[ox-de-raw] Re: [ox-de] Re: Nochmal: gesellschaftliche Natur
- From: Stefan Meretz <stefan.meretz hbv.org>
- Date: Wed, 20 Sep 2006 10:15:48 +0200
Hallo El Casi,
Am Tuesday 19 September 2006 23:48 schrieb El Casi:
Mein subjektiver Eindruck ist, daß in Deiner, Stefan, "sachlichen"
Art durchaus eine Bissigkeit zum Ausdruck kommt, die sachliche
Auseinandersetzung be- und verhindert, was dann auch leicht als
Vermeidungstaktik interpretiert werden kann.
Ok, deine Kritik nehme ich an. An Vermeidung von inhaltlicher
Auseinandersetzung ist mir nicht gelegen.
Du meinst wohl "wo". Aus diesem Satz der o.g. Referenz: "Das
Individuum ist daher nicht das gesellschaftliche Wesen, sondern
nie etwas anderes als die Einzelinstanz einer Gemeinschaft."
Mir scheint wichtig, in diesem Satz die Unterschiedlichkeit zweier
Lesarten zu beachten: ``Das Individuum ist ... NICHT DAS
gesellschaftliche WESEN'' sagt etwas anderes als ``Das Individuum
IST KEIN gesellschaftliches Wesen''.
Mit anderen Worten (lese ich aus dem zitierten Satz heraus):
``Obwohl das Individuum ein gesellschaftliches Wesen ist, ist
nicht das Individuum das Wesen der Gesellschaft.''
Uh, es geht im Satz also nicht um das "Wesen" des Individuums, wie ich
es gelesen habe, sondern um das "Wesen" der Gesellschaft? Wenn dem so
ist, dann war das ein krasses Missverständnis und ich muss mich bei
Hans-Gert entschuldigen.
Allerdings spricht der zweite Teil des Satz gegen diese Interpretation:
Nur ungesellschaftliche Individuen sind "nie etwas anderes als ...
Einzelinstanz(en) einer Gemeinschaft". Und auch der erste Teil - was
ist die Aussage? Das Wesen der Gesellschaft ist nicht das Individuum??
Die Aussage, die Gesellschaft mache gar nichts, halte ich für sehr
einseitig. Daß sie aus handelnden Individuen besteht ändert an
der Sache nichts, höchstens an der Perspektive. Ebenso gut könnte
man nämlich auch den Spruch vom Tisch wischen ``Stetes Wasser
höhlt den Stein'' -- denn 'das Wasser' 'macht' gar nichts. Oder
gar behaupten: der Mensch bewegt sich gar nicht, höchstens die
Moleküle, aus denen er zusammengesetzt ist, bewegten sich.
Zwischen Wasser und Stein besteht eine physikalische
Ursache-Wirkungs-Relation (UWR). Kern meiner Aussage in Bezug auf das
Verhältnis von Gesellschaft und Indidividuum ist, dass es eine solche
UWR dort nicht gibt. Das Verhältnis ist ein anderes (bei Interesse kann
ich das ausführen).
Wenn für Dich das Wesen des Individuums ein gesellschaftliches
ist, dann verstehe ich nicht, warum das Individuum etwas machen
kann, die Gesellschaft aber nicht. Ist das Machen-Können etwa
kein wesentlicher Zug des Menschen?
Der Kontext war "Diese Gesellschaft macht krank". Das ist eine als UWR
formulierte Aussage, gegen die ich geschrieben habe, die ich - wenn du
es auf der empirischen Ebene sehen willst - widerlegt habe: "Manche
werden krank, andere nicht."
Ich verstehe zwar die Vorbehalte, die zu der Protestaussage, die
Gesellschaft mache gar nichts, führen, glaub ich (-- Vorbehalte
gegen die Entsubjektivierung / Objektivierung gesellschaftlicher
Erscheinungen und Vorgänge, letztlich gegen die Fetischisierung
``der Gesellschaft'' als so einer Art unpersönlichen allmächtigen
Großen Bruders oder gar Gottes), aber philosophisch scheint mir
diese Aussage nicht haltbar zu sein, zumindest solange nicht, wie
der Begriff der Gesellschaft in Deinen Überlegungen einen nicht
unwesentlichen Platz einnimmt.
Mir ging es um die Zurückweisung der Aussage im Modus der UWR.
Das "machen" hatte hier den Platz der "Ursache". Deswegen war mein
Einwand auch keine (moralisch aufgeladene) Protestaussage.
Was du vielleicht meinst, ist etwas anderes. Ich bin in der Tat der
Auffassung, dass die Gesellschaft nicht nur passives Medium ist -
obwohl ich den Begriff manchmal benutze, um die Allgegenwart
von "Gesellschaft" klarzumachen. Sondern diese unsere Gesellschaft, die
durch eine über den Wert vermittelte Dynamik gekennzeichnet ist, kann
man durchaus als "automatisches Subjekt" bezeichnen, wie das Marx zum
Beispiel getan hat. Er versuchte mit dieser Metapher das verrückte
Verhältnis von menschlichem Handeln, das diese Gesellschaft erschafft,
und quasi subjektloser Eigendynamik der Verwertungslogik zu fassen, in
der die Menschen nur Funktionen in der Dynamik ausführen, von dieser
also "gesagt bekommen", was sie jeweils zu tun haben, damit der Laden
läuft. Jede Vereinseitigung dieses verrückten Verhältnisses - wir
schaffen etwas, das uns beherrscht - geht fehlt. Ich kann weder sagen,
das wir beliebige Handlungsfreiheit haben, die Gesellschaft "anders zu
machen", noch, das wir im Sinne einer UWR bloß Unterworfene wären.
Die Lösung dieses Dilemmas ist nur möglich, wenn zwei Bedingungen (der
Erkenntnis und Praxis) erfüllt sind:
- das Aufbrechen des verrückten Verhältnisses kann nur _historisch_
gedacht werden (=>Fünfschrittmodell)
- ein Aufbrechen ist nur möglich, wenn der dynamische,
selbstreproduktive Kern, also die Form der Vergesellschaftung, die Art
und Weise, wie wir unser Leben gesellschaftlich produzieren,
qualitativ verändert wird - was für mich heißt, eine neue Form der
Vergesellschaftung jenseits der Verwertungslogik zu denken und zu
suchen (=>Keimformdiskussion)
Ich hoffe, dass das in deinen kritischen Augen philosophisch bestehen
kann - unabhängig davon, ob du das im einzelnen inhaltlich auch so
siehst.
Eine Psychologisierung halte ich genauso inadäquat wie eine
informatische Analogiebildung. Trotzdem der Versuch einer
Antwort: Das konkret-allgemeine "ich" _ist_ das "je ich". Weil
ich vermute, dass diese kurze Antwort - obwohl vollständig -
nicht ausreicht, dazu ein paar Erläuterungen.
Also für mich bleibt die Frage auch nach Deinen Erläuterungen
offen: denn die Erläuterungen führen diese konkreten Beziehungen
nicht begrifflich aus, sondern behaupten nur deren Anwesenheit und
grundlegende Bedeutung. Damit sind sie aber für mich noch nicht
ausreichend ``mitgedacht''.
Das ist mir jetzt etwas zu allgemein: Was genau ist für dich offen?
Meine ganze längliche Ausführung war eine begriffliche - was sonst?
Diese Ausführung besteht beileibe nicht aus Behauptungen, sondern aus
(trotzdem nur ausschnitthaften) Erklärungen eines bestimmten
Begründungszusammenhangs. Es kann natürlich sein, dass darin bestimmte
Erläuterungen nicht klar werden - aber dann frage bitte danach.
Euren Streit um das Seminar in
Hütten, den Du leider ablehnst, finde ich in diesem Zusammenhang
wirklich interessant, weil das, was Du hier wieder (fast) nur
schablonenhaft abstrakt geschrieben hast, daran plastisch (in seiner
Konkretion vorstellbar, greifbar) wird.
Das verstehe ich nicht. Willst du es auf der Ebene des Beispiels erklärt
haben?
Wenn dem so ist, dann ist damit eine grundsätzliche
erkenntnistheoretische Problematik angesprochen: Du kannst auf der
Ebene eines "konkreten" Beispiels nichts erklären. Ein Beispiel kann
nur vorher Erklärtes, also begrifflich Geklärtes illustrieren. Deswegen
wäre es notwendig, dass du "auf der Ebene des Begriffs" nachfragst.
Unsere (HGG/SMz) divergierende Sichtweise auf "Hütten" ist nur Soap.
Nö, dazu sag ich nix mehr. Sich unterschiedliche Wahrnehmungen
vorzuhalten, bringt gar nichts. Nimm es doch einfach mal hin.
Das versteh ich jetzt gar nicht: worin besteht denn
Gesell(schaftl)igkeit sonst, wenn nicht in der gegenseitigen
Mit-Teilung?! (-- zum Beispiel von notwendigerweise
unterschiedlichen Wahrnehmungen; und in welcher Form auch immer?)
Für uns Menschen besteht der Kern der Gesellschaftlichkeit darin, dass
wir in einer Möglichkeitsrelation (und nicht UWR) zur Gesellschaft
stehen. Diese schließt ein, auch "nein" sagen zu können - und das tue
ich an der Stelle. Der Grund dafür ist, dass ich diverse
Rechtfertigungs- und reziproke Vorwurfsrunden für nicht sinnvoll halte.
Ich habe meinen Eindruck geschildert und Hans-Gert seinen - und gut ist
es (erstmal).
Ciao,
Stefan
--
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