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Re: [ox-de] Minderheit und Mehrheitshegemonie (was: Spehr und die Kueche)



Am Samstag, 5. August 2006 14:38 schrieb Rudolf Sponsel:
Tja - das Thema Indianer ist Dir offensichtlich nur vom Hörensagen
geläufig, nicht aus Deiner Praxis. Bei mir ist es Praxis, da ich in
verschiedenen Projekten direkt via Internet mit Indianern zusammen-
arbeite und hier in meinem Haus auch schon Treffen veranstaltet
habe.
 

Das lassen Deine Beiträge aber nicht erkennen.

Es ist richtig, daß durch den Marsch der Tränen von 10 000 Cherokee
4 000 umgekommen sind. Es ist jedoch gleichzeitig eine Fortsetzung
dieses Genozid mit anderen Mitteln, den überlebenden 6 000 Cherokee
und ihren Nachkommen jegliche eigene, von der weißen Mehrheitskultur
unterscheidbare Kultur abzusprechen - selbst wenn vieles unterging
und es sich in vielen Bereichen um Reste der einstigen Kulturen handelt.

Die Auswahl des von Dir geposteten Textes zeigt mir, daß Du die darin
enthaltene rassistische Tendenz, frühere Indianer zu "primitiven" Jägern
und Sammlern und heutige Indianer zu kulturlosen Mündeln der 
amerikanischen Behörden zu erklären, gar nicht erkennen kannst. Wäre
Dir diese Tendenz aufgefallen, hättest Du nicht diesen, sondern einen
anderen Text auf die Liste gepostet. 

Von meiner indianischen Freundin Francis - Anthropologin und Dozentin
an einer niederländischen Uni - weiß ich, daß sich auch viele Texte im
wissenschaftlichen Bereich durch diese Tendenzen auszeichnen, den
Fortbestand indianischer Kulturen bis in die heutige Zeit zu unterschla-
gen. Dies hat viel mit dem Mythos der "Naturvölker" zu tun, gegenüber 
der die weiße Mehrheitskultur durch ihre technologischen Entwicklung 
"zivilisierter" zu sein behauptet - d.h., mit dem klassischen kolonialen
Anspruch, weiße Europäer brächten den "Wilden" die Zivilisation.

Natürlich sind Minderheitskulturen - und die 2 Millionen Nachfahren
indianischer Abstammung in den USA sind gegenüber den Nachfahren
der europäischen Siedler heute eine Minderheit - immer einem starken
Druck der Mehrheitskultur ausgesetzt, ihre Besonderheit zugunsten der
Mehrheit aufzugeben - in Europa oder Deutschland nicht anders als
in Amerika. Ich selbst entstamme einer solchen Minderheitskultur in
Deutschland, die an ihrer Zugehörigkeit zur dänischen Kultur festhält,
obgleich die Meisten von uns auf der falschen Seite der heutigen
dänisch-deutschen Grenze geboren sind und mehrheitlich deutsch
sprechen. Dauerthema der dänischsprachigen Tageszeitung 'Flensborg
Avis' ist es, ob Menschen, die dem Druck der deutschen Mehrheit 
erliegen und fast nur noch deutsch sprechen, überhaupt noch der
dänischen Minderheit zuzurechnen sind, selbst dann, wenn sie Mitglied
dänischer Vereine sind und ihre Kinder eine der 22 dänischen Schulen
in Deutschland besuchen. Obgleich rund 35 000 Mitglied in einem
der dänischen Vereine sind, hat 'Flensborg Avis' nur rund 6000 Leser.

Absolventen der dänischen Schulen in Deutschland fallen in DK
dadurch auf, daß sie Dänisch mit deutschem Akzent sprechen und
die sprachlogischen Eigentümlichkeiten aller Deutschen teilen:
so gehen sprachlogisch Blumen für Angehörige der dänischen
Minderheit wie in der deutschen Mehrheitskultur ein, hingegen gehen
Blumen für Dänen des dänischen Reiches sprachlogisch aus, wenn 
sie eingehen. Daran kann der Druck abgelesen werden, dem im
allgemeinen Minderheitskulturen durch die Mehrheit ausgesetzt sind,
selbst wenn sie in einem Siedlungsraum leben, der über jahrtausende
dänisch geprägt war - was an der recht häufigen Endung '-by' für
Dorf in den Ortsnamen Schleswig-Holsteins bis heute bewahrt wurde.

Wenn Dir geläufig ist, daß es Dinge gibt, die man aus der eigenen
Praxis kennen muß, warum nervst Du uns dann fortgesetzt mit
Erkenntnissen, die Du offensichtlich nur vom Hörensagen kennst?
  

Dazu gehört die Beurteilung der Indianerfrage (USA) aber sicher nicht.

Oh doch! Aus dem Druck einer hegemonialen Mehrheitskultur kann nicht
zwangsläufig auf einen völligen Verlust einer eigenen kulturellen Identität
geschlossen werden, die sich von der Mehrheit unterscheidet. Schauen
wir dazu doch einmal auf Irland und die irische Geschichte: vor vielen
Jahrhunderten war nicht irisches Englisch, sondern Gälisch die Sprache
der Mehrheit in Irland, eine Sprache, die heute weniger als 2 % aller Iren
sprechen.

Der Gebrauch des Englischen in Irland ist Produkt jahrhundertelanger
Unterdrückung Irlands durch eine englische Oberklasse und der Hegemonie
des Englischen in allen kulturellen Bereichen Englands und Irlands. Haben
die Iren - die ja auch durch die Kartoffelpest Opfer eines Genozid wurden -
dadurch ihre gegenüber England besondere, eigene Kultur und Identität
völlig verloren? Nein, es gab eine IRA, einen irischen Nationalismus und
Bestrebungen, ein freies Irland irischer nationaler Kultur zu verwirklichen.
Hätte Christoph oder Du wirklich recht, dürfte es kein von England unab- 
hängiges Irland geben. Nach Jahrhunderten englischer Herrschaft über
Irland müßten sich Eurer These nach jeder Ire als Engländer verstehen.

Jacob
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