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Re: [ox-de] Re: "Kapitalismus als pubertäre Form"



Hallo Christian,

so, nun auch noch mal der Versuch, zum Ende des Tages was Substanzielles
auf ox-de beizutragen. Damit niemand benachteiligt wird, geht's nach dem
FIFO-Prinzip. Drei weitere mails (u.a. die von Alfred Morhammer und
Stefan Meretz) liegen noch im Stack und warten weiter auf das Abarbeiten.

Christian wrote:
Wobei ich da wohl ein deutlich anderes Verständnis habe als du.
Dass nämlich gesellschaftliche Verhältnisse nur in sehr 
bescheidenem Umfang "konstruiert" sind und sich (normalerweise) als
 Attraktor eines dynamischen Prozesses "von selbst" einstellen.

Damit übersiehst oder leugnest du, dass gesellschaftliche Veränderungen ja
nicht vom Himmel fallen, sondern immer von Menschen gestaltet werden, die
sich argumentativen oder ideologischen Einflüssen nie ganz entziehen können
(oder wollen). 

Aber auch diese "Einflüsterungen" sind doch Teil des "Spiels". Es sind
eine Menge Intentionen unterwegs, ein komplexes und dynamisches
Interessengefüge einer Vielzahl von Akteuren, wo nie klar ist, was ein
"Einfluss" wirklich wert ist. Das ist ja das Interessante an der ganzen
Sache: dass die Leute nie genau das machen, was sie sollen. Oft sogar
ohne "genau".

Dabei sind aber z.B. bei den neueren Entwicklungen wie dem Übergang 
vom Fordismus zum Postfordismus bzw. Neoliberalismus solche Einflüsse
unübersehbar (etwa in Form der "Chicago Boys" oder in Deutschland 
z.B. der Bertelsmann Stiftung).

Auch da müsste man genau hinschauen, inwieweit diese Leute
Trend<nb>setter</b> und inwieweit "nur" Trend<b>aufspürer</b> sind.
Machtspielchen als Strippenziehen setzt ja das Vorhandensein der
Strippen, an denen gezogen, wird voraus. Ich will dich damit nicht
entkräften, sondern nur sagen, dass hier eine *analytische* Leistung
auch von uns erforderlich ist statt zu *glauben*, was die erzählen.

Dass solcher Druck tief in die Privatsphäre eingreift und den
Entzug der Existenzgrundlagen androht oder exekutiert - also
"barbarisch" ist - ist m.E. kein Charakteristikum des aufstebenden
Kapitalismus, sondern zu der Zeit eher allgegenwärtig (Belege:
Umgang mit Sklaven, etwa im Film "Roots" dargestellt, Recht der
"ersten Nacht" usw.)

Mag sein -- aber dann wäre der Kapitalismus eben ein Relikt aus einer
 barbarischen Zeit, die wir ansonsten glücklicherweise bereits
überwunden haben.

Nein, die heutige Zeit ist aufgeladen mit *beidem*, den Relikten der
Barbarei und dem bereits Kommendem. Denn sie ist auf der anderen Seite
gelegentlich auch eine sehr zivilisierte Gesellschaft mit vielfältigen
Möglichkeiten sich zur Wehr zu setzen ohne anderen gleich den Schädel
einschlagen zu müssen. Das ist der Kern meiner These "Kapitalismus als
pubertäre Form" - Übergang (in einer 2000-jährigen historischen Spanne)
von den "rohen Umgangsformen der Kindheit (der Menschheit)" zu den
"zivilisierten Umgangsformen der Erwachsenen". Eben die Fortsetzung der
"Wege und Irrwege der Menschenartigen", wie sie Klix/Lanius beschreiben

<zitat>
Zusammen mit dem Physiker Karl Lanius schildert er in dem Buch "Wege und
Irrwege der Menschenartigen" (1999) das Zusammenwirken physikalischer,
biologischer, sozialer und kognitiver Faktoren auf dem Wege zum heutigen
Menschen. Die Autoren machen deutlich, dass der Mensch kein Endprodukt
einer zwangsläufigen Evolution ist. Menschliche Großgemeinschaften sind
dynamische Systeme, die kollabieren können, wenn sie sich weit vom
Gleichgewichtszustand entfernen. Aus der Arbeit an diesem Buch entstand
das gemeinsame Projekt einer neuen, bisher nicht erschienenen
Untersuchung, in deren Mittelpunkt der Wandel von Weltbildern in der
Menschheitsgeschichte steht.
</zitat>
Quelle: http://www2.hu-berlin.de/leibniz-sozietaet/nekrologe/klix.htm

In der heutigen Zeit ist beides präsent, das Alte vor allem in den
Relikten "autoritativer Kommandostrukturen", welche unter dem Kommando
der Marktwirtschaft "auf der letzten der möglichen Stufen reproduziert
[wird], dem Verhältnis zwischen dem 'freien' Unternehmer und den von ihm
ausgebeuteten Arbeitskräften". Und das Neue wohl in den
Selbstentfaltungstendenzen; wäre genauer zu bestimmen. Aber da
unterscheidet sich mein Ansatz wohl deutlich von Stefan Meretz: Bei mir
sind diese neuen Ansätze heute nicht nur in Keimen da, sondern sie
entwickeln eine deutlich spürbare eigene Dynamik.

Ist es nicht auch umgekehrt, dass sich die Bedürfnisbefriedigung im
 Kapitalismus durch die Wertverwertung prozessiert?

Nein. Die Bedürfnisbefriedigung ist Mittel, die Wertverwertung Zweck. 

Hmm, gehst du zum Bäcker, weil du ein Brot fürs Abendessen brauchst oder
um Geld auszugeben? Und wenn es nebenan ganz billige Fähnchen für's Auto
gibt, dann vergisst du das Brot-kaufen und kaufst Fähnchen, weil das
unter Wertverwertungsgesichtspunkten mehr bringt?

Ich halte deine These für eine arg reduktionistische Betrachtung der
Welt. Die gleichwohl hier auf der Liste weit verbreitet ist.

Welche Versuche gab's denn außer dem Realsozialismus noch, die an 
sich selbst gescheitert sind und nicht (wie z.B. Räterepublik in 
Spanien 1936) von außen zerschlagen wurden? Und der Realsozialismus
ist ein ganz schlechtes Beispiel. Denn er hat ja an den Prinzipien
der Warenproduktion und des Warenaustausches (Primat des Tauschwerts
über den Gebrauchswert) weiter festgehalten und war eher der Versuch,
...

Ja, warum gab's denn keine und warum sind die anderen, obwohl mit
deutlich anderem Anspruch angetreten, wieder "in der ganzen alten Sch.."
 gelandet? Weil vielleicht der Ausgestaltungsspielraum für
Gesellschaftsformen, die einem gewissen Stand der Produktivkräfte
entsprechen, gar nicht so groß ist? Weil es eine Mär ist, dass die
"Köchin den Staat regiert" - besonders die Art von Proleten, die etwa
Sostschenko oder Bulgakow im Russland der 20er Jahre beschrieben haben?

Redest du jetzt von einem neuen Reißbrettentwurf von Gesellschaft, wenn
du über "nicht-Tauschwert-basieren Wirtschaft" redest? Der Workshop in
Hütten war voll von solchen Visionen und Utopien, aber sind das nicht
Träumereien und Phantastereien? Was haben sie mit der Realität zu tun?

Wenn die Keimformhypothese ernst gemeint ist, dann muss man doch *im
heute* nach der Dynamik der Keime suchen. Und *im heute* nach dem Grund
für den Dynamikwechsel suchen, fragen, warum es *heute* Gründe gibt, die
Dominanz der Gelddymanik durch eine andere Dominanz abzulösen. Nach der
Keimformhypothese baut sich die neue Dynamik ja nicht erst nach dem
Dominanzwechsel auf, sondern drückt schon die ganze Zeit im Untergrund
und bricht dann "nur" durch.

Klar, dass z.B. Subsistenz keine überzeugende Alternative wäre und es keinen
guten Grund gibt, auf das heute erreichte technische Niveau und die (damit
einhergehende) hochgradige Arbeitsteilung zu verzichten, sehe ich auch so

Und *dort*, an der vordersten Front der Produktivkraftentwicklung,  muss
doch offensichtlich auch der Schlüssel zum Verständnis der heute real
ablaufenden Umbrüche liegen, denn da müsste es ja "am meisten" drücken.
Übrigens Marxens Ansatz pur.

Sorry, ist kein wirkliches Argument gegen deinen Einwand, aber du
verstehst vielleicht selbst, dass du hier ein Totschlag-Argument gegen
JEDEN Gedanken in meiner Richtung bringst. Weil du damit jedes Argument
meinerseits abschneiden kannst.

Eigentlich zeigt es nur, wie schief bzw. nichtssagend dein Bild ist.
Wenn du "pubertäre Form" auf diese Weise verwendest, ...

Ich will das Bild auch nicht überstrapazieren - ich habe es oben
präzisiert, auch was die Zeitschiene und das "Subjekt" betrifft, die ich
mit "Pubertät" meine. Wenn ich sage "Kapitalismus als pubertäre Form",
dann meine ich, dass die *ganze* kapitalistische Epoche eine solche
Übergangsepoche ist, des *Nebeneinanderstehens* von Barbarei und
Zivilisation. Und es auch in anderer Richtung so ähnlich wie bei
pubertierenden Jugendlichen ist - eher kindliches Urteilsvermögen,
gepaart mit der physischen Kraft der Erwachsenen. Den Machbarkeitswahn
des 20. Jahrhunderts kann man wohl nicht anders verstehen - die
Menschheit hat sich "Spielzeuge" gebaut, für die sie noch nicht "reif"
genug war.

*Bedürfnisbefriedigung*, davon habe ich an keiner Stelle geschrieben,
sondern nur "für die Bedürfnisse anderer interessieren".

Damit unterstellst du allerdings, dass dafür erst der Kapitalismus notwendig
war und sich in früheren Zeiten jede/r nur für sich selbst interessiert
hätte. Hast du irgendwelche Belege für diese kühne These?

Doch, ich glaube schon. Alle früheren Gesellschaften basierten im
Wesentlichen auf Subsistenzwirtschaften und Elemente von Handel machten
nur einen ganz kleinen Teil aus. Auch öffentliche Arbeiten wurden
weitgehend durch Frondienste und Ähnliches erbracht.  Die hochgradige
Vernetzung wie sie heute zu beobachten ist, kam erst mit dem Kapitalismus.

ein Graus ist, da sie dein Ideal einer spätkapitalistischen
"Freien Gesellschaft" als "bester aller Welten" in Frage
stellt...

Der letzte Teil des Satzes ist eine Unterstellung.

Das bezweifle ich, denn meine entsprechende Argumentation hast du ja
weitgehend kommentarlos gelöscht 

Weil ich mit der Kombination "Ideal", spätkapitalistische "Freie
Gesellschaft" und "bester aller Welten" nichts anfangen kann. FG ist für
mich, wie hier allgemein gebraucht, ein utopischer Begriff, der einen
gewissen Endzustand markiert - in meinem Fall also das "Erwachsensein",
was dann kein "Kapitalismus", auch kein "Spätkapitalismus" ist.  Dass
die einzige auch die "beste" aller Welten ist, ist eine Tautologie.

Aber werd doch mal konkreter: worin und auf welche Weise
unterscheidet sich denn deine Vision einer Gesellschaft, in der "auch
der 'dressierte Gorilla am Fließband' zu der Reflexionsleistung
gezwungen wird, zu der heute nur die Unternehmer gezwungen werden",
von Postfordismus?

Ich stelle nur fest, dass es den "dressierten Gorilla am Fließband"
immer weniger gibt, (auch) dort immer mehr Mitdenken und Eigeninitiative
verlangt wird, Menschen sich mit diesen Herausforderungen schwer tun -
aus Kommandoverhältnissen herauszutreten. Manche mehr, manche weniger.
Auch und gerade im Bereich der Arbeitslosen - wo ich durch persönliche
Umstände einen ganz guten Einblick habe. Das ist neu für eine Etappe der
Entwicklung der Gesellschaft nach dem Fordismus. Postfordismus bringt
also die nächsten "Eiterbeulen" mit sich - etwa: was fange ich mit mir
an, wenn niemand mehr was mit mir anfangen kann.

Und dann spreche ich (begründet - Verweis auf's mawi-paper) vom
Post-Computerzeitalter und nicht vom Postfordismus.

So viel mal für heute,

Viele Grüße, HGG

-- 

  Prof. Dr. Hans-Gert Graebe, Inst. Informatik, Univ. Leipzig
  Augustusplatz, D-04109 Leipzig, Raum 5-53	
  tel. : +49 341 97 32248
  email: graebe informatik.uni-leipzig.de
  Home Page: http://www.informatik.uni-leipzig.de/~graebe

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Organisation: http://www.oekonux.de/projekt/
Kontakt: projekt oekonux.de



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