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Thread: oxderawT00003 Message: 6/22 L4 [In date index] [In thread index]
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[ox-de-raw] Re: [ox-de] Re: Nochmal: gesellschaftliche Natur



Hallo Stefan!

Danke für die Antwort!

In der Tat habe ich den Eindruck, was verstanden zu haben :-)

Der Kontext war "Diese Gesellschaft macht krank". Das ist eine
als UWR formulierte Aussage, gegen die ich geschrieben habe, die
ich - wenn du es auf der empirischen Ebene sehen willst -
widerlegt habe: "Manche werden krank, andere nicht."
 
[UWR = Ursache-Wirkungs-Relation]

Vor diesem Hintergrund muß ich die Antwort tatsächlich anders
verstehen.  Sicher bin ich mir aber nicht, daß das die einzig
mögliche Interpretation des Satzes ist... etwa so, wie ich mit
meiner (leicht allergischen) Reaktion auf ``die Gesellschaft macht
gar nix'' ziemlich falsch gelegen habe -- ... indem ich den Satz
zu wörtlich genommen hab.

``Manche werden krank, andere nicht.'' kann man zwar als
Widerlegung betrachten -- damit hätte man den widerlegten Satz als
absolute, als unbedingte Allaussage interpretiert.  Man diese
Feststellung aber auch als Differenzierung der Feststellung der
``krank-machenden Gesellschaft'' betrachten.  

Aus der Notwendigkeit der Differenzierung ergibt sich aber nicht
notwendig die (absolute) Falschheit der Verallgemeinerung.
Sondern vielmehr ein differenziertes Verständnis derselben -- eben
nicht ein Verständnis als unbedingter Ursache-Wirkungs-Relation,
sondern als einseitige Reflektion eines Verhältnisses.

Sobald sich beispielsweise eine Korrelation zwischen der Rolle
eines Individuums in der Gesellschaft, seinem Verhältnis zu ihr
und ihres Verhältnisses zu ihm beobachten läßt, ist das in meinen
Augen eher eine Bestätigung der allgemeinen Aussage, welche dann
nicht widerlegt, sondert eher vertieft wurde.

Vielleicht spiegelt sich ja in der Feststellung, diese
Gesellschaft mache krank, auch nur die Erkenntnis der Falschheit
der umgekehrten Behauptung wider, nämlich der Behauptung, die(se)
Individuen machten diese Gesellschaft krank.  Letzteres ist ja
eine durchaus nicht selten anzutreffende, weil populistisch sehr
wirksame Behauptung -- natürlich mehr oder weniger zugeschnitten
auf konkrete politische Rahmenbedingungen -- Moses zog mit seinem
Volk für die Zeit eines kompletten Generationswechsels durch die
Wüste, um (dann) eine neue Gesellschaft verkünden/aufbauen zu
können.  In der DDR kam auch beim einen oder anderen die Idee auf,
die Menschen wären noch nicht reif für den Sozialismus.  Nietzsche
steht der Perspektive, die Individuen machten die Gesellschaft
krank, nicht fern -- und in einem Vortrag auf dem LinuxTag durfte
ich erleben, wie er (angeblich) als Gallions-Philosoph der
Freien-Software-Szene jetzt erst zu rechtem Leben erwacht!
Christoph R. scheint diesem Denkansatz nicht fernzustehen.  Und
von den Nazis (früher wie heute) will ich gar nicht erst anfangen. 

All diese Referenzen sollen eigentlich nur verdeutlichen, daß ich
auch diese Aussage in einem Kontext betrachten kann, indem sie
alles andere als ungerechtfertigt erscheint.  Auch wenn sie
natürlich -- wie jede Formulierung -- ihre Tücken hat...

Natürlich kommt in Eurer Auseinandersetzung noch der Aufruf zur
``kollektiven Psychotherapie'' dazu, welcher meine oben
angedeutete Interpretationsweite möglicherweise aushebelt.  Aber
auch in diesem Ausdruck sehe ich vor allem den Versuch, die
*Beziehung* von Gesellschaft / Gemeinschaft / Individuum bei
Gedanken über gesellschaftliche Veränderungen in den Vordergrund
zu heben, also den Anspruch, nicht über gesellschaftliche
Entwicklung so nachzudenken, als könne man das ``automatische
Subjekt'' revolutionieren oder aufheben oder überwinden, ohne die
gegenwärtige Verfaßtheit ``seiner Subjekte'' (der Gemeinschaften
und Individuen) zu revolutionieren oder aufzuheben oder zu
überwinden, da diese ja wesentlich von jenem ``automatischen
Subjekt'' geprägt ist (bzw.  ``je sind'').

Andererseits suggeriert allein der Ausdruck Therapie eine gewisse
autoritätsmäßige Rollenverteilung: es gibt da den Therapeuten und
den Therapierten.  Ersterer ist Dienstleister des letzteren, aber
gleichzeitig ihm gegenüber Autorität, sowie es je die Ältesten,
die Traumdeuter, Handleserinnen, Beichtväter und sonstigen
Mentoren und Supervisoren waren (und sind). Schon aus der
Aufzählung wird aber deutlich, daß selbst solche
Autoritätsbeziehungen sehr verschiedenen Charakter haben können.
Und noch mehr verändert sich meine Vorstellung von dem
(möglicherweise) gemeinten, wenn man die ganze Sache als
Selbst-Therapie propagiert.  

Daß bei dem Wort Therapie überhaupt immer die Unterstellung von
Krankheit mitschwingt, halte ich ehrlich gesagt für nicht so
schlimm, wenn auch blöd ;-) Denn ich kann es für mich sehr wohl
als eine Art Therapie einordnen, wenn ich versuche, die
überkommenen Denkformen zu entwickeln oder aufzuheben, indem ich
mich theoretischen Analysen und Diskussionen hingebe, die ja für
mich schon, optimistisch gesehen, den Zweck haben, mich zu
verändern, meinen Handlungsspielraum zu vergrößern usw. 

(Blöd daran finde ich, daß mit der Unterstellung von Krankheit
oder mit der Behauptung des Krank-Machens eine ``Abweichung von
der Norm'' suggeriert wird, ohne daß der Maßstab, die Norm näher
hinterfragt oder begriffen werden muß.  Denn ein Verhalten, eine
Eigenschaft, die in einem Kontext ``normal'' ist, ist es im
nächsten nicht -- gilt also nur im nächsten als krank... Wo also
sollte da eine Therapie ansetzen können, wenn nicht in einer
Grauzone, welche ja, wenn sie denn selbst einen realen Kontext
darstellt, selbst schon ``die Therapie'' wäre?  Das aktive Suchen
und Besuchen einer solchen Grauzone ist aber sicher ein ``ganz
normaler'' Bestandteil individuellen Handelns, welchen ich sowohl
Erweiterung des eigenen Handlungsrahmens als auch als
(Selbst-)Therapie beichnen könnte, ohne damit verschiedene Sachen
zu meinen...)

---

* Meine Fragen zur Entwicklung der Gestalt der individuellen
  Beziehungen unter dem Paradigma ``der anderen Entfaltung ist
  Voraussetzung für je meine Entfaltung'' müssen noch reifen...
  Deshalb find ich es ja so spannend, Diskussionen zu diesem Thema
  zu folgen ;-)

* Was die Analogien betrifft möchte ich anmerken, 

  - daß eine schlechte Analogie nicht deswegen schlecht ist, weil
    es eine Analogie ist, sondern eben weil sie schlecht ist, also
    weil sie nicht durchdacht (z.B. zu undifferenziert bzw.
    inkonsequent oder oberflächlich) ist.

  - und daß mal jemand gesagt hat, Informatik sei eigentlich
    nichts anderes als ``angewandte Erkenntnistheorie'' :-)

  - und daß mir scheint, daß das (explizite oder implizite)
    Vergleichen und Analogisieren einen sehr wichtigen Anteil am
    Denken und Begreifen hat, welchen man nur der Einsicht
    enthebt, wenn man ihn versucht zu verschweigen oder
    auszublenden...  Besser fänd ich Analogien zu entwickeln, bis
    ihre Trägfähigkeit oder Nicht-Tragfähigkeit klar wird: beides
    trägt zu Klärung und Schärfung von Begriffen bei, Vermeidung
    hingegen nicht.

Soweit.

Grüße,
El Casi.

p.s. 

Ich hoffe, dass das in deinen kritischen Augen philosophisch
bestehen kann - unabhängig davon, ob du das im einzelnen
inhaltlich auch so siehst.

Klar doch! ;-)  Vor allem freut mich, daß Du so ausführlich darauf
eingegangen bist und mein Unverständnis weitgehend gelindert hast :-)



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