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[ox] Macht des Faktischen (was: "GPL-Gesellschaft" oder was?)



Hi Listige,

ich bin ganz von den Socken, so spannend ist die Diskussion hier!
Warum? Ich glaube, es ist super wichtig, dass sich alle als
Individuen mit ihrer ganz persönlichen Sicht einbringen - getragen
vom "rough consensus". Das hat die simple Frage, wie denn das neue
Kind nun heissen soll, ausgelöst. Es geht also nicht mehr primär um
richtig oder falsch, um Mehrheiten machen, andere rüberziehen etc.
Sondern darum, die Subjektivität in einen gemeinsamen offenen
Prozess einzubringen. In diesen Sinne ist die individuelle
Selbstentfaltung nicht bloss fernes Ziel, sondern auch Mittel auf
dem Weg dahin.

Aber zum Thema. Hartmut schrieb, das Oekonux der Wille zur Macht
fehle.

Meine spontane Reaktion war: Geh mir weg mit dem alten Scheiss, ich
will die Macht gar nicht haben. Doch so einfach ist das nicht. Dann
erinnerte ich mich an Christoph, dem ich sowieso noch eine Antwort
schreiben wollte...

Also: hi Christoph!

Christoph Reuss schrieb:
<zynisch>
Naja, also z.B. ein CEO, Spekulant oder "Royal" würde aber doch die
*jetzige* Gesellschaft viel mehr als "Selbstentfaltungsgesellschaft"
bezeichnen, als die GPL-Gesellschaft.  In der letzteren könnte er
seine Profitgier etc. nämlich gar nicht ausleben/entfalten...
</zynisch>

Vor dieser Ambivalenz sollten wir auf keinen Fall kuschen!! Ja, es ist
so, dass das Kapital erkannt hat, dass die Selbstentfaltung des Menschen
die letzte _qualitative_ Ressource eines weiteren Schubes der
Produktivkraftentwicklung ist. Nur: WIR haben erkannt, dass
Selbstentfaltung und Kapitalverwertung in einem unauflösbaren
Widerspruch zueinander stehen, dass unbeschränkte Selbstentfaltung _nur_
unter wertfreien Bedingungen möglich ist.  [...]
Selbstentfaltung und Selbstverwertung sind Feuer und Wasser!

Auf "Arbeitnehmerseite" stimmt das natürlich.  Mein Punkt war aber,
dass auf der "Boss-Seite" (und diese beinhaltet nicht nur arbeitende
Bosse, sondern auch passive Profiteure) die Selbstentfaltung eben
gerade darin besteht, Profite und Macht anzuhäufen, was in der
GPL-Gesellschaft dann eben nicht mehr möglich ist.  *Deshalb* werden
die Bosse alles daran setzen, die GPL-Gesellschaft zu verhindern.
Diese Ambivalenz müssen wir also "lösen", um das Ziel zu erreichen.

Mit Macht? Ja, ich würde mal sagen: Mit der Macht des Faktischen.
Das stelle ich mir wie beim Übergang zum Kapitalismus vor: Die neue
Bürgerklasse hat sich nicht lange mit Streits mit den Feudalen
aufgehalten, sie hat einfach ihr Ding gemacht und schrittweise die
alte Gesellschaft von innen her zersetzt. Allgemeiner formuliert:
Sie hat das Neue nicht mit den Mitteln des Alten geschaffen, sondern
einfach neue Inhalte und Formen in die Welt gesetzt. Dabei stellten
sich immer wieder "Machtfragen", aber die Bürgerklasse hatte immer
mehr das Terrain der Auseinandersetzung definiert.

Es wäre also Mist, Macht im alten Sinne aufzubauen. Diese "Macht"
gibts nur in den alten Formen. Sie zu verwenden, heisst sie zu
reproduzieren. Was wir (weiter) machen müssen, ist, das Neue als
Faktisches in die Welt zu setzen. Dabei definieren WIR die Regeln,
und wer sich mit uns kabbeln will, muss sich auf _diese_ Regeln
einlassen. Das war das Geniale an Linus Torvalds: Er hat den alten
Scheiss ignoriert und neue Regeln in die Welt gesetzt, nicht nur als
Idee, sondern faktisch. Dass er das vermutlich nur ahnte und nicht
richtig wusste, tut der Genialität der Tat keine Abbruch (dafür sind
wir ja da;-).

Denk mal an Beamte (v.a. EU-Beamte), Juristen, Politiker, CEOs,
Industrielle, Millionenbauern, etc. -- deren "Selbstentfaltung"
geht *per Definition* auf Kosten Anderer.

Ok, das ist so. Und es ist bitter, dass wir das nicht per
Fingerschnipp ändern können. Doch die Bemühten, die in alten Formen
operieren, die werden es auch nicht ändern! Immer weniger! Eine
Struktur, in der Selbstentfaltung unbegrenzt ist, also nicht auf
Kosten anderer geht, können wir nur praktisch durchsetzen - oder gar
nicht. Und das geht eben nur in neuen Formen...

 A propos Definition:

Annette Schlemm schrieb:
------- Zitat aus Buch "Freie Menschen in freien Vereinbarungen -
                - Gegenbilder zur EXPO 2000 (S. 25) -------------------

"Selbstentfaltung" kann man fassen als individuelles Entwickeln und
Leben der eigenen Subjektivität, der eigenen Persönlichkeit.
Selbstentfaltung bedeutet die schrittweise und zunehmende Realisierung
menschlicher Möglichkeiten auf dem jeweils aktuell erreichten Niveau.
Selbstentfaltung ist also unbegrenzt
                       ^^^^
Dieses "also" kann ich logisch nicht nachvollziehen.  Nur weil etwas
schrittweise und zunehmend erfolgt, muss es noch lange nicht unbegrenzt
sein (auf diesem Planet erfolgt vieles schrittweise und zunehmend,
aber *nichts* ist unbegrenzt -- ausser vielleicht die Dummheit gewisser
Leute ;-}).

Das Zitat ist eine positive Definition - zunächst mal unabhängig von
realen Beschränkungen (die werden im genannten Text danch
ausführlichst erörtert!). Das "also" soll auf den
positiv-selbstbezüglichen Charakter verweisen: Wenn ich auf dem Wege
der Selbstentfaltung etwas erreicht habe, dann ist das Erreichte die
neue Voraussetzung für den nächsten Schritt. Dabei ist "das
Erreichte" nicht ein materielles Substrat, sondern der Stand meiner
Entfaltung, meiner Persönlichkeit (was mit materiellen Entäußerungen
einhergehen kann aber nicht muss). Nimm die Liste hier: Glaubst Du,
unsere kollektive individuelle Selbstentfaltung ist begrenzt? Wie
die Dummheit mancher Leute, so auch unsere kollektive Schlauheit!

Selbstentfaltung geht niemals auf
Kosten anderer, sondern setzt die Entfaltung der anderen notwendig
voraus, da sonst die eigene Selbstentfaltung begrenzt wird. Im Interesse
meiner Selbstentfaltung habe ich also ein unmittelbares Interesse an der
Selbstentfaltung der anderen.

Na, das hängt aber ganz von der Persönlichkeit derjenigen ab.  Für
OekonuxerInnen trifft diese Definition wohl zu, aber für die oben
genannten Typen gar nicht.

Ehrlich gesagt sind mir die oben genannten Typen ziemlich egal.

Es gibt aber auch eine sehr eingeschränkte Auffassung von
"Selbst-verwirklichung", die hier nicht gemeint ist. Es geht nicht
darum, eine persönliche "Anlage" oder "Neigung" in die Wirklichkeit zu
bringen, sie wirklich werden zu lassen. Diese Vorstellung
individualisiert und begrenzt die eigentlichen Möglichkeiten des
gesellschaftlichen Menschen: Wenn es "wirklich" geworden ist,
dann war's das.
  ^^^^^^^^^^^^^^
Schön wär's -- nein, Leute mit *dieser* Auffassung von "Selbst-
verwirklichung" können i.d.R. *nie* genug kriegen -- selbst "wenn
es 'wirklich' geworden ist" (Beispiel M$-Gates: Ziel "reichster
Mann der Welt" schon lange erreicht), dann "war's das" *noch nicht*
-- die pathologische Gier/"Spielsucht" geht immer weiter.

Das die Sachzwanglogik des aus "Geld-mehr-Geld-machen" müssens auch
auf die Personen durchschlägt, dass sie sich sozusagen mit ihrer
Rolle in der kybernetischen Selbstzweckmaschine identifizieren, ist
klar. Doch um die geht's nicht. Wir werden sie nicht aufhalten, weil
die Gates & Co nicht das Problem sind - das Problem ist der irre
Selbstzweck der idiotischen Geldvermehrung. Marx hat diese Knispel
deswegen "Charaktermasken" genannt, die nicht mehr seien als
"personifiziertes Kapital".

Das "dann war's das" ist kritisch gemeint gegen einen landläufig
benutzen Begriff von "Selbstverwirklichung". Aber das sollte aus dem
Restzitat deutich werden...

Eine individualisierte Auffassung von "Selbstverwirklichung"
reproduziert den ideologischen Schein eines Gegensatzes von Individuum
und Gesellschaft unter bürgerlichen Verhältnissen. Sie bedeutet im Kern
ein Abfinden mit und sich Einrichten in diesen beschissenen Bedingungen.

Auch nicht unbedingt so:  Neoliberale "Revolutionäre" finden sich gar
nicht mit diesen beschissenen Bedingungen ab -- sie gehen aktiv daran,
die Bedingungen *noch beschissener* zu machen!  (EU/WTO/WIPO/..)

Ja klar, aber nicht weil sie sich sagen: ach, ich hätte heute mal
Lust die Bedingungen noch beschissener zu machen. Ihr handeln in den
alten Formen KANN NICHT ANDERS SEIN. Deswegen ist es egal, ob diese
Neoliberalen grün oder rot angemalt sind...

Nur zur Klarheit: Ich bin nicht dagegen, wenn sich Menschen gegen
die Scheisse der Welt auflehnen - ganz im Gegenteil. Nur um was es
uns _hier_ doch geht, ist, etwas Neues aufzubauen, das Alte hinter
uns zu lassen. Und das Neue - daran müssen wir uns erstmal gewöhnen
- passt eben in keine der alten Formen. Um aber Neues und
Altes-im-Gewande des Neuen klar auseinanderhalten zu können, ist es
eminent wichtig, die Prinzipien des Neuen so klar es nur geht
herauszuarbeiten.

Wie oft ist mir das schon entgegengehalten worden: Du willst ja nur
das "postmoderne Flexi-Individuum". Ich antworte: Versuch das mal
ohne Geld zu denken und du wirst den Unterschied merken.

Ciao,
Stefan

-- 
  Gewerkschaft Handel, Banken und Versicherungen
  HA II, Abteilung Datenverarbeitung
  Kanzlerstr. 8, 40472 Duesseldorf
--
  stefan.meretz hbv.org
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