[ox] Interessanter Artikel
- From: Benni Baermann <benni cs.uni-frankfurt.de>
- Date: Fri, 27 Apr 2001 08:07:13 +0200
Hallo!
Ist zwar jetzt etwas sehr kurz vor der Konferenz, aber im Zweifel
kann man das ja auch noch hinterher lesen. In der Frankfurter
Rundschau von heute findet sich im Feuilleton ein sehr interessanter
Artikel von Slavoj Zizek, der in weiten Teilen sehr nach Ökonux
"riecht".
Gruesse, Benni
----------------------------schnipp----------------------------------
Wir sind alle arbeitslos
Unter neuen Bedingungen dem Alten treu bleiben: Wie Lenin einmal das
World Wide Web erfand
Von Slavoj Zizek
Heute, in Zeiten unablässigen raschen Wandels, von der "digitalen
Revolution" bis zum Rückzug alter sozialer Formen, sieht sich das
Denken immer stärker der Versuchung ausgesetzt, "die Nerven zu
verlieren" und vor der Zeit alte begriffliche Koordinaten aufzugeben.
Die Medien bombardieren uns ständig mit der Notwendigkeit, "alte
Paradigmen" zu verabschieden: Wenn wir überleben wollen, müssten wir
unsere fundamentalen Begriffe von persönlicher Identität,
Gesellschaft, Umwelt etc. ändern. New Age-Weisheiten verkünden, dass
wir in eine neue, "post-humane" Ära eintreten.
Auch die Psychoanalytiker verlieren die Nerven, legen ihre
theoretischen Waffen nieder und beeilen sich zu versichern, die
ödipale Matrix der Sozialisation sei nicht länger brauchbar; wir
lebten in Zeiten universaler Perversion, der Begriff der "Repression"
sei in der permissiven Gesellschaft nicht länger brauchbar. Das
postmoderne politische Denken erklärt uns, dass wir in
postindustriellen Gesellschaften leben, in denen alte Kategorien wie
Arbeit, Kollektivität oder Klasse theoretische Zombies seien, die sich
nicht länger auf die Dynamik der Modernisierung anwenden ließen.
Die Ideologie und politische Praxis des Dritten Wegs ist das Modell
dieser Niederlage, dieser Unfähigkeit zu begreifen, wie das Neue dazu
dient, das Alte überleben zu lassen. Entgegen dieser Versuchung sollte
man lieber dem unübertroffenen Modell von Pascal folgen und die Frage
stellen: Wie können wir dem Alten unter neuen Bedingungen treu
bleiben? Nur so können wir etwas wirklich Neues erreichen.
Eine der Ironien der jüngeren Geschichte liegt darin, dass es die alte
und halbvergessene Marxsche Dialektik von Produktivkräften und
Produktionsverhältnissen war, die den real existierenden Sozialismus
ins Grab brachte: Der Sozialismus war nicht in der Lage, den Übergang
von der industriellen zur postindustriellen Ökonomie auszuhalten. Aber
bietet der Kapitalismus wirklich den "natürlichen" Rahmen für die
Produktionsverhältnisse des digitalen Universums? Liegt nicht im World
Wide Web ein explosives Potenzial für den Kapitalismus selbst? Auch
wenn es gefährlich naiv erscheint, sollte man es doch riskieren,
Lenins Ideen vom Weg zum Sozialismus durch den Monopolkapitalismus
hindurch zu aktualisieren.
"Der Kapitalismus", schrieb Lenin, "hat einen enormen Apparat in
Gestalt von Banken, Syndikaten, Post, Verbrauchergesellschaften und
Angestelltengewerkschaften hervorgebracht. Ohne die großen Banken wäre
der Sozialismus unmöglich. Unsere Aufgabe ist es, lediglich
abzuhacken, was diesen Apparat kapitalistisch verstümmelt, ihn sogar
größer zu machen, demokratischer und umfassender. Das heißt,
landesweite Buchführung, landesweite Planung der Produktion und
Verteilung der Güter, das heißt so etwas wie das Skelett der
sozialistischen Gesellschaft." Gewiss ist es ein Kinderspiel, gegen
dieses Zitat das Lied von der "Kritik der instrumentellen Vernunft"
und von der "verwalteten Welt" auszuspielen. Die "totalitären"
Potenziale sind in diese Formen totaler sozialer Kontrolle
eingeschrieben. Wurde in der Stalin-Ära nicht der Apparat der sozialen
Verwaltung "sogar größer"? Aber sind die Dinge wirklich so
unzweideutig?
Was wäre, wenn man das offenkundig überholte Beispiel der Zentralbank
durch das World Wide Web ersetzte, den perfekten Kandidaten für den
"allgemeinen Intellekt" der Gegenwart? Dorothy Sayers behauptete,
Aristoteles' Poetik sei die Theorie des Detektivromans avant la lettre
- da der arme Aristoteles den Detektivroman noch nicht kannte, musste
er sich auf die einzig verfügbaren Beispiele beziehen, auf die
mittelmäßigen und langweiligen Tragödien. In ähnlicher Weise war Lenin
dabei, die Theorie von der Rolle des World Wide Web zu entwickeln,
doch da ihm das WWW unbekannt war, musste er auf diese unselige
Zentralbank zurückgreifen.
Kann man daher nicht sagen, dass der Sozialismus ohne das WWW
unmöglich sei, dass unsere Aufgabe lediglich darin besteht abzuhacken,
was diesen exzellenten Apparat kapitalistisch verstümmelt, dass man
ihn sogar größer, demokratischer und umfassender machen muss? Und ist
dann die Lektion des Microsoft-Monopols nicht eine leninistische? Wäre
es nicht "logischer", anstatt das Monopol durch den Staatsapparat zu
bekämpfen (erinnern wir uns an die von einem Gericht angeordnete
Teilung von Microsoft), es einfach zu sozialisieren, es frei
zugänglich zu machen? Der Schlüsselwiderspruch der so genannten neuen
(digitalen) Industrien ist doch folgender: Wie lässt sich die Form des
Privateigentums aufrechterhalten, in der allein die Logik des Profits
gelten kann (denken wir nur an das Napster-Problem)? Und deuten nicht
die juristischen Komplikationen im Feld der Biogenetik in dieselbe
Richtung?
Das zentrale Element der neuen internationalen Handelsabkommen ist
"der Schutz des geistigen Eigentums". Wann immer bei einer Fusion ein
Großkonzern der Ersten Welt einen Konzern der Dritten Welt übernimmt,
schließt man als Erstes die Forschungsabteilung. Hier tauchen
Phänomene auf, die den Begriff des Privateigentums in außerordentliche
dialektische Paradoxien stürzen: In Indien finden die Kommunen auf
einmal heraus, dass medizinische Praktiken und Materialien, derer man
sich seit Jahrhunderten bedient hat, nun amerikanischen Konzernen
gehören, so dass man sie von ihnen kaufen muss. Im Falle der
Biotechnik-Firmen, die sich Gene patentieren lassen, finden wir auf
einmal heraus, dass auf Teilen unserer selbst, auf unseren genetischen
Komponenten, bereits ein Copyright liegt.
Was das heißt? Es ist die dringende Aufgabe der ökonomischen Analyse
heute, Marx' "Kritik der politischen Ökonomie" zu wiederholen, ohne
der Versuchung der Ideologienvielfalt in den "postindustriellen"
Gesellschaften zu verfallen. Der entscheidende Wandel betrifft den
Status des Privateigentums. Das wichtigste Element von Macht und
Kontrolle ist nicht länger das letzte Glied in der Kette, die Firma
oder das Individuum, das die Produktionsmittel "wirklich besitzt". Der
ideale Kapitalist operiert heute ganz anders: Er investiert geliehenes
Geld und "besitzt wirklich" nichts, ist sogar verschuldet,
kontrolliert aber dennoch den Lauf der Dinge. Eine Firma gehört einer
anderen Firma, die wiederum Geld bei den Banken leiht, die ihrerseits
mit Geld jonglieren, das ganz gewöhnlichen Leuten wie uns gehört. Mit
Bill Gates wird das "Privateigentum an den Produktionsmitteln"
bedeutungslos, zumindest in der Grundbedeutung des Begriffs.
Das Paradox dieser Virtualisierung des Kapitalismus ist letztlich das
Gleiche wie beim Elektron in der Elementarteilchen-Physik. Die Masse
jedes einzelnen Elements setzt sich zusammen aus der Masse im
Ruhezustand plus jenem Mehr, das sich aus der Beschleunigung in seiner
Bewegung ergibt. Die Masse eines Elektrons im Ruhezustand jedoch ist
null, sie besteht also allein aus jenem genannten Surplus. Wir
beschäftigen uns mit einem Nichts, das allein dadurch eine täuschende
Substanz erhält, indem es sich auf magische Weise über sich selbst
hinaus bewegt. Operiert der Kapitalist von heute nicht auf ähnliche
Weise? Sein "Nettowert" beträgt null, er arbeitet direkt mit dem
Surplus und borgt von der Zukunft.
Allerdings ist keineswegs ausgemacht, wohin diese Krise des
Privateigentums an den Produktionsmitteln führen wird. Und genau an
dieser Stelle sollte man das ultimative Paradox der stalinistischen
Gesellschaft berücksichtigen. Im Vergleich zum Kapitalismus, der eine
Klassengesellschaft ist, aber im Prinzip egalitär und ohne direkte
hierarchische Teilungen, ist der "reife" Stalinismus eine klassenlose
Gesellschaft mit präzise definierten hierarchischen Gruppen (oberste
Nomenklatura, technische Intelligenz, Armee etc.). Vielleicht wird es
sich als die ultimative Ironie der Geschichte erweisen - ähnlich wie
Lenins Vision vom "Zentralbanksozialismus" angemessen nur retrospektiv
gelesen werden kann -, dass die Sowjetunion das erste Modell der
entwickelten "Nacheigentums-Gesellschaft" lieferte, des wahren
"Spätkapitalismus", in dem die herrschende Klasse durch den direkten
Zugang zu den (informationellen, administrativen) Mitteln sozialer
Macht und Kontrolle und zu anderen materiellen und sozialen
Privilegien definiert ist. Entscheidend ist es nicht mehr, Firmen zu
besitzen, sondern sie zu leiten, das Anrecht auf einen Privatjet zu
haben und auf beste medizinische Versorgung - Privilegien, die nicht
durch Eigentum erworben, sondern durch andere Mechanismen verteilt
werden.
Die problematische Alternative heutiger radikaler Theorie liegt
anderswo: Was tun angesichts der wachsenden Bedeutung der
"immateriellen Produktion"? Wollen wir daran festhalten, dass allein
jene, die in der "wirklichen" materiellen Produktion tätig sind, die
Arbeiterklasse bilden, oder vollziehen wir den folgenreichen Schritt
zu der Behauptung, dass die "symbolischen Arbeiter" heute die (wahren)
Proletarier darstellen? Man sollte diesem Schritt widerstehen, da er
die zentrale Rolle der Teilung zwischen immaterieller und materieller
Produktion verwischt, die Spaltung innerhalb der Arbeiterklasse
zwischen (in der Regel geografisch getrennten) Cyberarbeitern und
materiell Arbeitenden (Programmierer in den USA oder Indien, die Sweat
Shops in China oder Indonesien).
Vielleicht ist es die Figur des Arbeitslosen, die heute für den reinen
Proletarier steht. Die substanzielle Definition des Arbeitslosen
bleibt die eines Arbeiters, der daran gehindert ist, seine
Arbeitskraft zu aktualisieren. Vielleicht sind wir heute alle in
gewissem Sinne "arbeitslos". Jobs sind in immer größeren Maße
Teilzeitarbeit, so dass der Status der Arbeitslosigkeit die Regel
darstellt und der Teilzeitjob die Ausnahme.
Slavoj Zizek forscht zur Zeit am Kulturwissenschaftlichen Institut
Essen über die "Antinomien der postmodernen Vernunft". Peter Körte
übersetzte den Beitrag aus dem Englischen.
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Copyright © Frankfurter Rundschau 2001
Dokument erstellt am 26.04.2001 um 21:12:07 Uhr
Erscheinungsdatum 27.04.2001
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