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[ox-de] keimform.de: Selbstorganisierte Fülle (4): Bausteine für materielle Peer-Produktion



URL: http://www.keimform.de/2010/selbstorganisierte-fuelle-4/

Dezentrale commonsbasierte Produktion
-------------------------------------

Im dritten Teil <http://www.keimform.de/2010/selbstorganisierte-fuelle-3/>
ging es unter anderem darum, wie die Freiheit zu teilen bei materiellen
Gütern umgesetzt werden kann. Dabei hatte ich zum Thema "Vervielfältigen"
gesagt: "Wenn man die gesamten Baupläne (Freies Design) sowie die
benötigten Ressourcen und Produktionsmittel hat, sind auch materielle
Produkte kopierbar."

Wir haben also drei Voraussetzungen: Baupläne, Ressourcen und
Produktionsmittel. Bei der heutigen Peer-Produktion sind die Ressourcen und
Produktionsmittel im Allgemeinen *Gemeingüter* oder *verteilter Besitz.*

Bei digitaler Peer-Produktion sind Wissen und Informationen die wichtigste
Ressource. Dieses Wissen ist ein Gemeingut, das von allen genutzt und
weiterentwickelt werden kann. Exemplarisch für eine bei Peer-Produzierenden
weitverbreitete Ansicht formuliert
<http://wikimediafoundation.org/wiki/Home> die Wikimedia Foundation
<http://de.wikipedia.org/wiki/Wikimedia>, die hinter der Wikipedia steht,
den Anspruch, dass alles öffentlich relevante Wissen Gemeingut sein sollte:

  Stellen Sie sich eine Welt vor, in der jeder Mensch freien Zugang zur
  Gesamtheit allen Wissens hat. Das ist unser Ziel.

Eine Form Freien Wissens ist Freies Design
<http://www.keimform.de/tag/freies-design/>, auch Open-Source-Hardware oder
(etwas ungenau) Freie Hardware
<http://de.wikipedia.org/wiki/Freie_Hardware> genannt.
Freie-Design-Projekte entwerfen materielle Dinge und teilen ihre Baupläne
und Konstruktionsbeschreibungen mit der ganzen Welt. Dieser Bereich der
Peer-Produktion ist noch recht neu, aber in den letzten Jahren sind da
zahlreiche neue Projekte entstanden. Das US-amerikanische Magazin *Make*
veröffentlicht jährlich einen großen Report zum Thema, dessen 2009er
Ausgabe
<http://blog.makezine.com/archive/2009/12/open_source_hardware_2009_-_the_def.html>
schon weit über hundert Projekte enthält -- mehr als doppelt so viele wie
im Vorjahr. Dieses *Freie Produktionswissen* darüber, wie Dinge hergestellt
werden (aber auch darüber, wie man sie benutzt, wartet, repariert und
schließlich fachgerecht recycelt) ist der *erste Baustein* der materiellen
Peer-Produktion.

Die wesentlichen Ressourcen -- bei digitaler Peer-Produktion das Wissen --
werden in der Logik der Peer-Produktion also als Gemeingüter behandelt,
sowohl der Praxis (Projekte teilen ihr Wissen) als auch dem Anspruch (siehe
den Leitspruch der Wikimedia Foundation) nach. Für die materielle
Peer-Produktion, die nicht nur Wissen, sondern auch natürliche Ressourcen
benötigt, bedeutet dies, dass gemäß der Logik der Peer-Produktion die
Naturressourcen ebenfalls als Gemeingüter zu betrachten sind.

Die dieser Logik entsprechende Schlussfolgerung hat schon Karl Marx
<http://de.wikipedia.org/wiki/Karl_Marx> gezogen, als er schrieb:

  Selbst eine ganze Gesellschaft, eine Nation, ja alle gleichzeitigen
  Gesellschaften zusammengenommen, sind nicht Eigentümer der Erde. Sie sind
  nur ihre Besitzer, ihre Nutznießer, und haben sie als boni patres
  familias [gute Familienväter] den nachfolgenden Generationen verbessert
  zu hinterlassen. (Das Kapital, 3. Band, S. 784)

Die natürlichen Ressourcen sind gemäß diesem Anspruch ein Gemeingut --
niemand kann Exklusivrechte auf sie erheben, niemand hat das Recht, sie zu
verwerten oder zu verkaufen. Sie müssen in ihrer Substanz für unsere Kinder
erhalten bleiben, dürfen also genutzt, aber nicht aufgebraucht werden.
Jede/r hat in diesem Rahmen das Recht auf anteilige Nutzung, wobei der
ökologische Fußabdruck
<http://de.wikipedia.org/wiki/Ökologischer_Fußabdruck> (oder verwandte Maße
wie der MIPS
<http://de.wikipedia.org/wiki/Material-Input_pro_Serviceeinheit>) hier
Richtwerte vorgeben können. Bei der heutigen Bevölkerungsgröße könnten die
von einer Person genutzten Güter also natürliche Ressourcen im Umfang von
maximal 1,8 globalen Hektar erfordern. Allerdings wird der für eine
dauerhafte und faire Nutzung mögliche Richtwert in den nächsten Jahrzehnten
sinken, da die Weltbevölkerung noch wächst.

Die Bewahrung und Nutzung der natürlichen Ressourcen als Gemeingüter ist
der *zweite Baustein* der materiellen Peer-Produktion. Die Umsetzung dieses
Punktes ist wahrscheinlich die größte Herausforderung für den Durchbruch
der allgemeinen Peer-Produktion, da er mit der heutigen Logik, in der
praktisch alle Dinge, und daher auch große Teile der Natur, Privateigentum
sind, radikal bricht.

Der *dritte Baustein* sind die Produktionsmittel, zum Beispiel die
Maschinen, mit denen etwas produziert wird. Im Bereich der digitalen
Peer-Produktion gehören die Produktionsmittel meist vielen verschiedenen
Leuten. Ich schreibe beispielsweise Freie Software auf meinem eigenen
Computer. Offiziell ist er mein *Eigentum,* ich dürfte ihn verkaufen oder
auch vermieten, aber das tue ich nicht -- ich verdiene mit dem Computer in
dem Moment kein Geld, sondern ich *nutze* ihn. Das wird als *Besitz*
bezeichnet: mein Besitz ist das, was ich benutze. Die Wohnung, die ich
gemietet habe, ist mein Besitz, weil ich sie benutze, aber sie ist das
Eigentum meines Vermieter.

Im Bereich der digitaler Peer-Produktion fallen Besitz und Eigentum bei den
materiellen Produktionsmitteln meist zusammen, aber worauf es ankommt ist
der Besitz. Ich verwerte meinen Computer nicht als Eigentum, sondern ich
verwende ihn, um einen Beitrag zu leisten -- Freie Software zu schreiben,
Wikipedia-Artikel zu verbessern oder was immer mir sonst sinnvoll vorkommt.
Die Produktionsmittel werden benutzt, nicht verwertet.

Dabei ist dieser Besitz über viele Leute verteilt. Es gibt keine
Einzelperson oder kleine Gruppe von Personen, die alle Rechner
kontrolliert, auf denen Leute zum Beispiel zu Linux beitragen. Daher kann
es nicht passieren, dass jemand sagt: "wir entziehen euch die
Produktionsmittel", und dann läuft nichts mehr. Dadurch dass der Besitz auf
viele Leute verteilt sind, werden Abhängigkeiten verhindert. Niemand kann
die anderen blockieren, indem er ihnen Besitzrechte verweigert.

Im Bereich materieller Peer-Produktion sehen wir heute eine ähnliche
Entwicklung. Da  entstehen dezentrale produktive Infrastrukturen, die von
Leuten organisiert werden, denen es um ihre Bedürfnisbefriedigung geht. Es
geht darum, zu produzieren, was man haben möchte, oder zu tun, was man
gerne tut, nicht ums Geldverdienen. Gleichzeitig sind diese produktiven
Infrastrukturen so verteilt, dass niemand den Zugang zu diesen
Produktionsmitteln kontrollieren kann.

Ein Beispiel dafür sind Mesh-Netzwerke
<http://de.wikipedia.org/wiki/Vermaschtes_Netz>. Das klassische Modell
eines Netzzugangs ist hierarchisch: es gibt einen Provider, der Tausenden
oder Hunderttausenden von Leuten Zugang zum Internet bietet. Wenn dem
Provider dieser Zugang abgeschnitten wird oder er ihn selber abschaltet,
sind alle diese Leute offline. Er kann auch jede/r Einzelnen gezielt den
Zugang nehmen; oder er kann Zugänge zensieren oder überwachen, was die
Nutzer/innen machen. Mesh-Netzwerke sind dagegen dezentrale Netzwerke, wo
alle Knoten (alle beteiligten Computer) gleich sind: jeder kann mit allen
anderen direkt per Funk kommunizieren, sofern sie in seiner Reichweite
sind; wenn nicht, suchen sich die betroffenen Rechner einen möglichst
schnellen Weg über andere Knoten, die in ihrer Nähe sind. Es gibt keine
zentralen Server, die abgeschaltet werden können, und wenn einzelne Rechner
abgeschaltet werden, dann sucht sich das Netzwerk andere Wege, wo dieser
Rechner nicht mehr vorkommt. Alle anderen Rechner sind nach wie vor am Netz
und können miteinander kommunizieren. Es gibt also keine zentrale Instanz,
die das Netzwerk oder Teile davon kontrollieren könnte.

Ein solches dezentrales Mesh-Netzwerk, mit dem Leute sich Internet und
Telefonie organisieren, ist beispielsweise in Südafrika entstanden, die
Scarborough Wireless User Group <http://www.prospect.ac.za/wifi/>. Die
dafür nötige Hardware ist über viele Leute verteilt -- wer beitragen
möchte, kauft sich einen WLAN-Router bzw. eine Antenne oder andere nötige
Hardware. Es gibt niemand, dem das ganze Netz oder ein größerer Teil davon
gehört; niemand, der es abschalten oder zensieren könnte. Die benötigte
Software und ein Teil der nötigen Hardware wird dabei als Freie Software
und Freies Design entwickelt, kann also selber angepasst und ggf.
hergestellt werden (vgl. Baboons, Mesh Networks, and Community).

Was heute in einigen Städten schon für Internet und Telefon funktioniert,
ist auch denkbar für die dezentrale Versorgung mit Energie (auf Basis von
Solar- oder Windenergie) oder Wasser. Dass Leute sich gemeinsam Zugang zu
Wasser verschaffen und das verfügbare Wasser aufteilen, gibt es
beispielsweise in Südamerika schon (vgl. Water Umaraqa).

Dann gibt es Hackerspaces <http://de.wikipedia.org/wiki/Hackerspace>,
selbstorganisierte Räume (ähnlich den in der linken Szene häufigen
selbstverwalteten Räumen), die im Bereich der digitalen Peer-Produktion
entstanden sind. Die Beteiligten organisieren solche Räume, um gemeinsam
produzieren zu können, um beispielsweise Freie Software zu schreiben oder
zur Wikipedia und anderen Freien Projekten beizutragen. Hackerspaces sind
immer auch Lernräume, wo man Workshops veranstalten oder sein Wissen
informell teilen und an andere weitergeben kann; natürlich dienen sie auch
der Entspannung und Erholung.

Hackerspaces werden üblicherweise durch freiwillige Beiträge der
Benutzer/innen finanziert -- laufende Kosten wie die Miete werden über
einen Verein gedeckt, an den jede/r ein paar Euro pro Monat überweist. Man
kann den Hackerspace im Allgemeinen aber auch nutzen, ohne Vereinsmitglied
zu sein. Und da es nicht nur einen Hackerspace gibt, sondern tendenziell
viele, kann normalerweise niemand von solchen Nutzungsmöglichkeiten ganz
ausgeschlossen werden.

Im Bereich der materiellen Produktion gibt es in einigen Dutzend Städten
sogenannte Fab Labs <http://en.wikipedia.org/wiki/Fab_lab> -- seit kurzem
existiert auch eins in Deutschland, nämlich in Aachen
<http://hci.rwth-aachen.de/fablab>, ein weiteres Fab Lab in Hamburg ist in
Gründung. Von der Idee her sind Fab Labs ähnlich wie Hackerspaces
selbstorganisierte Räume -- wobei sie heute noch teuer sind und meist von
Universitäten oder anderen größeren Organisationen gesponsert werden
müssen. In solchen Labs gibt es eine ganze Reihe von Produktionsmaschinen,
die von den Leuten in der Umgebung benutzt werden können.

Der Zugang zu Produktionsmitteln wird dadurch erleichtert, dass die
benötigten Maschinen tendenziell immer kleiner, schlanker, dezentraler
werden. Fab Labs verfügen beispielsweise über CNC-Maschinen
<http://de.wikipedia.org/wiki/CNC-Maschine>, die computergesteuert
Materialblöcke zurecht schneiden oder fräsen können; sowie über 3D-Drucker,
sogenannte Fabber <http://de.wikipedia.org/wiki/Digital_Fabricator>, die
Gegenstände umgekehrt aus vielen Schichten aufbauen, wobei die einzelnen
Schichten quasi "ausgedruckt" werden und daraus Schicht für Schicht ein
dreidimensionaler Gegenstand entsteht. Es gibt andere Ansätze, die andere
gängige Produktionstechniken aufgreifen. Fast alle heutigen
Produktionstechniken werden tendenziell kleiner und eher verfügbar für
begrenzte Gruppen (beispielsweise für Leute, die Hackerspaces betreiben),
ohne dass diese dafür viel Geld ausgeben müssten.

Heute sind die Fab Labs noch teuer, weil sie auf proprietäre Maschinen
setzen, die auf dem Markt eingekauft werden müssen und entsprechend viel
kosten. Es gibt aber schon allerhand Projekte, die gemeinsam CNC-Maschinen,
3D-Drucker und andere Produktionsmittel entwerfen und ihre Ergebnisse als
Freies Design veröffentlichen. Solche Freien Produktionsmittel -- kleine
CNC-Maschinen wie Contraptor <http://www.contraptor.org/> und Valkyrie
<http://letsmakerobots.com/node/9006>, kleine Fabber wie RepRap
<http://reprap.org/wiki/Main_Page> und Fab Home <http://fabathome.org/> --
sind noch nicht konkurrenzfähig mit der kapitalistischen Massenproduktion,
aber sie sind auch nicht mehr so weit davon entfernt. Ich denke dabei
weniger an Fabber, die bislang eher ein Hype sind als eine generelle
Alternative, aber es gibt Maschinen, die sehr leistungsfähig sind und die
durchaus in die Reichweite von kleinen Nutzer/innengruppen kommen, die sie
in selbstorganisierten Räumen -- Hackerspaces oder Makerspaces -- betreiben
können.

Sobald die Maschinen selber das Ergebnis von Peer-Produktion sind und im
Rahmen solcher produktiver Zentren -- bzw. "Dezentren", die dezentral
verteilt sind -- selbst wiederum hergestellt, das heißt vervielfältigt
werden können, wird es extrem spannend. Dann kann man sich nämlich in den
Bereichen, wo das funktioniert, vom Markt abkoppeln. Dann muss man die
Dinge nicht mehr gegen Geld kaufen, sondern kann sie in Peer-Produktion
gemeinsam herstellen. Diese selbstorganisierte Bereitstellung und
Verwendung von Produktionsmitteln ist der *dritte Baustein* der materiellen
Peer-Produktion.

All das würde nie zustande kommen ohne die Leute, die -- freiwillig und per
Selbstauswahl -- Dinge entwerfen und ihr Wissen teilen, natürliche
Ressourcen zugänglich machen und erhalten sowie selbstorganisierte
Produktionsinfrastrukturen einrichten und betreiben. Der *vierte und
wichtigste Baustein* ist daher das, was ich in den ersten
<http://www.keimform.de/2010/selbstorganisierte-fuelle-1/> beiden Teilen
<http://www.keimform.de/2010/selbstorganisierte-fuelle-2/> ausführlich
behandelt habe, nämlich die freiwilligen Beiträge der Beteiligten, die --
jede/r auf die Art und Weise, die ihren oder seinen Bedürfnissen und
Interessen entspricht -- dazu beitragen, dass Peer-Projekte (sei es für
Software oder materielle Produktion) erfolgreich sind.

Fairness beim Aufteilen von Ressourcen und Aufgaben
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Bevor ich zum Schluss komme, will ich noch auf zwei Aspekte kurz eingehen,
die sich beide unter dem Stichwort *Fairness* fassen lassen.

Wir hatten gesagt: Ressourcen können genutzt werden, sofern sie in ihrer
Substanz für die Nachwelt erhalten bleiben und sofern für die anderen
jeweils ähnlich viel da ist wie für eine/n selbst. Was aber, wenn sich
einige über diese Begrenzungen hinwegsetzen und langfristig so viel
verbrauchen, dass sie den durchschnittlich pro Person verfügbaren
ökologischen Fußabdruck
<http://de.wikipedia.org/wiki/Ökologischer_Fußabdruck> sprengen und damit
auf Kosten anderer (denen die zu viel verbrauchten Ressourcen fehlen)
leben? Braucht es nicht eine zentrale Instanz, einen Staat oder ähnliches,
die solches Fehlverhalten verhindert und sanktioniert?

Ich denke nicht, denn wenn man sich anschaut, wie die Beteiligten in
heutigen Peer-Projekten mit Verhaltensweisen umgehen, die sie als
Fehlverhalten empfinden, stellt man fest, dass es durchaus auch ohne
Polizei und andere offizielle Instanzen gehen kann. Peers reagieren auf
Fehlverhalten mit "flaming and shunning", was man auf Deutsch mit
"Schimpfen und Schneiden" wiedergeben könnte. Man beschimpft die
Übeltäter/in zunächst, es kommt zu "Flames", zu lautstark und öffentlich
(z.B. auf Mailinglisten) geäußerter Kritik. Werden diese Warnungen
ignoriert, kann die Betroffene geschnitten werden, d.h. man verweigert die
weitere Zusammenarbeit mit ihr oder ihm. Das kann bis zum kompletten
Boykott, bis zum zeitweiligen oder dauerhaften Ausschluss aus dem Projekt
führen.

Nun sind aber in jeder Gesellschaft die Menschen auf andere angewiesen --
man braucht die anderen, um über die Runden zu kommen. Der Ausschluss aus
einem einzelnen Projekt ist in einer dezentral organisierten Gesellschaft
nicht weiter tragisch, aber wenn der allgemeine grobe Konsens, die
Grundhaltung der Leute, dahin geht, bestimmte Verhaltensweisen nicht zu
akzeptieren und mit Kooperationsverweigerung zu sanktionieren, dann werden
sich solche Verhaltensweisen kaum aufrecht halten lassen.

Ein anderer Bereich, wo es zu Problemen kommen kann, betrifft die
Verteilung von Aufgaben. Normalerweise funktioniert Peer-Produktion per
Selbstauswahl und Stigmergie. Die Leute hinterlassen Hinweise auf die
Dinge, die sie sich wünschen und auf die Aufgaben, die dafür nötig sind;
jede/r sucht sich freiwillig Aufgaben aus, die ihr oder ihm gefallen oder
wichtig sind, und kümmert sich um deren Erledigung. Es wird aber wohl
gelegentlich Aufgaben geben, wo das nicht funktioniert -- wo sich niemand
bereit erklärt, die Aufgabe zu übernehmen. Wie geht man damit um?

Eine erste Frage ist, ob die Aufgabe überhaupt notwendig ist -- wenn die
Aufgabe niemand so wichtig ist, dass sie oder er zu ihrer Erledigung bereit
wäre, dann kann man auf ihre Erledigung vielleicht einfach verzichten?

Aber es ist natürlich denkbar, dass eine Sache den Leuten wichtig ist, sich
aber niemand darum kümmert, weil alle hoffen, dass andere das schon machen
werden. Eine Möglichkeit, mit solchen unbeliebten Aufgaben umzugehen, ist
ihre *Automatisierung.* Automatisierung hat in den letzten 200 Jahren ja
schon enorme Wirkungen entfaltet; immer größere Teile der Produktion werden
ganz oder teilweise automatisiert. Besonders gut geeignet für die
Automatisierung sind dabei Aufgaben, die eintönig und repetitiv und deshalb
wenig beliebt sind. Kreative Aufgaben, die menschliche Intelligenz und
Intuition erfordern, bleiben übrig, sind erfahrungsgemäß aber auch eher
unproblematisch, weil sich eigentlich immer Leute finden, die solche
Aufgaben spannend und reizvoll finden.

Allerdings stellt im Kapitalismus das Gehalt eine Grenze der
Automatisierung dar -- je schlechter bezahlt ein Job ist, desto schwieriger
wird es, ihn zu automatisieren, ohne dass dadurch Mehrkosten entstehen.
Viele undankbare Tätigkeiten wie z.B. das Putzen werden aber besonders
schlecht bezahlt, so dass unter kapitalistischen Umständen eine
Automatisierung solcher Tätigkeiten wenig sinnvoll ist (zumal es oft auch
umgekehrt ist: weil Aufgaben schlecht bezahlt sind, werden sie im
Kapitalismus als undankbar empfunden). Wenn es dagegen bei Peer-Produktion
Aufgaben gibt, von denen einerseits alle oder viele wollen, dass sie
gemacht werden, die aber andererseits niemand machen will, dann ist der
Anreiz, sie ganz oder teilweise zu automatisieren, sehr hoch. Und sich um
die Automatisierung von Tätigkeiten zu kümmern, ist auch etwas, das Leute
spannend finden, so dass sich dafür viel eher Freiwillige finden werden.

In vielen Fällen lassen sich Tätigkeiten auch so *umorganisieren und
umgestalten,* dass sie interessanter, leichter und angenehmer werden. Im
Kapitalismus finden die undankbaren Aufgaben oft unter sehr schlechten
Bedingungen statt, da muss man z.B. um 4 Uhr morgens Büros putzen, aber das
muss ja nicht so sein. Bei Peer-Produktion entscheiden die Leute, die eine
Aufgabe übernehmen, unter welchen Umständen sie das tun und wie sie ihre
Tätigkeit gestalten. Sie können also sagen: "Wir machen das zwar, aber
tagsüber, und wenn das den anderen nicht passt, dann sollen sie's selber
machen."

Wenn das alles nicht greift, wenn es unbeliebte Aufgaben gibt, die den
Leuten wichtig sind, die sich aber weder wegautomatisieren noch so
umorganisieren lassen, dass sich Freiwillige dafür finden, dann können die
Betroffenen Faustregeln zur *fairen Aufteilung* dieser Aufgaben entwickeln.
Also alle, die an solchen Aufgaben Interesse haben, beteiligen sich ein
bisschen, jede/r übernimmt hin und wieder im Wechsel eine der Aufgaben. Auf
diese Weise bleiben die undankbaren Aufgaben nicht an Einzelnen hängen;
niemand hat sehr viel damit zu tun und was alle mal machen müssen, ist
erfahrungsgemäß auch nicht so schlimm, wie wenn man sich als einzelne/r
Dumme/r, die/der den anderen die Drecksarbeit abnimmt, fühlen müsste.

Was sind die Unterschiede?
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Kommen wir zum Schluss: Wie würde sich eine auf verallgemeinerter
Peer-Produktion basierende Gesellschaft vom heutigen Zustand unterscheiden?
Der fundamentalste Unterschied ist sicher der, dass sich das Ziel der
Produktion ändert: es geht nicht mehr darum, Profit zu machen, Geld in mehr
Geld zu verwandeln, sondern um die Bedürfnisse der Menschen.

Um sich ihre Bedürfnisse zu befriedigen, kooperieren die Leute miteinander,
kümmern sich gemeinsam um die Produktion und teilen die erforderlichen
Tätigkeiten untereinander auf, auf der Basis von Stigmergie und
freiwilliger Selbstauswahl. Die gemeinsame Produktion in freiwilligen
Zusammenschlüssen (Projekten) tritt an die Stelle der
privatwirtschaftlichen, durch Kaufen und Verkaufen vermittelten Produktion.
Ich sehe die anderen als meine Peers, mit denen ich zusammenarbeiten will
und muss, nicht als Leute, von denen ich eigentlich nur Geld oder Waren
haben will und mit denen ich sonst nichts weiter zu tun haben möchte, und
schon gar nicht als Konkurrent/innen, die ich (ob ich will oder nicht) im
Konkurrenzkampf um das Geld bzw. die Waren ausstechen muss.

Ressourcen und Produktionsmittel sind Gemeingüter oder verteilter Besitz.
Es gibt niemand, der vom Zugang zu Produktionsmitteln ausgeschlossen ist;
und es gibt keine Gruppe, die die exklusive Kontrolle über Ressourcen und
Produktionsmittel hat (wie die Kapitalist/innen und Vermögensbesitzer
heute) und andere von deren Nutzung ausschließen kann.

Dagegen basiert der Kapitalismus auf dem nominell freiwilligen, faktisch
aber durch die Umstände erzwungenen Verkauf der Arbeitskraft der Leute, die
von Ressourcen und Produktionsmitteln ausgeschlossen sind und auch sonst
nichts zu verkaufen haben ("doppeltfreie Lohnarbeiter" in der Terminologie
von Marx). Die Notwendigkeit zum Verkauf der Arbeitskraft, und zum
Verkaufen überhaupt, entfällt mit der allgemeinen Peer-Produktion, weil die
Produktionsmittel allen zugänglich sind -- weil die Produktion gemeinsam
erfolgt und ihre Ergebnisse gemäß den Bedürfnissen und Wünschen der
Menschen geteilt werden.

Es gibt keine Konkurrent/innen mehr, die man ausstechen müsste, stattdessen
gibt es Leute, die mit eine/r tatsächlich oder potenziell zusammenarbeiten.
Deshalb macht es Sinn, sich mit den anderen zusammenzutun und abzustimmen,
weil man so besser und angenehmer zum Ziel -- zur Erfüllung der eigenen
produktiven und konsumptiven Bedürfnisse -- kommt.

Generell dürfte sehr viel weniger zu tun sein, als das heute der Fall ist,
da man das Rad nicht immer wieder neu erfinden muss, sondern auf dem
aufbauen kann, was andere schon gemacht haben, und da viele im Kapitalismus
notwendige oder sinnvolle Aktivitäten ganz wegfallen (Werbung, Finanz- und
Kapitalverwaltung, "Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen" sowie Maßnahmen zum
Schutz und zur Durchsetzung des kapitalistischen Privateigentums: Polizei,
Militär etc.). Noch wichtiger ist, dass sich der Charakter des Tuns
vollständig verändert: man arbeitet nicht, weil man Geld verdienen muss,
sondern man tut etwas, weil man es gerne tut oder weil man es richtig und
wichtig findet, was da passiert.

Es gibt auch keinen Grund mehr, Innovationen und Wissen geheim zu halten,
was im Kapitalismus ganz wichtig ist, weil sich Firmen dadurch einen
Vorsprung im Konkurrenzkampf bewahren können. Bei Peer-Produktion ist es
sinnvoll, Ideen und Wissen zu teilen, denn man muss ja niemand mehr
auskonkurrieren und durch das Teilen von Wissen kommen alle besser ans
Ziel. Wer Wissen teilt, nutzt den anderen, ohne sich selbst zu schaden, und
fördert zudem die eigene Reputation, den Ruf als jemand, der oder die gute
Ideen hat und teilt.

Wir hatten (im dritten Teil) gesehen, dass der Kapitalismus auf
Wirtschaftswachstum angewiesen ist -- da sich das Kapital verwerten muss,
kommt es ohne Wachstum zwangsläufig zur Krise. Bei Peer-Produktion gibt es
keine solche Notwendigkeit -- wenn die Leute zufrieden sind, kann alles
bleiben, wie es ist. Ob und wie viel Wachstum es gibt ( d.h. bei
Peer-Produktion: ob mehr und bessere Güter produziert werden), hängt also
von den Präferenzen der Menschen ab. Dabei lassen sich (durch
Effizienzsteigerungen) auch Verbesserungen der produzierten Güter (der
Gebrauchswerte) erzielen, ohne dass dafür mehr Ressourcen oder mehr
Produktionsaufwand gebraucht werden. Gleichbleibender oder sogar sinkender
Ressourceneinsatz kann also mit einem Steigen des allgemeinen
Lebensstandards einhergehen.

Der Kapitalismus basiert im Kern auf Antagonismen. Zum einen in der
Beziehung zwischen "Arbeitgebern" und "Arbeitnehmern" -- erstere versuchen
aus letzteren möglichst viel Arbeit für möglichst wenig Geld
herauszupressen (denn in Wirklichkeit sind es natürlich die
"Arbeitnehmer/innen", die die Arbeit geben, und nicht andersherum), während
letztere das umgekehrte Ziel verfolgen. Dazu kommt der allgegenwärtige
Antagonismus zwischen Konkurrent/innen, die einander ausstechen müssen --
jede/r muss sich auf Kosten der anderen durchsetzen, sofern sie bzw. er
nicht scheitern will. Bei Peer-Produktion gibt es kein Durchsetzen auf
Kosten anderer -- im Gegenteil ist es für alle Beteiligten besser, sich mit
anderen zusammen zu tun; wenn man dagegen die anderen verprellt, kommt man
nicht weit. Es gibt auch keinen Gegensatz zwischen "Arbeitgebern" und
"Arbeitnehmern" mehr, da niemand die eigene Arbeitskraft verkaufen muss
oder einseitig von anderen abhängig ist.

Wenn man sich aber anschaut, was die heutige Rolle des Staates ist, stellt
man fest, dass sich da fast alles um Aufrechterhaltung, Vermittlung und
Regulation dieser Antagonismen sowie um das partielle Reparieren ihrer
schädlichen Konsequenzen dreht. Der Staat setzt das Privateigentum an
Ressourcen und Produktionsmitteln durch, die Grundlage des Antagonismus
zwischen Produktionsmittel-Eigentümern ("Arbeitgebern") und "doppeltfreien
Lohnarbeiter/innen" (die "frei von" eigenen Produktionsmitteln sind). Er
muss verhindern, dass eine Seite die andere allzu sehr dominiert
(Arbeitszeit- und Arbeitsschutzbestimmungen, Durchsetzung und Begrenzung
des Streikrechts); ebenso muss er den Antagonismus der Konkurrenz
regulieren (Wettbewerbsrecht, Verhindern von Industriespionage) und den
zwischen Produzent/innen und Konsument/innen (Verbraucherschutz). Er muss
sich um diejenigen kümmern, die im Wettbewerb um Arbeitsplätze auf der
Strecke bleiben (Sozialstaat) und den "sozialen Frieden" sichern, d.h.
sicherstellen, dass das Ganze nicht auseinanderfliegt. Zudem muss er
diejenigen Bereiche gestalten, auf die die kapitalistische Produktionsweise
angewiesen ist, die aber durch private, untereinander konkurrierende Firmen
nicht organisiert werden können, weil sie z.B. nicht profitabel sind.

All diese Notwendigkeiten fallen bei allgemeiner Peer-Produktion weg, weil
sie die profitorientierte Privatproduktion und deren Antagonismen
überwindet und stattdessen die Bedürfnisbefriedigung der Menschen zum
unmittelbaren Zweck der Produktion macht. Damit verliert der Staat seine
Funktion und wird überflüssig.

Literatur
---------

- De Angelis, Massimo (2010). Water Umaraqa
  <http://www.commoner.org.uk/blog/?p=241>.
- Lakhani, Karim R.; Robert G. Wolf (2005). Why Hackers Do What They Do:
  Understanding Motivation and Effort in Free/Open Source Software Projects
  <http://opensource.mit.edu/papers/lakhaniwolf.pdf>. In: Joseph Feller;
  Brian Fitzgerald; Scott A. Hissam; Karim R. Lakhani (Hg.), *Perspectives
  on Free and Open Source Software,* MIT Press, Cambridge, MA.
- Lehmann, Frauke (2004). FLOSS Developers as a Social Formation

<http://firstmonday.org/htbin/cgiwrap/bin/ojs/index.php/fm/article/view/1186/1106>.
  In: *First Monday,* 9(11).
- Make (2009). Open Source Hardware 2009

<http://blog.makezine.com/archive/2009/12/open_source_hardware_2009_-_the_def.html>.
- Marx, Karl (1894). Das Kapital. Dritter Band
  <http://www.mlwerke.de/me/me25/me25_000.htm>. MEW 25, Berlin 1983.
- Raymond, Eric (2000). The Cathedral and the Bazaar
  <http://catb.org/esr/writings/homesteading/cathedral-bazaar/>. Deutsche
  Übersetzung: Die Kathedrale und der Basar
  <http://gnuwin.epfl.ch/articles/de/Kathedrale/>.
- Rowe, David (2010). Baboons, Mesh Networks, and Community
  <http://www.rowetel.com/blog/?p=124>.
- Siefkes, Christian (2008). Beitragen statt tauschen
  <http://peerconomy.org/wiki/Deutsch>. AG SPAK Bücher, Neu-Ulm.
- Stallman, Richard M. (2002). Free Software, Free Society
  <http://shop.fsf.org/product/free-software-free-society/>. GNU Press,
  Boston, MA.

-- 
|------- Dr. Christian Siefkes ------- christian siefkes.net -------
| Homepage: http://www.siefkes.net/ | Blog: http://www.keimform.de/
|    Peer Production Everywhere:       http://peerconomy.org/wiki/
|---------------------------------- OpenPGP Key ID: 0x346452D8 --
What sane person could live in this world and not be crazy?
        -- Ursula K. Le Guin, The Lathe of Heaven



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