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Re: [ox] Tausch & Utopie



Hi Stefan, Rainer, et al.!

Endlich nehme ich mir auch mal wieder Zeit für diese Liste - nicht das
ich sie übrig hätte ;-) .

BTW: Irgendein Hintergrundprozeß verfolgt auch noch das Projekt, die
Liste ins Web zu bringen. Ein Tool (MHonArc) habe ich schon ausgeguckt
und Web-Space würde ich fürs Erste auf meiner privaten Home-Page
spendieren.

Ich plane, auch den recht heftigen Mail-Austausch vor der
Listengründung der Vollständigkeit halber dorthin zu packen, werde
aber natürlich die damaligen SchreiberInnen noch explizit fragen.
Beschwerden könnt ihr ja jetzt schon mal abgegeben ;-) . Vielleicht
kriegt dieser Prozeß ja bald noch ein bißchen Rechenzeit...


Ich werde ausnahmsweise mal nicht erst den ganzen Thread lesen sondern
steige gleich bei Stefan Mz.s Antwort auf Rainer ein.

19 days ago Stefan Meretz wrote:
Ich hab auch meine Zweifel, ob man ESRs Bazar so utopisch
aufladen sollte, wie das Stefan Meretz tut. Was ESR anbietet,
sind doch nur ein paar Anekdoten. Von Methode keine Spur.

Über die politische Funktion der ESR-Beiträge sind wir uns
völlig einig. Trotzdem finde ich, kann man auch von Leuten,
die eine astreine bürgerliche Theorie vertreten (`Apologeten
des Kapitalismus? nannte man das mal), eine ganze Menge
lernen. ESR ist es m.E. gelungen eine Reihe von Erfahrungen
der freien Softwarebewegung zu versprachlichen, die eine
Diskussion darüber in neuer Qualität ermöglicht hat. Seine
v.a. gesellschaftspolitischen Verallgemeinerungen teile in
keiner Weise, aber auch solche ideologisierenden Beiträge
wie der Noosphere-Aufsatz haben ihre Wirkung, die man
zur Kenntnis nehmen muß (M$ bezieht sich z.B. konstruktiv
darauf - was Wunder). Eine kritische Reinterpretation gerade
dieses Aufsatzes steht noch aus (wie wär?s, Rainer?).

Eine Auseinandersetzung mit dem Noosphere-Papier hatte ich mir auch
schon mal vorgenommen. Das richtig nach Strich und Faden zu zerlegen
und zu zeigen, wo er die Wirklichkeit so hinbiegt wie er sie gerne
hätte. Wäre wirklich ein interessantes Projekt.

Ich denke, wofür wir ESR (Eric S. Raymond, Maintainer u.a. von
`fetchmail') dankbar sein müssen, ist, daß er die Idee, Gnu/Linux auch
politisch zu betrachten in gewisser Weise gesellschaftsfähig gemacht
hat - auch wenn es vorher wohl schon solche Debatten gegeben hat.

Was ich mache, ist, einerseits (auch ESRs) Erkenntnisse in
meinem Licht neu zu bewerten, und zweitens benutze ich
`Basar? als Metapher. Ich will damit keinesfalls _ESRs_ Basar
utopisch aufladen, sondern meine Vorstellung davon. Ich
entwende sozusagen seinen Begriff und muß dann natürlich
damit rechnen, (z.B. von Dir) dafür kritisiert zu werden.
Vielleicht läuft mir ja eine bessere Metapher über den Weg
(Vorschläge?).

Ja, ich finde wir sollten weg von dem Basar-Begriff wenn wir über die
politischen Implikationen reden. Für das, was er in `The Cathederal
and the Bazaar' schreibt mag das ja passen, aber für das über was wir
gerne sprechen würden halte ich es für irreführend.

Irgendwie sind wir da wieder bei einer ähnlichen Debatte wie die um
die Benamung der Liste. Vielleicht sollten wir wirklich ein neues Wort
nehmen. "Ökonomie" wäre vielleicht ein wichtiger Bestandteil eines
solchen Begriffs - jedenfalls fällt mir partout nichts ein, was die
Produktion und Distribution von Gütern besser faßt. "Open Economy"
hat dummerweise so viele unpassende Konnotationen
(Strukturanpassungsprogramme des IWF z.B.) :-( .

Auch nicht von Beweisen für seine großspurige Behauptung,
Brooks Law falsifiziert zu haben (wo bitte sind die
softwaremetrischen Daten?).

Was ist überhaupt `Brooks Law? anderes als eine Verdichtung
von Erfahrungen?

Eben. Solche Sachen gibt's in der Informatik ja häufiger. Auch das
Moore'sche(?) Gesetz von der Verdoppelung der Performance aller paar
Jahre ist ja lediglich ein Erfahrungswert, der durch die
physikalischen Grenzen irgendwann hart gebremst werden wird -
zumindest in den klassischen Architekturen.

Und nicht zu vergessen Murphy's Law, das allerdings sicher in den Rang
eines Naturgesetzes erhoben werden kann ;-) .

Diese Erfahrung (mehr personelle Ressourcen
in bestimmten Projekten steigert den Projektoutput nicht im
gleichen Maße) kann ich sehr gut nachvollziehen. Genauso
auch die umgekehrte: nicht-befehlsadministrativ sondern eher
lose zusammengebundene selbstorganisierte und
selbstverantwortliche Teams arbeiten effektiver. Das ist
doch nix Neues - auch ohne softwaremetrische Daten. Die
angemessene Verallgemeinerung dieser `irgendwie?
nachvollziehbaren Erfahrung fehlt allerdings noch (von mir
aus mit softwaremetrischer Unterfütterung).

Das Problem, das solche Erfahrungs-"Law"s noch mehr als die mehr
naturwissenschaftlichen ist, daß sie von dem Hintergrund, auf dem sie
aufgestellt werden nicht zu trennen sind. Ob sie in einer anderen
Situation immer noch gelten ist völlig ja offen.

Und es kann ja sein, daß unter den hierarchischen Bedingungen, unter
denen auch heute noch (oft schlechte) Software entwickelt wird, zu
diesen Gesetzen führen. Ob die aber auch für andere
Entwicklungsmodelle wie Basar-Entwicklung (hier ist also der (soziale)
Software-Entwicklungsprozeß gemeint) gelten ist überhaupt nicht
ausgemacht.

Davon abgesehen hat m.W. niemand das bisher ausprobieren können, ob es
bei massiver(!) Erhöhung der MitarbeiterInnen (und ohne Zeitdruck!)
nicht sogar in hierarchischen Systemen funktionieren könnte.

Well, meine persönliche Erfahrung ist jedenfalls, daß Hierarchie
Softwareentwicklung zerstört. JedeR halbwegs fähige
Software-EntwicklerIn wird nach meiner Erfahrung alles daran setzen,
zu zeigen, daß sie recht hatte - oder sich zurückziehen. Mag dieses in
anderen Teilen des Arbeitslebens ja auch nicht unübliche Verhalten
dort noch angehen (mit m.E. ebenfalls sichtbaren negativen
Konsequenzen), dann wirkt sich das auf den Prozeß der
Software-Entwicklung verheerend aus.

Das einzige Mittel, das das verhindern kann, ist die Schaffung eines
breiten Konsenses in einem Team - und dazu sind hierarchische Systeme
nun mal nicht geschaffen (auch wenn es in ihnen geht).

Selbst in der Gruppe, in der ich arbeite, sehe ich, wie Software
besser sein könnte, wenn nicht einzelne Mitarbeiter (nur Männer)
querschießen würden. Wie Workarounds um Mitarbeiter gebastelt
werden... Bei einem freiwilligen und schon deshalb notwendig
konsensorientierten Prozeß kann das nicht vorkommen.

Vielleicht scheint (...) ein utopisches Potential durch, doch bis
zu einem konkreten Modell, das dieses Potential demonstriert,
sind doch noch ein paar methodische, organisatorische und
ich glaube auch politische Probleme zu lösen.

Mehr sag? ich auch nicht. Die Probleme sind für mich eine
Aufforderung, sie anzugehen, und nicht der Grund, das Ganze
ad acta zu legen.

Heftigste Zustimmung :-) .

die jeweils nicht nur einer Stufe der Produktivkraftentfaltung
entsprechen sondern auch einen (die Machtverhältnisse
reflektierenden) Klassenkompromiß darstellen. Daß der
Toyotismus keine für die Arbeit besonders günstigen
Machverhältnisse reflektiert, dürfte sich schon herumgesprochen
haben.

Ja, auch zu mir - als Gewerkschaftbeschäftigter dringen manchmal
Informationen darüber zu mir durch...;-)

Dazu später noch ein paar Takte.

Wenn man auf das Entscheidende: die horizontale Integration
schaut, dann ist auch der Toyotismus fordistisch. Er ist sogar dessen
konsequente Weiterentwicklung,

Das ist doch kein Wunder, der kommt doch daher. Aber der
Toyotismus (als Begriff bei Dir wohl auch nur in phänographischer
Funktion) steht vor einer qualitativer Herausforderung: die
Nutzung der letzten Ressource, des Menschen in seiner Ganzheit.
Und das pakt er nicht, ist meine These.

Die das oben Gesagte illustrieren mag. Das ist mir wichtig,, weil ich
denke, daß die Software-Entwicklung im Produktionssektor eine gewisse
Avantagarde-Rolle spielt und wir deswegen nicht nur besonders genau
auf die dortigen Entwicklungen schauen müssen, sondern von dort auch
neue Entwicklungen sich Bahn brechen - siehe Gnu/Linux.

Wie Stefan Mz. denke ich, daß genau die letzte(?)
Produktivitätsreserve Kreativität in ganz vielen Bereichen immer mehr
gefragt sein wird. Das hängt mit dem zusammen, was Stefan Mz. früher
mal die Verwissenschaftlichung des Arbeitsprozesses genannt hätte.

Toyotismus steht für mich
(vielleicht ist das ein Unterschied zu anderen) _nicht_ für eine
fertige Epoche, sondern für einen Qualitätssprung, der ansteht,
aber kapitalismusimmanent nicht zu bewältigen ist (früher nannte
man diese Stelle `antagonistischen Widerspruch?).

Es gibt nach (so glaubte man damals) vielversprechenden Ansätzen
zu mehr Produzentensouveränität in den 80er

... bei Gewerkschaftens hoffte man auf eine `Humanisierung der Arbeit?

Jahren auch eine nicht zu unterschätzende Bewegung zurück zu
den alten Formen. Das Wort von der Retaylorisierung macht die
Runde. Vielen Unternehmen ist der Aufwand mit den neuen Formen
viel zu groß und der Erfolg zu ungewiß.

Ja: Sie kriegens schlicht und einfach nicht geregelt.

Hier ist aber auch zu bemerken, daß hier auch eine Menge Mist gebaut
wurde und teilweise auch Unmögliches versucht wurde. Ich kann mich
noch gut erinnern, wie vor dem Fall des japanischen Aktienmarkts
Anfang der 90er das "japanische Modell" durch die Managerkreise hypte.
Es war ja schon nicht mehr zum Aushalten.

Aber ich kann mich an einen sehr guten Vortrag in der Tele-Akademie
erinnern, der beschrieben hat, wie das reale japanische Modell sich
eben nicht auf europäische Verhältnisse übertragen läßt - bzw. wie es
scheitert, wenn es so hemdsärmelig versucht wird wie im Westen
geschehen.

Gut erinnere ich mich z.B. an den dort gezogenen Vergleich zwischen
japanischer und deutscher Diskussionskultur in den Betrieben: Die
JapanerInnen diskutieren lange - bis sie den Konsens auch tatsächlich
erreicht haben und dann die Umsetzung umso besser flutscht.

Unseren hierarchiegeprägten westlichen Managern, die gerade dem
Japan-Hype hinterherrennen, dauert eine solche Diskussion - die ja
auch schon oft neu war - viel zu lange. Nach einer Weile des
Zuschauens sagt der dann "So wird's gemacht" und der Konsens ist zum
Teufel. Im Endeffekt ist die Situation sogar schlimmer als vorher,
weil sich vielleicht schon ein Zipfel einer konsensfähigen Lösung
abzuzeichnen begann oder zumindest unausgegorene, aber interessante
Gedanken auf dem Tisch lagen. Und jetzt arbeiten erst recht alle gegen
die als Diktat empfundene Chef-Entscheidung. Auch da könnte ich
plastische Beispiele erzählen...

Man sollte sich einfach nicht durch die paar Glitzerbeispiele
blenden lassen, die kurzfristig irgendwelche Schreiber der
Managementpresse enthusiasmieren.

Richtig. Aber Fakt ist: Es gibt beides, die Nach-vorne-Dränger
(wobei Skepsis wirklich angebracht ist) und die Wieder-zurück-
Geher. Das ist in einer so widersprüchlichen gesellschaftlichen
Entwicklungssituation kein Wunder. Eine Umbruchssituation.

Was ich sagen will: Die westlichen Manager haben IMHO lediglich
versucht, mit dem weitgehend unverstandenen und ohne seine Vor- und
Nachbedingungen kaum vorstellbaren "japanischen Modell" die
Mehrwertabpressung zu erhöhen. Daß diese simple Sorte der Übertragung
nicht funktionieren *konnte* lag bei Licht betrachtet auf der Hand.
Allein die kulturell-ideologischen Voraussetzungen - als wichtigste
vielleicht das massive Denken in Konkurrenzkategorien - standen dem
massivst im Wege.

Was nicht heißt, daß das unter anderen Bedingungen wie in Japan besser
funktionieren kann!

Btw: die Produktivitätskurve in Stefan Meretz GNU/Linux-Aufsatz
liegt weit neben der Realität:

Aber die Wirkung im Vortrag war toll ;-) !

Dort wird sie nicht immer steiler
sondern flacht seit Jahrzehnten ab (trotz aller großartigen
Computerei, die doch angeblich so produktivitätstreibend sei).

Da würde ich aber einhaken wollen. In welchen Einheiten gemessen? In
Geld? Das wäre ja gerade kein Beweis, da ja die menschliche
Arbeitskraft als wertschaffende gerade rausgenommen wird - oder?


Den Teil zum Algorithmusbegriff lasse ich mal weg. Da teile ich Stefan
Mz.s Standpunkt.

So, jetzt kann ich mich fragen, weshalb ich das schreibe und
abschicke ;-)

Um einen interessanten Thread ins Leben zu rufen? Ist dir jedenfalls
gelungen.

Ich vermute: Dir war danach und es hat Dir Spaß gemacht!
Echt free floating theory!

Yep!


						Mit li(e)bertären Grüßen

						Stefan

PS: Immerhin kürzer als die beantwortete Mail ;-) .





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