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Re: "Flügel" (was: Re: Re [ox] "GPL-Gesellschaft" oder was?)



Hallo, Annette

On Son, 01 Okt 2000, Annette Schlemm wrote:
Ich hoffe nur, daß man die beiden Ansätze irgendwie miteinander verbinden
kann, und daß ich nicht am Ende der einzige hier in der Liste bin, der
die technischen Aspekte für das Wesentliche hält.

Was heißt das bei Dir "die technischen Aspekte für das Wesentliche
halten"???

Ich halte es für zunächst unwesentlich, ob ein Programm von Linus zum Spaß, 
von RMS aus Überzeugung oder von einem Angestellten der SuSE GmbH zum 
Broterwerb geschrieben wird. In allen drei Fällen entsteht Freie Software, 
die uns allen zugute kommt und uns einer Welt ein Stück näherbringt, in der 
wir alle zum Spaß oder aus Überzeugung irgendwelche Dinge tun und nicht mehr 
zum Broterwerb. 

Ist die Technik ein Selbstzweck? 

Technik ist unsere Lebensgrundlage. Halten wir die technische Entwicklung an, 
verbrauchen wir die Rohstoffe zuende und haben dann aber keine Technik mit 
der es anders weitergeht. Mit dem heutigen Wissensstand erhalten wir dann nie 
wieder eine Chance auf den heutigen Stand der Technik zurückzukommen. Eine 
Versorgung grosser Städte wäre plötzlich unmöglich. Das Chaos würde 
ausbrechen und die Menschheit wahrscheinlich aussterben.

Durch ein Zurückschrauben der Technik könnten wir diesen Effekt allerdings 
auch sofort haben, wenn wir wollen.

Bleibt noch die dritte Möglichkeit, eine rasante Entwicklung von Wissenschaft 
und Technik, die unser Überleben noch für viele tausend Jahre sicherstellt. 
Natürlich muß das Wissen über Funktionsweise und Benutzung zur 
Allgemeinbildung gehören, so wie heute Lesen, Schreiben, Rechnen. 

Sollte Selbstentfaltung nur Mittel zur
Entwicklung der technischen Aspekte sein?

Umgekehrt. Entwicklung der technischen Aspekte sollte nur Mittel zur 
Selbstentfaltung sein :o) ...und zum Überleben, aber das ist darin ja sicher 
eingeschlossen.

Meiner Ansicht nach ist der Wunsch nach Selbstentfaltung, also das machen
zu können, was einem Freude bereitet und was man für richtig hält,
gemeinsam mit anderen natürlich und nicht auf deren Kosten, im Menschen
mehr oder weniger hardcodiert, so daß die Selbstentfaltung quasi von
selbst auftritt, sobald die entsprechenden Rahmenbedingungen vorliegen.
Darunter verstehe ich z.B. Kommunikationsmittel wie das Internet, freies
Wissen, das Vorhandensein von Unmengen von Freizeit und die Abwesenheit
existenzieller Sorgen.

Hm, das ist: Schaffe zuerst menschliche Umstände und die Menschen werden
sich entfalten?

Ich hab nochmal über die Sache mit dem fest eingebauten Wunsch nach 
Selbstentfaltung nachgedacht. Irgendwo (aber wo genau, weiß ich nicht mehr) 
schreibst du ja selbst, daß der bei Kindern fest eingebaut sei. Allerdings 
wird er im Laufe ihrer Entwicklung gewöhnlich schrittweise deaktiviert. Bei 
Menschen, die so deaktiviert sind, daß sie in ihrer wenigen Freizeit nichts 
anderes mehr zustande bringen als den Fernseher einzuschalten, bringen 
natürlich auch menschliche Umstände nichts. Zumindest, nicht diese allein. Da 
muß man dann eben versuchen, den Wunsch nach Selbstentfaltung zu reaktivieren 
und bis das geschafft ist, falls überhaupt jemals, den Fernseher und die 
Kotzmaschinen weiterlaufen lassen, da es ansonsten Randale gibt. Auf alle 
Fälle sind menschliche Umstände eine wichtige Grundlage, die es zu schaffen 
gilt.

Oder zuerst die "neuen Menschen"?

Aaarrrgh! Was wür eine schreckliche Formulierung. Das klingt ja, als wolltest 
du die "alten Menschen" abschlachten. Die Menschen können die selben bleiben, 
lediglich ihr Selbstentfaltungsdrang muß, so weit es geht, reaktiviert werden.

Es muß beides parallel laufen.

ack

Ersteres haben wir ja im Sozialismus versucht. Wir dachten, mit
der Abschaffung kapitalistischer Eigentumsverhältnisse sei "das
Wesentliche" passiert. 

Armut und Obdachlosigkeit abzuschaffen ist nicht das einzige, was o.g. 
"menschliche Umstände" ausmacht. Zur Selbstentfaltung benötigt man ferner 
viel Freizeit und jede Menge technischen Krempel.

Diese neuen Bedingungen
- Volkseigentum... - wurden nicht mit einer neuen Lebens- und
Wirtschaftsweise gefüllt. Es war auch gar nicht Absicht und DAS war das
Problem.

ack

Das krasseste Bild dazu ist das eines Aussteigers, der
sich im Wald selbstentfaltet, indem er dort im Einklang mit der Natur
lebt

Ich dachte über diese GEGENüberstellung wären wir längst hinaus. Solche
Freaks, wie Du unten beschreibst, sind doch hier auf der Liste und im
Oekonux-Umfeld sowieso nicht. (Oder?)

Das war ein sehr überspitztes Beispiel. Bernd hat noch viel schönere 
druntergehängt. Meine hauptsächliche Befürchtung ist die, einige in der Liste 
könnten sich sagen: "Das Wesentliche an Gnu/Linux ist die Selbstentfaltung, 
also brauchen wir uns nur in allen Bereichen selbstzuentfalten, und alles 
wird schön." Das ist aber gerade nicht so. Fließbandarbeit ist stupide. Die 
will keiner machen. Daran kann man sich nicht entfalten. Solche Arbeiten 
sollte man versuchen zu automatisieren, damit sie gar keiner mehr machen muß. 
Anderes Beispiel: die oben geforderte rasante technische Entwicklung: Diese 
ist notwendig, und es ist völlig egal, wer entwickelt, hauptsache es kommen 
dabei z.B. Fahrzeuge heraus, die auch ohne Benzin noch fahren.  

Wenn alle Menschen sofort selbstbestimmt leben würden - würdest Du ihnen
das Recht absprechen, selber zu bestimmen, was sie unter technischem und
politischem Fortschritt verstehen?

Nein.

Wenn alle Menschen sofort selbstbestimmt leben würden - 

Das können sie aber nicht. Zumindest nicht völlig. In der Freizeit schon.

Ich sehe in der Technikentwicklung viel Potential, was ich auch vielen
Leuten, die Technik, gar die normale Produktionstechnik für viel zu
langweilig halten, auch immer wieder sage. Dadurch erscheine ich bei
denen schon fast als Technikfreak 

"Seht ihr das Mädchen da hinten? Ich sag euch, sie hat goldene Hände. Sie 
schleift die Zahnräder auf den Millimeter genau. Nicht so wie euer 
neumodisches CAD/CAM." ("Zwei schräge Vögel", DEFA 1989)

Aber eben ein nicht zu vernachlässigendes Mittel (weil ich auch nicht
mehr 40 Stunden und mehr in der Woche rackern will).

mehr Freizeit, weniger fremdbestimmte Verausgabung

Trotzdem ertappe ich mich, wenn ich  mich längere Zeit mit Technik
beschäftigt habe, auch selber immer mal wieder dabei, daß mir die
Menschen und ihr Selbstbestimmungsrecht aus den Formulierungen
wegrutschen.

Ist das nicht ein ganz anderes wichtiges Thema?

So sehr ich mich für Astronomie und Raumfahrt begeistere - für eine
nachkapitalistische Gesellschaft muß gelten, daß die Menschen selber
entscheiden, ob und wann sie wieviel ihrer Ressourcen und
Arbeitsleistungen für ein Raumfahrtprogramm investieren wollen. Es
sollte da kein Experten das Recht haben, ihnen vorzuschreiben, daß
"jetzt" die Zeit dafür sei und daß "die Technik" das erfordere...

Wenn manche Leute den Mars besiedeln wollen, aber noch nicht mal die Sahara 
grün kriegen, dann ist das schon seltsam. 

Also Selbstzweck sollte die Technik nicht sein, aber auch nicht strikt 
nützlich -- sonst würde ja nichts neues mehr erfunden...

(Ich weiß ja, daß die Leute das irgendwann für ihre eigene
Selbstentfaltung brauchen ;-D )

ack

Tschüß,
Thomas
 }:o{#

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http://www.oekonux.de/



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