Weber, wenn man sich nicht an einer - scheinbaren oder
tatsächlichen - Beschränktheit reibt., die er im gleichen Zug der
Oekonux-Debatte, genauer seiner Wahrnahme davon, unterstellt. Jedenfalls
setzt es auf (für mich) erfreuliche Weise den Thread fort, zu dem es in
meine Richtung am 10.9.04 die letzte PM gab (mit der "Hacker-Ethik" im
Anhang). In meiner Antwort (PM vom 23.9.04) ging es um genau das Thema hier.
Übrigens scheint die "Hacker"-Kultur auch andere zu bewegen, siehe Mara
Kaufman "A Hacker's Perspective on the Social Forums" auf meiner
Texte-Seite http://www.hg-graebe.de/Texte/index.html
Doch nun zu Inhalten:
Stephan Eissler wrote:
Vor allem zu Beginn bis Mitte des 20. Jahrhunderts stießen viele Aspekte
sowohl des politischen wie auch des ökonomischen Liberalismus gerade deshalb
auf breite Ablehnung oder doch zumindest auf Skepsis, weil es für den
unbedarften Alltagsverstand recht offensichtlich schien, dass das Ergebnis
des egoistischen Handelns einer Menge autonomer Individuen in der Summe
weniger sein müsse, als beim gemeinschaftlichen Vorgehen der gleichen Menge an
Menschen. Diesen Charme des vermeintlich offensichtlichen machte immer wieder
einen großen Teil der Attraktivität von Begriffen wie Gemeinschaft, Kollektiv
und Nation aus...
Ich habe hierzu inzwischen verschiedene Diskussionen mit Leuten erlebt,
deren Positionen ich als "liberal" bezeichnen würde. Immer sehr
interessant, da die Schnittmenge mit meinem sonstigen Kontext relativ
hoch ist. Nicht zuletzt Stallman bezeichnet sich ja, etwa im Film "OS
Revolution", als Liberaler. Natürlich ist die Frage, inwieweit das
"wirklich liberale Theorie" war, was da auf den Tisch kam, offen.
Ein zentrales wiederkehrendes Argument war die Gegenüberstellung von
"Gemeinschaft" und "Gesellschaft", für mich dezidiert zuerst in einer
Diskussion mit Uli Niemitz am 17.5., Abstract siehe
http://coforum.de/?WAK-Leipzig, wobei für ihn als Liberalen(?)
Gesellschaft die höhere Form war. Und die verstand er als Summe
autonomer Individuen, die ihre Verhältnisse vertraglich regeln. Bei
Weber in Chemnitz ging das über positive und negative Rechte, also
Gestaltungs- und Abwehrrechte. Diese "Kultur der Rechtsförmigkeit" wurde
aber in all den Debatten als abgeleitetes, sekundäres Merkmal behandelt,
das schlicht eine Bewegungsform des ""egoistischen, aber
vernunftgeleiteten Handelns einer Menge autonomer Individuen" ist, die
sich ja nicht dauernd bis aufs Messer streiten können, wenn Interessen
kollodieren, und das rein instrumentellen Charakter hat. Bei Niemitz
besonders stark, wenn er Übernahme von Verantwortung (meine
Terminologie) in Schuldrechtsverträgen kodiert. Mit den Folgen eines "in
den Sand gesetzten" Versprechens ist das Individuum schlicht allein
gelassen und muss die gesellschaftlichen Auswirkungen weitgehend auf
seinen Schultern tragen. Das in etwa ist auch Webers "Preis der
Informationsfreiheit".
Ich gebe zu bedenken, dass "ein großer Teil der Attraktivität von
Begriffen wie Gemeinschaft, Kollektiv" gerade auch hier seine Wurzeln
hat, und es für mich schion eine Frage ist, ob das alles rein
psychologische Barrieren sind, oder hier auch Substanz vorhanden ist.
Insofern widerspricht es großen Teilen liberaler Theoriegeschichte zu
sagen, durch die Überspitzung der Bedeutung der autonomen
Handlungsfähigkeit von Individuen werde die Sicht auf die Frage
verstellt, ob ein gemeinschaftliches Vorgehen von Individuen mehr
sein könne, als das kohärente Vorgehen derselben Menge autonomer
Individuen. Das Gegenteil ist richtig: Außerhalb der Philosophie (und
z.T. der Rechtswissenschaft) ging es liberalen Theoretikern um fast
nichts anderes, als um eben diese Frage!
Das ist natürlich erst mal nicht mehr als die Gegenthese zu meiner
These, was schlicht der Schärfung des Konfliktfeldes bedarf. Allerdings
finde ich die beiden Ausnahmefelder schon interessant, denn in beiden
geht es (auch) um globale Effekte.
Allerdings reden wir in solchen Fällen dann nicht mehr von
„liberalen“ geschweige denn von „Theoretikern“, sondern von
pseudoliberalen scholastischen Dogmatikern. Genau das habe ich ja
auch in meinem Vortrag auf der letzten Oekonux-Konferenz beklagt. ...
Falsch finde ich es allerdings, aus dem Umstand, dass moderne Konservative und
andere, die das Wort „liberal“ für sich vereinnahmen, keine Worte für die von
Castells in dem Zitat beschriebenen Effekte finden, Schlüsse hinsichtlich der
grundsätzlichen Erklärungsfähigkeit des Liberalismus als Theorie zu ziehen...
Die wäre am besten praktisch unter Beweis zu stellen. Der für mich
spannendste Teil der Debatte mit Karsten Weber war das Thema
"Arzt-Patient" im Kontext von Informationsfreiheit. Hat der Patient ein
Recht, seine Krebsdiagnose zu erfahren, oder lässt sich die (faktisch
vorhandene) Wahlfreiheit des Arztes, dies nach seinem eigenen
"Gutdünken" (=Gewissen) zu entscheiden, auch theoretisch rechtfertigen?
Von einem "naiven" Standpunkt ist klar, dass sich diese Frage nur im
Kontext eines "Vertrauensverhältnisses" vernünftig behandeln lässt, das
eine intersubjektive Privatsphäre hat, die sowohl verschieden von den
individuellen Privatsphären als auch dem Public Domain ist. Weber
bestand auf ersterem, weil er genau eine solche Begrifflichkeit nicht
zulassen konnte.
Viele Grüße, HGG
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