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[ox] Interessanter Artikel



Hallo!

Ist zwar jetzt etwas sehr kurz vor der Konferenz, aber im Zweifel
kann man das ja auch noch hinterher lesen. In der Frankfurter
Rundschau von heute findet sich im Feuilleton ein sehr interessanter
Artikel von Slavoj Zizek, der in weiten Teilen sehr nach Ökonux
"riecht".

Gruesse, Benni

----------------------------schnipp----------------------------------

   Wir sind alle arbeitslos 
   
   Unter neuen Bedingungen dem Alten treu bleiben: Wie Lenin einmal das
   World Wide Web erfand 
   
   Von Slavoj Zizek 
   
   Heute, in Zeiten unablässigen raschen Wandels, von der "digitalen
   Revolution" bis zum Rückzug alter sozialer Formen, sieht sich das
   Denken immer stärker der Versuchung ausgesetzt, "die Nerven zu
   verlieren" und vor der Zeit alte begriffliche Koordinaten aufzugeben.
   Die Medien bombardieren uns ständig mit der Notwendigkeit, "alte
   Paradigmen" zu verabschieden: Wenn wir überleben wollen, müssten wir
   unsere fundamentalen Begriffe von persönlicher Identität,
   Gesellschaft, Umwelt etc. ändern. New Age-Weisheiten verkünden, dass
   wir in eine neue, "post-humane" Ära eintreten.
   
   Auch die Psychoanalytiker verlieren die Nerven, legen ihre
   theoretischen Waffen nieder und beeilen sich zu versichern, die
   ödipale Matrix der Sozialisation sei nicht länger brauchbar; wir
   lebten in Zeiten universaler Perversion, der Begriff der "Repression"
   sei in der permissiven Gesellschaft nicht länger brauchbar. Das
   postmoderne politische Denken erklärt uns, dass wir in
   postindustriellen Gesellschaften leben, in denen alte Kategorien wie
   Arbeit, Kollektivität oder Klasse theoretische Zombies seien, die sich
   nicht länger auf die Dynamik der Modernisierung anwenden ließen.
   
   Die Ideologie und politische Praxis des Dritten Wegs ist das Modell
   dieser Niederlage, dieser Unfähigkeit zu begreifen, wie das Neue dazu
   dient, das Alte überleben zu lassen. Entgegen dieser Versuchung sollte
   man lieber dem unübertroffenen Modell von Pascal folgen und die Frage
   stellen: Wie können wir dem Alten unter neuen Bedingungen treu
   bleiben? Nur so können wir etwas wirklich Neues erreichen.
   
   Eine der Ironien der jüngeren Geschichte liegt darin, dass es die alte
   und halbvergessene Marxsche Dialektik von Produktivkräften und
   Produktionsverhältnissen war, die den real existierenden Sozialismus
   ins Grab brachte: Der Sozialismus war nicht in der Lage, den Übergang
   von der industriellen zur postindustriellen Ökonomie auszuhalten. Aber
   bietet der Kapitalismus wirklich den "natürlichen" Rahmen für die
   Produktionsverhältnisse des digitalen Universums? Liegt nicht im World
   Wide Web ein explosives Potenzial für den Kapitalismus selbst? Auch
   wenn es gefährlich naiv erscheint, sollte man es doch riskieren,
   Lenins Ideen vom Weg zum Sozialismus durch den Monopolkapitalismus
   hindurch zu aktualisieren.
   
   "Der Kapitalismus", schrieb Lenin, "hat einen enormen Apparat in
   Gestalt von Banken, Syndikaten, Post, Verbrauchergesellschaften und
   Angestelltengewerkschaften hervorgebracht. Ohne die großen Banken wäre
   der Sozialismus unmöglich. Unsere Aufgabe ist es, lediglich
   abzuhacken, was diesen Apparat kapitalistisch verstümmelt, ihn sogar
   größer zu machen, demokratischer und umfassender. Das heißt,
   landesweite Buchführung, landesweite Planung der Produktion und
   Verteilung der Güter, das heißt so etwas wie das Skelett der
   sozialistischen Gesellschaft." Gewiss ist es ein Kinderspiel, gegen
   dieses Zitat das Lied von der "Kritik der instrumentellen Vernunft"
   und von der "verwalteten Welt" auszuspielen. Die "totalitären"
   Potenziale sind in diese Formen totaler sozialer Kontrolle
   eingeschrieben. Wurde in der Stalin-Ära nicht der Apparat der sozialen
   Verwaltung "sogar größer"? Aber sind die Dinge wirklich so
   unzweideutig?
   
   Was wäre, wenn man das offenkundig überholte Beispiel der Zentralbank
   durch das World Wide Web ersetzte, den perfekten Kandidaten für den
   "allgemeinen Intellekt" der Gegenwart? Dorothy Sayers behauptete,
   Aristoteles' Poetik sei die Theorie des Detektivromans avant la lettre
   - da der arme Aristoteles den Detektivroman noch nicht kannte, musste
   er sich auf die einzig verfügbaren Beispiele beziehen, auf die
   mittelmäßigen und langweiligen Tragödien. In ähnlicher Weise war Lenin
   dabei, die Theorie von der Rolle des World Wide Web zu entwickeln,
   doch da ihm das WWW unbekannt war, musste er auf diese unselige
   Zentralbank zurückgreifen.
   
   Kann man daher nicht sagen, dass der Sozialismus ohne das WWW
   unmöglich sei, dass unsere Aufgabe lediglich darin besteht abzuhacken,
   was diesen exzellenten Apparat kapitalistisch verstümmelt, dass man
   ihn sogar größer, demokratischer und umfassender machen muss? Und ist
   dann die Lektion des Microsoft-Monopols nicht eine leninistische? Wäre
   es nicht "logischer", anstatt das Monopol durch den Staatsapparat zu
   bekämpfen (erinnern wir uns an die von einem Gericht angeordnete
   Teilung von Microsoft), es einfach zu sozialisieren, es frei
   zugänglich zu machen? Der Schlüsselwiderspruch der so genannten neuen
   (digitalen) Industrien ist doch folgender: Wie lässt sich die Form des
   Privateigentums aufrechterhalten, in der allein die Logik des Profits
   gelten kann (denken wir nur an das Napster-Problem)? Und deuten nicht
   die juristischen Komplikationen im Feld der Biogenetik in dieselbe
   Richtung?
   
   Das zentrale Element der neuen internationalen Handelsabkommen ist
   "der Schutz des geistigen Eigentums". Wann immer bei einer Fusion ein
   Großkonzern der Ersten Welt einen Konzern der Dritten Welt übernimmt,
   schließt man als Erstes die Forschungsabteilung. Hier tauchen
   Phänomene auf, die den Begriff des Privateigentums in außerordentliche
   dialektische Paradoxien stürzen: In Indien finden die Kommunen auf
   einmal heraus, dass medizinische Praktiken und Materialien, derer man
   sich seit Jahrhunderten bedient hat, nun amerikanischen Konzernen
   gehören, so dass man sie von ihnen kaufen muss. Im Falle der
   Biotechnik-Firmen, die sich Gene patentieren lassen, finden wir auf
   einmal heraus, dass auf Teilen unserer selbst, auf unseren genetischen
   Komponenten, bereits ein Copyright liegt.
   
   Was das heißt? Es ist die dringende Aufgabe der ökonomischen Analyse
   heute, Marx' "Kritik der politischen Ökonomie" zu wiederholen, ohne
   der Versuchung der Ideologienvielfalt in den "postindustriellen"
   Gesellschaften zu verfallen. Der entscheidende Wandel betrifft den
   Status des Privateigentums. Das wichtigste Element von Macht und
   Kontrolle ist nicht länger das letzte Glied in der Kette, die Firma
   oder das Individuum, das die Produktionsmittel "wirklich besitzt". Der
   ideale Kapitalist operiert heute ganz anders: Er investiert geliehenes
   Geld und "besitzt wirklich" nichts, ist sogar verschuldet,
   kontrolliert aber dennoch den Lauf der Dinge. Eine Firma gehört einer
   anderen Firma, die wiederum Geld bei den Banken leiht, die ihrerseits
   mit Geld jonglieren, das ganz gewöhnlichen Leuten wie uns gehört. Mit
   Bill Gates wird das "Privateigentum an den Produktionsmitteln"
   bedeutungslos, zumindest in der Grundbedeutung des Begriffs.
   
   Das Paradox dieser Virtualisierung des Kapitalismus ist letztlich das
   Gleiche wie beim Elektron in der Elementarteilchen-Physik. Die Masse
   jedes einzelnen Elements setzt sich zusammen aus der Masse im
   Ruhezustand plus jenem Mehr, das sich aus der Beschleunigung in seiner
   Bewegung ergibt. Die Masse eines Elektrons im Ruhezustand jedoch ist
   null, sie besteht also allein aus jenem genannten Surplus. Wir
   beschäftigen uns mit einem Nichts, das allein dadurch eine täuschende
   Substanz erhält, indem es sich auf magische Weise über sich selbst
   hinaus bewegt. Operiert der Kapitalist von heute nicht auf ähnliche
   Weise? Sein "Nettowert" beträgt null, er arbeitet direkt mit dem
   Surplus und borgt von der Zukunft.
   
   Allerdings ist keineswegs ausgemacht, wohin diese Krise des
   Privateigentums an den Produktionsmitteln führen wird. Und genau an
   dieser Stelle sollte man das ultimative Paradox der stalinistischen
   Gesellschaft berücksichtigen. Im Vergleich zum Kapitalismus, der eine
   Klassengesellschaft ist, aber im Prinzip egalitär und ohne direkte
   hierarchische Teilungen, ist der "reife" Stalinismus eine klassenlose
   Gesellschaft mit präzise definierten hierarchischen Gruppen (oberste
   Nomenklatura, technische Intelligenz, Armee etc.). Vielleicht wird es
   sich als die ultimative Ironie der Geschichte erweisen - ähnlich wie
   Lenins Vision vom "Zentralbanksozialismus" angemessen nur retrospektiv
   gelesen werden kann -, dass die Sowjetunion das erste Modell der
   entwickelten "Nacheigentums-Gesellschaft" lieferte, des wahren
   "Spätkapitalismus", in dem die herrschende Klasse durch den direkten
   Zugang zu den (informationellen, administrativen) Mitteln sozialer
   Macht und Kontrolle und zu anderen materiellen und sozialen
   Privilegien definiert ist. Entscheidend ist es nicht mehr, Firmen zu
   besitzen, sondern sie zu leiten, das Anrecht auf einen Privatjet zu
   haben und auf beste medizinische Versorgung - Privilegien, die nicht
   durch Eigentum erworben, sondern durch andere Mechanismen verteilt
   werden.
   
   Die problematische Alternative heutiger radikaler Theorie liegt
   anderswo: Was tun angesichts der wachsenden Bedeutung der
   "immateriellen Produktion"? Wollen wir daran festhalten, dass allein
   jene, die in der "wirklichen" materiellen Produktion tätig sind, die
   Arbeiterklasse bilden, oder vollziehen wir den folgenreichen Schritt
   zu der Behauptung, dass die "symbolischen Arbeiter" heute die (wahren)
   Proletarier darstellen? Man sollte diesem Schritt widerstehen, da er
   die zentrale Rolle der Teilung zwischen immaterieller und materieller
   Produktion verwischt, die Spaltung innerhalb der Arbeiterklasse
   zwischen (in der Regel geografisch getrennten) Cyberarbeitern und
   materiell Arbeitenden (Programmierer in den USA oder Indien, die Sweat
   Shops in China oder Indonesien).
   
   Vielleicht ist es die Figur des Arbeitslosen, die heute für den reinen
   Proletarier steht. Die substanzielle Definition des Arbeitslosen
   bleibt die eines Arbeiters, der daran gehindert ist, seine
   Arbeitskraft zu aktualisieren. Vielleicht sind wir heute alle in
   gewissem Sinne "arbeitslos". Jobs sind in immer größeren Maße
   Teilzeitarbeit, so dass der Status der Arbeitslosigkeit die Regel
   darstellt und der Teilzeitjob die Ausnahme.
   
   Slavoj Zizek forscht zur Zeit am Kulturwissenschaftlichen Institut
   Essen über die "Antinomien der postmodernen Vernunft". Peter Körte
   übersetzte den Beitrag aus dem Englischen.
   
   
   [ document info ]
   Copyright © Frankfurter Rundschau 2001
   Dokument erstellt am 26.04.2001 um 21:12:07 Uhr
   Erscheinungsdatum 27.04.2001
   

________________________________
Web-Site: http://www.oekonux.de/
Organisation: projekt oekonux.de


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