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Re: [ox] Weltliche Religion (was: Wer ist dieses "wir" ?)



Moin, Hans-Gert,

am Montag, 8. Mai 2006 17:33 schrieb Hans-Gert Gräbe:
Das verstehe ich nicht. Weder beim frühen Marx (etwa der "Deutschen
Ideologie" und den Versuchen, den Hegel "vom Kopf auf die Füße" zu
stellen) noch beim späten Marx (dem der genauen ökonomischen Analyse)
sehe ich Tendenzen zu einem "Gut-Böse-Schema".  Auch scheint er mir in
beiden Phasen die "kapitalistische Totalität" im Fokus gehabt zu haben,
wobei ich beim jungen M. die Betonung auf _Totalität_ sehe, beim alten
M. auf _kapitalistische_. Deshalb ist vielleicht auch beim jungen Marx
mehr an Elementen zu finden, die über die kap. Gesellschaft im engeren
Sinne hinausweisen, beim späten dagegen deren Analyse genauer.

Dabei ist diese Tendenz doch offensichtlich. Das Proletariat - dazu 
ausgeguckt, die klassenlose Gesellschaft zu schaffen - wird aufge-
wertet, sind daher die Guten. Die Bourgeoisie wird dagegen abge-
wertet, da ihre Macht und ihre gesellschaftliche Formation über-
wunden werden muß. Ergebnis: ein Gut-Böse-Schema.

Ein weiteres Gut-Böse-Schema kann aus dem Bruch zwischen
jenen, die "das Licht gesehen" haben und jenen, die noch für den
"wissenschaftlichen" Sozialismus gewonnen werden müssen, ge-
folgert werden. Jene, die "das Licht gesehen", d.h., die Übertragung
des hegelschen Weltgeistes auf die materiellen "Naturgesetze" der
Geschichte mitvollzogen haben und ihre Freiheit als "Einsicht in
die Notwendigkeit" interpretieren, im Einklang mit diesen Gesetzen
zu handeln, sind die Guten, alle anderen dagegen sind die Bösen,
besonders dann, wenn sie sich der marxistischen Erweckung
verweigern und nicht zu den gleichen Schlüssen gelangen wie
die Anhänger von Karl Marx. Der Marxismus verwirklicht in der
Praxis dadurch von Anfang an Züge einer weltlichen Religion.

Der frühe philosophische Marx entwickelte eine Theorie, für die
der späte bzw. spätere Marx Tatsachen der Realität zusammen-
zutragen suchte, um diese Theorie wissenschaftlich zu fundieren.
Der Marxismus nahm damit einen der Theoriebildung der 
(Natur-)Wissenschaft m. E. entgegengesetzten Verlauf; seine
Analyse des Kapitalismus mag deshalb vielleicht als wissen-
schaftlich stehen bleiben, keinesfalls jedoch alle anderen nicht
wissenschaftlichen, sondern rein weltanschaulichen Elemente.

Der ware Kern des Vorwurfes einer sogenannten "Pred-Ideologie"
gegen den Marxismus besteht in der Rechtfertigung des kapitalis-
tischen Zeitalters als oekonomisch notwendiger Vorstufe des Er-
reichens einer klassenlosen Gesellschaft durch Karl Marx und
Friedrich Engels.  Bekanntlich ist ja das Umschlagen der inneren
Widersprüche des Kapitalismus in den Sozialismus/Kommunismus
an die "höchst mögliche Produktivkraftentwicklung" - d.h., an
die größtmögliche Ausplünderung der Massen - gebunden. Um 
dahin zu gelangen, sind Kapital und Kapitalisten laut Marx not-
wendig und haben - wie das Proletariat - ebenfalls eine historische 
Mission. Kein Wunder also, daß "Das Kapital" (Bd. 1) unter
Kapitalisten seinerzeit ein Bestseller war...

Gruss,
Jacob
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Kontakt: projekt oekonux.de



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