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[ox] Selbstausbeutung und Selbstentfaltung



Liebe Liste!

Anbei findet ihr ein paar Gedanken, die StefanMz und ich uns zum Thema
im Subject gemacht haben - mehr so zufällig eigentlich. Da wir das
Ergebnis recht interessant finden, wollen wir es euch nicht
vorenthalten.

------- Forwarded Message

Date:  Sat, 14 Apr 2001 14:35:23 [PHONE NUMBER REMOVED]
From:  Stefan Meretz <stefan.meretz hbv.org>
Subject:  Re: Selbstausbeutung und Selbstentfaltung
To:  Stefan Merten <smerten oekonux.de>
Cc:  KXX4493553 aol.com, annette.schlemm t-online.de
References:  <200104132015.WAA24890 rosalu.dialup.nacamar.de>
Message-Id:  <3AD8440B.D563B41B hbv.org>

Hi ihr,

angeregt durch deinen Beitrag, Stefan, meine Gedanken dazu:

Stefan Merten schrieb:
Sag mal deinen potentiellen Selbstausbeutern von der
nächsten Generation, dass selbst ein 16-Stunden-Tag oder so an seine Grenzen
stößt. Die machen das ja noch mit "Freude", weil die das für
Selbstverwirklichung halten oder so.

Ich denke, du sprichst da einen nicht ganz uninteressanten Punkt auf:
Selbstausbeutung vs. Selbstentfaltung. Das ist - im Kapitalismus -
sicher nicht so einfach dieses Verhältnis.

(Selbst-)Ausbeutung halte ich für einen zwar nicht falschen, aber
ungeeigneten Begriff. Er bewegt sich in der Distributionssphäre,
zielt auf Kritik der (ungerechten) Verteilung etc. - ihr kennt das.
Deswegen verwende ich lieber den Begriff der (Selbst-)Verwertung.
Ich nehme also mal eine gedankliche Ersetzung von Ausbeutung durch
Verwertung vor:

Selbstentfaltung hat für mich vor allem etwas mit der je eigenen
Person zu tun. Potentiale, die in der Person liegen, werden entfaltet
und zwar von der Person selbst nach freier Entscheidung.

Hier betone ich meist, dass es nicht bloß um die Entfaltung
irgendwie vorhandener (wo kommen die her?) Potenziale geht, sondern
um die gleichzeitig Schaffung neuer Potenziale mit und in der
Entfaltung. Entfaltung ist also als unabgeschlossener Prozess zu
denken. Die begrenzte Umsetzung einer individuellen Potenz verbinde
ich mit dem Begriff der (Selbst-)Verwirklichung. Mir geht's dabei
nicht um die Worte, sondern um folgende Sache: Eine
Selbstverwirklichung ist durchaus unter Verwertungsbedingungen (also
als Selbstverwertung) denkbar, und sie passiert ja auch real!
Selbstentfaltung als Einheit von individueller Potenzialrealisierung
und -schaffung hingegen ist an Ungrenztheit und Freiheit von äußeren
Zwängen gebunden.

Selbstausbeutung, hmm... schon schwieriger. Ausbeutung eines
Bodenschatzes ist ja auch ein Verhältnis zwischen AusbeuterIn und
einem Ding. Vielleicht so: Bei Ausbeutung klingt deutlich ein der
Person äußerliches Interesse mit.

Da in der Tat "äußerlich", würde ich es Zwang nennen.

Selbstausbeutung ist damit natürlich ein besonders schillernder
Begriff, weil die Person danach zu sich selbst in ein dingliches
Verhältnis tritt.

Bingo, sehr gut! Zu fragen wäre allerdings, ob dies nicht bei der
"normalen" Verwertung (Ausbeutung) auch der Fall ist, oder anders
gefragt: Was ist die besondere Qualität der _Selbst_verwertung?

Aber ich glaube das ist genau das, was für uns alle
das Paradoxon dabei ist. Allerdings spricht mensch bei Selbständigen
oder auch Lohnabhängigen doch nur dann von Selbstausbeutung, wenn sie
sich gerade den A... aufreißen für irgendwas, wenn sie sich also
besonders anstrengen und eine kurz-, mittel- oder langfristige
Schädigung zu erwarten ist.

Das ist umgangssprachlich so. Was sich darin ausdrückt, ist das
widersprüchliche Verhältnis von grundsätzlicher Akzeptanz der
Verwertung und ihrer Kritik, die darin besteht, die Verwertung
(Ausbeutung) "nicht zu weit" zu treiben, also nicht freiwillig ein
Mehr davon zu übernehmen, was einem normal als Zwang entgegentritt.
Das stammt aus der guten alten fordistischen Zeit mit
Klassenidentität: Der Zwang des Kapitals wird nur "eben so"
umgesetzt. Das gilt heute nicht mehr: heute musst Du freiwillig und
begeistert das tun, was der äußere Zwang als Vorgabe setzt. Mit
anderen Worten: Motivation wird permanent simuliert (denn Zwänge
kann man nicht motiviert ausführen).

Aber würdest du bei einem hochproduktiven Künstler - nimm Picasso -
von Selbstausbeutung reden? Wohl eher nicht. Da ist es dann
Selbstentfaltung. Extreme Selbstentfaltung kann auch schaden - aber
das ist nicht (so) negativ besetzt wie beim dinglichen Verhältnis der
Ausbeutung.

Wieso kann extreme Selbstentfaltung schaden? Was ist überhaupt
extreme Selbstentfaltung - das klingt für mich wie ein Pleonasmus.
Selbstentfaltung ist immer "extrem", wenn Du so willst. Hier kommt
ein zweiter wichtiger Aspekt ins Spiel der IMO für Selbstentfaltung
konstitutiv ist: Die eigene Selbstentfaltung setzt die Entfaltung
der anderen voraus. Entfaltung auf Kosten anderer ("Verwirklichung")
schafft genau die Begrenzungen, entzieht mir die Freiheit, die (je)
ich brauche, um mich zu entfalten - im Sinne der o.g. Einheit von
Realisierung und (Neu-)Schaffung meiner Potenziale.

Nun, die Quintessenz dieser etwas taumelnden Überlegungen? Ich denke,
daß das Verhältnis von Selbstentfaltung und Selbstausbeutung ein nicht
einfaches ist, solange Selbstausbeutung noch möglich ist - d.h.
solange Menschen noch die Möglichkeit haben sich für ihnen eigentlich
äußerlichen Zielen den A... aufzureißen.

...solange es eben das Schwanken zwischen ungrenzter Entfaltung und
selbstbegrenzender "Verwirklichung" gibt.

Menschen, die sich in der Lohnarbeit den A... aufreißen, dies aber vor
allem aus inneren Zielen tun, sind eben nicht einfach vergleichbar mit
denen, die das für Geld tun. Es gibt einen wichtigen Unterschied
zwischen einerseits der BandarbeiterIn, die Überstunden kloppt, weil
sie die Zulage braucht, oder auch der Selbständigen, die den Auftrag
schaffen muß, und andererseits der ProgrammiererIn, die das Programm
noch fertig kriegen will, weil sie Bock drauf hat, oder eben auch der
Selbständigen, die aus Spaß bis in die Nacht in ihrer Firma arbeitet.
Ist vielleicht schwer zu denken, für jemenschen, für den jede
Fingerregung entweder Geld bringt oder Geld kostet...

Ganz wichtig! Entfaltung ist nichts, was erst im Jenseits anfängt,
sondern ist als Möglichkeit immer wieder spürbar. Umso wichtiger
ist, davon einen Begriff zu haben, sondern kippen in den
nahegelegten allgegenwärtigen Formen die Ansätze immer wieder
selbstschränkend um - und das ist nunmal die Regel.

Well, da ist ja doch noch was draus geworden. Fein.

Yep - fein!

Ciao,
Stefan

P.S. An diesen Gedanken sollten wir vielleicht andere teilhaben
lassen?

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