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Re: [ox] Weltliche Religion



Hallo Stefan,

Am Sonntag, 21. Mai 2006 19:54 schrieb Stefan Seefeld:
Auf der anderen Seite f"uhrst Du hier Begriffe wie 'Individuum',
'Autonomie', und 'eigene Lebenswelt', die auch nur Werte der modernen
kapitalistischen Gesellschaft reflektieren. Als ob das Individuum mitsamt
seiner Autonomie ein Primat "uber die Gesellschaft hat, und letztere nur im
Sinne des 'Gesellschaftsvertrags' in Erscheinung tritt, der ein geregeltes
Miteinander erm"oglicht.
Ist der Gedanke, dass wir 'Individuen' erst aus der Gesellschaft heraus
entstehen, und ohne sie nicht denkbar w"aren, denn so abwegig ? Die
'Autonomie' ist eine Illusion.

Autonomie = Existenz in Übereinstimmung mit allen Gefühlen, Bedürf-
                        nissen und Wünschen (auch den gesellschaftlich nicht
                        erlaubten bzw. nicht zugelassenen).
(Achtung! Dies ist eine andere Definition von Autonomie als sonst
üblich. Diese Definition steht nicht im Gegensatz zur Gesellschaft
und behauptet keine Unabhängigkeit von der Gesellschaft!)

Individuum = die einzelne Existenz

eigene Lebenswelt = das von anderen Individuen getrennte emotio-
                           nale und gedankliche Erleben jedes Einzelnen, wel-
                          ches durch Sprache vermittelt, aber von keinem
                          anderen Individuum authentisch miterlebt werden
                          kann

Ich habe nicht in Abrede gestellt, daß die Persönlichkeit gesellschaft-
lich geformt wird oder durch die Gesellschaft bedingt ist. Nur ist 
diese Persönlichkeitsstruktur durch (pädagogische) Herrschaft
verkürzt auf all jene Gefühle, Bedürfnisse und Wünsche, die mit
dem Machtmodell sozialer Beziehungen vereinbar sind, von einer
fremden Sicht eigener Bedürftigkeit gestattet sind, mit der uns
zu identifizieren wir alle gelernt haben. Du nennst diese Persönlich-
keitsstruktur scheinbar "Individuum" und setzt sie mit der einzelnen 
Existenz gleich. 

Ferner - daß etwas nicht bewußt ist oder bewußt wahrgenommen
wird, bedeutet nicht, daß es die von mir vorgetragene Spaltung 
gar nicht gibt. Sonst wäre die Erde eine Scheibe und wir hätten
jeden Tag eine unter dem Horizont neu entstehende und am Abend
untergehende Sonne - alles andere kann nur Illusion sein, weil wir
uns dessen weder bewußt sind noch es zu unserer bewußt erleb-
baren Alltagswirklichkeit gehört.

Natürlich hat jedes Individuum ein Primat über die Gesellschaft.
Deine Widerstände dagegen zeigen, daß Du Marx gar nicht ver-
standen hast. Denn in der Erkenntnis dieses Primat liegt die 
Veränderbarkeit der äußeren gesellschaftlichen Ordnung - da
will Marx als Gegner der Entfremdung hin. Hätte ausschließlich
die Gesellschaft ein Primat über die Individuen, wäre die Klassen-
gesellschaft unüberwindbar und jede Hoffnung auf Auflösung
des Klassengegensatzes eine - wenn auch schöne - Illusion, da
alle Individuen dann durch ihre gegensätzlichen Interessen als
Ausfluß ihrer gesellschaftlichen Rollen festgeschrieben wären. 
Dann bräuchten wir tatsächlich eine Zuspitzung der Verhält-
nisse, um die Illusion einer klassenlosen Gesellschaft noch zu
retten.

Die gespaltene, am Machtmodell sozialer Beziehungen (die oft
nichts anderes als versteckte Gewaltverhältnisse sind) Persön-
lichkeit entsteht erst aus der autoritären Gesellschaft heraus.
Sie wäre ohne eine autoritäre Gesellschaft nicht denkbar. Dem
habe ich nicht widersprochen und da sind wir einer Meinung.

Als neue Erkenntnis führt die revolutionäre Psychoanalyse die
Erkenntnis ein, daß der Mensch am Anfang seiner Existenz da-
zu gezwungen wird, sich nicht an seinen Bedürfnissen und Ge-
fühlen, sondern an einer äußeren Ordnung zu orientieren und
sich mit dieser zu identifizieren, durch die er sich selbst be-
trachten lernt. Durch diese Sichtweise erscheint uns jede un-
abhängige Existenz außerhalb dieser Ordnung als Illusion -
einerseits suchen wir nach einer Veränderung der Gesell-
schaft, verneinen diese aber sofort, wenn wir nur im Ansatz
unser angstbesetztes Primat über die Regeln der Gesellschaft
entdecken.

Andererseits gibt es aber auch einen Weg hinaus, weil
man die verschüttete Möglichkeit einer vollständigen Per-
sönlichkeitsentwicklung wieder freilegen und an ihr jen-
seits der Machtspiele anknüpfen kann. Leugnen wir so wie
Du weiter diese Möglichkeit, führt jede gesellschaftliche
Veränderung nur zu einer veränderten Klassenlage oder
auch zum Entstehen neuer Klassen und Klassengegensätze, 
aber niemals zu einer klassenlosen Gesellschaft.

Das Indianer sich "weniger als Individuen begreifen", habe ich 
niemals feststellen können - weder in meinen Zusammenkünften 
noch in meiner Zusammenarbeit mit ihnen. Sie haben es 
wahrscheinlich nur sehr viel weniger nötig, ihre individuelle 
Freiheit mit Ungehorsam zu verwechseln, sich frei und indivi-
dualistisch zu fühlen,  indem man gegen die eigenen verinnerlich-
ten fixen Ideen des Über-Ich rebelliert. Ein indianischer
Freund von mir bezeichnete die von Dir notierte Sichtweise als 
"typisch weißen eurozentristischen Rassismus" den indianischen
Nationen gegenüber. Insgeheim wird vorausgesetzt, als sei-
en Indianer hinsichtlich ihrer Individualität weniger ent-
wickelt als die Weißen in ihrer "modernen" Gesellschaft.

Gruss,
Jacob 

 
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Kontakt: projekt oekonux.de



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