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[ox-de] keimform.de: Selbstorganisierte Fülle (3): Vom Immateriellen zum Materiellen



URL: http://www.keimform.de/2010/selbstorganisierte-fuelle-3/

Materielle Fülle und der ökologische Fußabdruck
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Die bisher <http://www.keimform.de/2010/selbstorganisierte-fuelle-2/>
betrachteten Fälle von Peer-Produktion fanden hauptsächlich im Bereich der
Informationsgüter statt. Kann Ähnliches auch für die materielle Welt gelten?
Kann Peer-Produktion auch materielle Fülle schaffen, so wie sie im Internet
immaterielle Fülle herstellt?

Dazu müssen wir uns nochmal mit der Bedeutung des Wortes "Fülle"
beschäftigen. Denn ein Problem, das es so nur im materiellen Bereich gib,
ist die Begrenztheit der Erde. Diese Begrenztheit kann mittels des
ökologischen Fußabdrucks
<http://de.wikipedia.org/wiki/Ökologischer_Fußabdruck> gemessen werden. Der
ökologische Fußabdruck ist die Fläche auf der Erde, die nötig ist, um den
Lebensstil einer Gruppe von Menschen dauerhaft zu ermöglichen. Also die
Fläche, die benötigt wird, um die Ressourcen, die ich verwende,
anzupflanzen bzw. abzubauen; sowie die Fläche, die gebraucht wird, um den
Müll, der während Herstellung, Nutzung und späterer Entsorgung der von mir
genutzten Produkte anfällt, aufzunehmen und zu absorbieren.

Die insgesamt benötigte Fläche kann man messen für eine Einzelperson, für
ein ganzes Volk oder für die ganze Menschheit. Die Maßeinheit für den
ökologischen Fußabdruck ist der "globale Hektar". Ein Hektar ist ein
hundertstel Quadratkilometer, und der "globale Hektar" bezeichnet einen
Hektar Land von durchschnittlicher Produktivität (manches Land ist ja
weniger ergiebig, anderes mehr, das wird beim Berechnen des Fußabdrucks
rausgemittelt).

Hier ergibt sich ein Problem, denn der gesamte ökologische Fußabdruck der
Menschheit beträgt etwa siebzehn Milliarden globale Hektar, die insgesamt
verfügbare *Biokapazität* der Erde umfasst aber nur knapp zwölf Milliarden
globale Hektar. Es gibt also ein Missverhältnis: so wie wir heute leben,
bräuchten wir eigentlich 1,4 Erden, es ist aber nur eine Erde vorhanden.
Was wir machen, kann auf Dauer nicht gut gehen -- wir leben auf Kosten
unserer Kinder, denen diese übernutzten Ressourcen später fehlen werden.

Wir verbrauchen endliche Ressourcen wie Öl und Gas, die in absehbarer
Zukunft zu Ende gehen werden. Eine andere Art der Übernutzung ist die
Erderwärmung <http://de.wikipedia.org/wiki/Globale_Erw%C3%A4rmung>, die
dadurch verursacht wird, dass wir viel mehr CO2 absetzen, als Ozeane und
Wälder absorbieren können. Deshalb erwärmt sich die Erdatmosphäre, was zur
Zunahme von Naturkatastrophen führt und bestimmte Regionen der Erde
tendenziell unbewohnbar zu macht droht.

Wenn man sagt: "wir leben auf Kosten unserer Kinder", ist das "wir" dabei
allerdings sehr ungleich verteilt
<http://en.wikipedia.org/wiki/List_of_countries_by_ecological_footprint>.
Denn in vielen Ländern ist der durchschnittliche Fußabdruck pro Person sehr
gering -- in Bangladesch <http://de.wikipedia.org/wiki/Bangladesch> und
Nepal <http://de.wikipedia.org/wiki/Nepal> beträgt er 0,5 globale Hektar
pro Person, in Indien <http://de.wikipedia.org/wiki/Indien> und den
Philippinen <http://de.wikipedia.org/wiki/Philippinen> 0,8 Hektar, im Irak
<http://de.wikipedia.org/wiki/Irak> und in Uganda
<http://de.wikipedia.org/wiki/Uganda> liegt er bei 1,3 Hektar. Wenn man den
Durchschnitt bildet, der sich aus den zwölf Milliarden Hektar verfügbarer
Biokapazität und den etwa sechseinhalb Milliarden Menschen ergibt, die
heute auf der Erde leben, kommt man auf 1,8 Hektar pro Person. Das ist also
der persönliche Durchschnittswert, der nachhaltig möglich ist.

Der tatsächliche weltweite Durchschnitt ist wie gesagt 40% höher und liegt
bei 2,6 Hektar. In Ländern wie Deutschland sieht es noch schlimmer aus,
hier liegt der Wert bei 4,0 Hektar. Die anderen europäischen Ländern haben
ähnliche Werte. Die USA <http://de.wikipedia.org/wiki/Vereinigte_Staaten>
und einige andere Länder sind extrem -- dort liegt der Wert bei 9,0 Hektar,
also nochmal mehr als doppelt so viel wie in Deutschland.

Wir in den westlichen Ländern, im "globalen Norden" wie man heute auch
sagt, leben also nicht nur auf Kosten unserer Kinder, sondern auch auf
Kosten der Menschen anderswo in der Welt. Denn es ist völlig klar, dass wir
nur deswegen so leben können, weil die Leute anderswo sehr viel weniger
Ressourcen verbrauchen.

Materielle Fülle für alle?
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Wenn man über materielle Fülle für alle nachdenkt, ist klar, dass diese
materielle Fülle -- unabhängig von der Gesellschaftsform, in der sie
produziert wird -- im Rahmen der verfügbaren Biokapazität bleiben muss. Die
Grenze von derzeit 1,8 Hektar pro Person muss eingehalten werden, sonst
geht die Fülle für einige notwendigerweise auf Kosten anderer, die weniger
abkriegen, oder auf Kosten unserer Kinder. Zu Beginn des ersten Teils
<http://www.keimform.de/2010/selbstorganisierte-fuelle-1/> ging es um zwei
Konzepte von Fülle. Das eine war Fülle als "grenzenlose Verschwendung", wo
ich mir z.B. fünf Autos in die Garage stellen könnte; wo ich mir nach
Belieben Dinge aneignen könnte, um sie, wenn mir der Sinn danach steht,
nach kurzer Verwendung wieder wegzuschmeißen. Eins ist völlig klar: Fülle
als grenzenlose Verschwendung ist im materiellen Bereich nicht möglich --
nicht für alle und nicht auf Dauer.

Damit ist aber zur Möglichkeit des anderen Konzepts von Fülle -- Fülle im
Sinne von "genau was ich brauche" -- noch nichts gesagt. Da ist die Frage:
Kann man so produzieren, dass für alle genug da? Dass alle nutzen können,
was sie brauchen, wenn sie es brauchen? Geht das im Rahmen der 1,8 Hektar
Biokapazität, die jeder und jedem im Schnitt zur Verfügung stehen? Ich
denke, dass es grundsätzlich möglich ist, wenn man es richtig anstellt.
Aber wie kann man es richtig anstellen, wie kann eine Gesellschaft
funktionieren, wo allen Menschen zur Verfügung steht, was sie brauchen,
ohne dass dies auf Kosten der Erde oder der nachfolgenden Generationen
ginge?

Kann der Kapitalismus, die Gesellschaft, in der wir leben, materielle Fülle
für alle erzeugen? Diese Frage lässt sich eindeutig verneinen. Zwar erzeugt
er offensichtlich Fülle für einige -- uns in Deutschland geht es ja im
Schnitt ganz gut, und denen, die richtig wohlhabend sind, geht es noch
deutlich besser. Aber diese Fülle für einige geht auf Kosten der Menschen
in der Dritten Welt, in den armen Ländern, die von der kapitalistisch
produzierten Fülle großteils ausgeschlossen sind. Fülle für alle ist unter
kapitalistischen Verhältnissen grundsätzlich nicht möglich. Dafür gibt es
mehrere Gründe:

Zum einen geht es im Kapitalismus immer um die *Kapitalverwertung,* also
darum, aus Geld mehr Geld zu machen. Ich kann aus Geld aber nur dann mehr
Geld machen, wenn ich produziere, also Ressourcen einsetze. Wenn die
Geldvermehrung funktioniert, ist das vorhandene Kapital gewachsen, und
damit sie weiterhin funktioniert, muss es neu angelegt werden und noch
weiter wachsen. Somit gehört zum Kapitalismus die Notwendigkeit permanenten
Wachstums, was dazu führt, dass die Ausnutzung der Biokapazität
zwangsläufig über die dauerhaft möglichen Grenzen hinaus getrieben werden
muss. Es ist kein Zufall, sondern systembedingt, dass wir heute mehr
Biokapazität vernutzen als nachhaltig verfügbar ist. Unter kapitalistischen
Bedingungen geht es nicht anders, denn wenn es kein Wachstum gibt, gibt es
Krise -- dann scheitert die Verwertung mancher Kapitalien, Firmen gehen
Pleite, Leute werden arbeitslos und damit von der kapitalistisch
produzieren Fülle weitgehend ausgeschlossen. Krise ist also auch nicht gut,
aber die Alternative -- Wachstum -- geht notwendigerweise auf Kosten der
Natur.

Zweitens ist Fülle für alle auch deswegen ausgeschlossen, weil
kapitalistisch produzierte Güter verkauft werden müssen -- wird etwas nicht
verkauft, kann man damit kein Geld verdienen. Verkaufen kann man Dinge aber
nur, wenn sie *knapp* sind, also wenn es nicht genug davon für alle gibt.
Wenn etwas nicht knapp ist, geht sein Preis, wie die Ökonomen wissen, gegen
null. Dann gehen Hersteller Pleite, die Verwertung scheitert, und der
entsprechende Bereich wird für die kapitalistische Wertverwertung
uninteressant (sofern nicht durch die "Marktbereinigung" wieder eine
Situation der Knappheit entsteht). Vor diesem Problem steht heute die
Musikindustrie, da man Musik so leicht teilen kann, dass sie im Überfluss
vorhanden ist. Das zerstört den Markt für Musik, die Möglichkeit, damit
Geld zu verdienen. Entweder man hat Knappheit und der Kapitalismus
floriert, oder man hat Fülle, die den Markt zerstört und die
kapitalistische Wertverwertung unmöglich macht.

Und zum dritten besteht ein Konflikt zwischen Fülle für alle und dem
Grundprinzip des Kapitalismus: der *Konkurrenz.* Konkurrenz bedeutet, dass
die Gewinne der einen immer die Verluste der anderen sind. Ich dränge meine
Konkurrent/innen aus dem Markt, beispielsweise setze ich mich auf dem
Arbeitsmarkt durch: dann finde ich einen Job, aber andere finden keinen,
bleiben arbeitslos und damit arm. Ich muss mich immer gegen die Konkurrenz
durchsetzen und wenn ich das schaffe, ist es gut für mich, aber schlecht
für die anderen. Fülle gibt es vielleicht für die, die gewinnen, aber den
Verlierer/innen im Konkurrenzkampf bleibt dann beispielsweise nur Hartz IV
<http://de.wikipedia.org/wiki/Arbeitslosengeld_II>.

Dagegen sind die Voraussetzungen der Peer-Produktion sehr viel besser, weil
sie auf dem *Bedürfnisprinzip* basiert: Leute tun sich zusammen und
produzieren etwas, weil es ihren Bedürfnissen entspricht. Dabei kann ich
angeregt werden durch *produktive Bedürfnisse,* also ich mache etwas, weil
ich es gerne tue; oder durch *konsumtive Bedürfnisse,* also ich trage zu
der Produktion eines Gutes bei, das ich selber haben möchte. Es geht um die
Bedürfnisse der Menschen, nicht um einen abstrakten Zweck wie die
Kapitalverwertung. Nun müssen meine Bedürfnisse aber nichts zwangsläufig
auf Kosten der Bedürfnisse anderer Leute gehen. Beispielsweise beim
Kopieren: wenn ich mir etwas kopiere, was ich haben möchte, entspricht das
meinen Bedürfnissen, schadet den Bedürfnissen anderer Menschen aber nicht.

Und die Peer-Produktion funktioniert gerade deshalb so gut, weil sich die
Leute gegenseitig bei der Befriedigung ihrer Bedürfnisse unterstützen, was
für alle Beteiligten von Vorteil ist. Anders als im Kapitalismus gibt es
nicht Gewinne für einige auf Kosten anderer, sondern die Zusammenarbeit
nutzt allen Beteiligten.

Die Freiheit zu teilen
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Jetzt ist die Frage: Wie lässt sich das, was im Immateriellen schon so gut
funktioniert, in den materiellen Bereich übertragen?

Wir hatten im zweiten Teil
<http://www.keimform.de/2010/selbstorganisierte-fuelle-2/> gesehen, dass
eine der drei essentiellen Freiheiten die Freiheit ist, Dinge
weiterzuverbreiten und zu teilen. Ich hatte die Faustregel formuliert:
"Seid großzügig und teilt was ihr könnt, denn nur so werdet ihr Leute
finden, die mit euch zusammenarbeiten." Wie ist das im Materiellen möglich?

Nina Paleys Video <http://www.keimform.de/2010/copying-is-not-theft/> hat
schon einen Hinweis auf eine Möglichkeit gegeben, nämlich das *Kopieren,*
das *Vervielfältigen*:

    Wenn ich dein Fahrrad klaue,
    musst du den Bus nehmen.
    Wenn ich es aber kopiere,
    haben wir beide eins!

Wenn wir das Fahrrad kopieren, wenn wir also zwei Fahrräder herstellen,
dann haben wir genug. Auch materielle Dinge sind also nicht unbedingt
*knapp,* es muss kein *Mangel* an Fahrrädern herrschen. Je nach Anzahl der
Interessent/innen braucht man vielleicht nicht nur zwei, sondern drei oder
fünf oder (falls alle heute lebenden Menschen eins haben möchten) gegen
sieben Milliarden, aber das heißt nicht, dass die Produktion dieser
Fahrräder unmöglich wäre. Auch die ökologische Begrenztheit verhindert das
nicht -- ich denke, es ist ohne Weiteres möglich, Fahrräder für alle zu
produzieren, ohne dass das die Grenzen der verfügbaren Biokapazität
sprengen würde.

Zumindest für Dinge, die wenig Ressourcen-intensiv sind, sollte es also
möglich sein, sie in ausreichender Zahl zu produzieren, um alle Bedürfnisse
danach zufrieden zu stellen: so viele Fahrräder, so viele Kugelschreiber,
so viele Stühle, dass alle, die möchten, Fahrgelegenheiten,
Schreibgelegenheiten, Sitzgelegenheiten bekommen können, ohne dass es auf
Kosten anderer oder auf Kosten der Natur gehen müsste.

Zwar ist das Kopieren bei materiellen Dingen nicht so einfach wie bei
Informationen. Aber unter gewissen Umständen sind auch materielle Produkte
kopierbar, nämlich wenn man über die *gesamten Baupläne* sowie über die
*benötigten Ressourcen und Produktionsmittel* verfügt.

Wenn Baupläne und Konstruktionsbeschreibungen in Peer-Projekten gemeinsam
entwickelt und gemäß den drei Freiheiten geteilt werden, nennt man das
*Freies Design* oder (etwas ungenau) Freie Hardware
<http://de.wikipedia.org/wiki/Freie_Hardware>. Dieser Bereich ist heute
sehr stark im Kommen, in den letzten Jahren sind hunderte neuer
Freies-Design-Projekte entstanden. Aber Baupläne allein reichen natürlich
nicht, sondern man braucht auch Zugriff auf die benötigten *Ressourcen,*
die Rohstoffe sowie Vorprodukte, die für die Produktion des Guts gebraucht
werden, sowie auf die erforderlichen *Produktionsmittel,* also die für den
Produktionsprozess notwendigen Maschinen und Gerätschaften. Wenn diese drei
Voraussetzungen erfüllt sind, lassen sich auch materielle Dinge
vervielfältigen -- wir werden darauf zurückkommen.

Vervielfältigung ist aber nicht die einzige Möglichkeit. Manche Dinge
lassen sich auch gut *gemeinsam nutzen.* Zum Beispiel öffentliche
Verkehrsmittel: je mehr Leute eine bestimmte Buslinie benutzen, desto höher
die sinnvolle Taktfrequenz, also desto häufiger können die Busse fahren.
Für die Nutzer/innen ist das von Vorteil, weil sie schneller zum Ziel
kommen. Der Ressourcenverbrauch steigt dadurch zwar auch an, aber sehr viel
langsamer als beim Individualverkehr, wo jede/r ein eigenes Auto bräuchte.

Bei Netzwerken und ähnlichen Systemen wird dieser Effekt als Netzwerkeffekt
<http://de.wikipedia.org/wiki/Netzwerkeffekt> bezeichnet: Je mehr Leute am
Internet oder am Telefonnetz beteiligt sind, mit desto mehr Leuten kann ich
kommunizieren, desto mehr Möglichkeiten zur Interaktion gibt es. Je größer
das Netzwerk, desto besser für alle. Der Ressourcenverbrauch steigt mit
steigender Teilnehmendenzahl zwar ebenfalls, aber im Allgemeinen weniger
stark als die Zahl der Teilnehmenden.

Zudem können bestimmte Dinge oft nicht nur von einer Person, sondern von
mehreren gleichzeitig benutzt werden. Das ist die Idee der Freien Funknetze
<http://de.wikipedia.org/wiki/Freies_Funknetz>: ich kann meinen
Zugangspunkt zum Internet problemlos mit anderen teilen, da ich eh nur
selten die gesamte Bandbreite ausnutze. Dadurch dass zwei oder drei andere
Leute meinen Zugang mitbenutzen, wird er im Allgemeinen nicht spürbar
langsamer.

Neben solch gemeinsamer Nutzung, wo Dinge von mehreren Leuten gleichzeitig
genutzt werden, ist auch die *abwechselnde Nutzung* eine Möglichkeit. In
dem Video hieß es: "Wenn ich dein Fahrrad klaue, musst du den Bus nehmen."
Aber falls die andere heute eh den Bus nimmt (z.B. weil ihr die Strecke zu
weit ist), braucht sie ihr Fahrrad ja gar nicht. Dann kann sie sagen: "Du
kannst das Fahrrad haben, denn ich brauche es heute nicht".

Bei einem einzelnen Ding kommt man mit der abwechselnden Nutzung allerdings
nicht allzu weit, denn was ist, wenn wir beide das Fahrrad gleichzeitig
nutzen wollen? Besser funktioniert es mit einer Einrichtung eines *Pools*
mehrerer gleichartiger Dinge, die von einer Gruppe von Leuten abgewechselt
genutzt werden. Man braucht dann zwar mehrere dieser Dinge, aber nicht für
jede/n eins. Beispielsweise könnte ein Fahrradpool bzw. ein Carpool fünf
Fahrräder oder Autos für zehn oder zwanzig Leute umfassen, wenn diese Leute
aus Erfahrung wissen, dass sie selten mehr als fünf gleichzeitig benötigen.
Eine solcher Pool kann für viele Dinge sinnvoll sein, die man nicht
permanent braucht, beispielsweise auch für Werkzeuge oder Waschmaschinen.

Wenn mir jemand mein Fahrrad klaut, obwohl ich es noch nutzen wollte, ist
das ärgerlich. Aber vielleicht will ich es ja gar nicht mehr benutzen.
Wenn's ein Kinderfahrrad ist, ist es irgendwann zu klein; auch bei
Erwachsenen ändern sich die Bedürfnisse von Zeit zu Zeit, so dass man
bestimmte früher benötigte Dinge nicht mehr gebrauchen kann. Wenn so ein
Fall eintritt, dass ich ein eigentlich noch brauchbares Ding selbst nicht
mehr gebrauchen kann, dann kann ich es an andere *weitergeben,* die etwas
damit anfangen können. Das Weitergeben von Dingen ist eine weitere
Möglichkeit, dafür zu sorgen, dass die Dinge in Verwendung bleiben und man
mit reduziertem Ressourcenaufwand viele Bedürfnisse befriedigen kann.

Und die Peer-Produktion ist schließlich immer Produktion für den Bedarf,
also Dinge werden produziert, um verwendet zu werden, nicht um ungenutzt im
Schuppen zu verstauben. Ein Thema im zweiten Teil
<http://www.keimform.de/2010/selbstorganisierte-fuelle-2/> war das Copyleft
<http://de.wikipedia.org/wiki/Copyleft>, das jede/n verpflichtet, anderen
dieselben Freiheiten einzuräumen, die er oder sie selbst erhalten hat. Ein
denkbares Gegenstück für materielle Dinge könnte eine
*"Nutze-oder-teile"-Klausel* für Peer-produzierte Dinge sein, die festlegt:
"Du darfst das Gut nutzen, wie und wie lange du willst; aber wenn du es
nicht mehr nutzen willst, gib es an andere weiter, damit es in Verwendung
bleibt."

Ein Gegenstück zum Copyleft wäre eine solche Regelung insbesondere dann,
wenn sie *transitiv* gilt, wenn also die Produzent/innen von
Produktionsmaschinen und anderen Werkzeugen sagen: "Dieses Werkzeug fällt
unter die Nutze-oder-teile-Klausel, und alle damit hergestellten Dinge tun
das ebenfalls." Damit würden alle mit Hilfe solcher Werkzeuge hergestellten
Dinge -- ob Fahrräder, Häuser, Computer -- unter diese Regelung fallen; sie
könnten genutzt oder anderen zur Nutzung übergeben werden, dürften aber
nicht verkauft oder vermietet werden.

Es gibt somit mindestens vier Arten, materielle Dinge zu teilen: man kann
sie vervielfältigen, man kann sie gemeinsam nutzen, entweder gleichzeitig
oder abwechselnd im Pool, und man kann sie weitergeben, wenn man sie nicht
mehr braucht.

[Wird fortgesetzt.]

-- 
|------- Dr. Christian Siefkes ------- christian siefkes.net -------
| Homepage: http://www.siefkes.net/ | Blog: http://www.keimform.de/
|    Peer Production Everywhere:       http://peerconomy.org/wiki/
|---------------------------------- OpenPGP Key ID: 0x346452D8 --
Beim perlenden Schaum des Champagners werden die lieben Kinder das
Christbäumchen, das dieses Jahr fehlt, nicht missen und trotz alledem und
alledem lustig und fröhlich sein.
        -- Jenny Marx an Engels (23./24.12.1859)



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