Re: Ideologie und so (was: [ox] Presseecho der Konferenz)
- From: Benni Baermann <benni cs.uni-frankfurt.de>
- Date: Thu, 3 May 2001 09:53:57 +0200
On Wed, May 02, 2001 at 05:28:49PM [PHONE NUMBER REMOVED], Dirk Herrmann wrote:
Gegenfrage: Lässt sich die Lehre von Marx, so wie es bei einigen
interpretiert wurde, ohne Weiteres auf die heutige Zeit übertragen ?
Siehe dazu meine andere Mail.
Vielleicht solltest Du einfach mal Deine Scheuklappen ablegen?
Das kann durchaus sein, aber meine Scheuklappen lassen sich wenigstens
mit einer existierenden Wissenschaft nicht nur plausibel erklären,
sondern auch noch fundieren.
Naja, ich nehme mal an Du sprichst von der Volkswirtschaft. Ich
denke viele hier halten diese für ein Extrembeispiel von
Scheuklappenwissenschaft.
Da hast Du mich falsch verstanden. Genau hier erfolgt die Trennung
zwischen Bedürfnis und Bedarf.
Was soll das sein. Ein Bedarf ohne Bedürfnis? Natürlich gibt es so
etwas wie Bedürfnisse, die jetzt keiner so direkt selber hat, die
aber dennoch der Gesellschaft als Ganzes zu Gute kommen. Die
Geschichte der freien Software ist ja aber doch gerade eine
Aneinanderreihung von Lösungen zu solchen Problemen. Der Anfang
liegt meistens in einem persönlichen Bedürfnis aber dann werden die
Projekte ja eigentlich immer über diesen Punkt hinaus entwickelt.
Jedes einzelne FS-Projekt ist schliesslich für mehr als eine Person
interessant.
Die Community entwickelt schnell,
effizient und qualitativ hochwertig all jene Dinge, die aus einem
Bedürfnis der Anwender heraus erwachsen, allerdings dürften es nur wenige
Entwickler sein, die einen solchen Patch als Bedürfnis empfinden, da es
wohl über den ?normalen? Anwendungsbereich etwas hinaus geht. Allerdings
war dies die Grundvoraussetzung dafür, dass Linux auch auf
Industrie-Rechner einsetzbar ist, sich zum Beispiel auf eine S/390
portieren lässt.
Tja, also mir z.B. geht das am Arsch vorbei einfach weil ich keinen
Zugriff auf einen solchen Rechner habe. Sollte ich ihn haben, wäre
das sicherlich ein interessantes Projekt. So einfach läuft das und
es funktioniert ja auch.
Der Community diente das nur indirekt, denn davon hatte
diese keinen praktischen Nutzwert, allerdings konnte dadurch der weiteren
Verbreitung von Linux u.a. auf dem _Server-Markt_ merklich Nachschub
verliehen werden.
Ja und? Was hab ich davon? Zugegeben irgenwie war dieser Hype auch
für mich "cool". Es ist irgendwie nett wenn einen die Leute nicht
mehr völlig verständnislos angucken wenn man ihnen was von Linux
erzählt, aber mit meinen IT_Bedürfnissen hat das nicht direkt was zu
tun.
Interessant finde ich übrigens auch die Beobachtung, dass die
Millionen die durch den Hype in Richtung Linux umgeleitet wurden
meiner Wahrnehmung nach die Entwicklung nicht wirklich beschleunigt
haben. Das lief in den Vor-Hype-Zeiten genauso gut wie heute.
Vielleicht ist das eines der besten Indizien dafür, dass vielleicht
doch was "Wertloses" an FS ist.
Zu Deiner Zwischenfrage: Seit nun mehr nur 2 Jahren,
Also genau seit der Hochzeit des Hypes. Linux ist jedoch schon fast
10 Jahre alt. In IT-Begriffen also schon ein Oldie.
Meine Aufgabe sah bzw. sehe ich darin, das
Bindeglied zu sein zwischen dem IT-Sektrum und dem politischen Spektrum
der Community einerseist, dem ökonomischen Spektrum andererseits.
Allerdings kamen mir bei der Konferenz Zweifel auf, ob der Brückenschlag
mit der politischen, ideologischen und zum Teil doch etwas phantastischen
Sphäre überhaupt gelingen kann.
Zu Recht. Wie gesagt sind da ziemlich tiefe Gräben in unserem Blick
auf die Welt.
oder aber die Frage, worauf denn der Wohlstand der
Bundesrepublik Deutschland basiert.
Ehrlich gesagt ist das für mich eine völlig uninteressante Frage. Das
Überleben der Menschheit und meine konkreten Bedürfnisse und
Lebensbedingungen sind mir wichtig. Phantasiegebilde wie "die
Bundesrepublik Deutschland" interessieren mich nicht - zumindestens
nicht strategisch, höchstens taktisch.
Das sehe ich anders. Denn IMHO ist der Wohlstand, denn die
Industrienationen dieser Erde basierend auf dem System des Kapitalismus
aufgebaut haben, eine der wesentlichen Voraussetzungen für das Entstehen
Freier Software. Ich habe mal versucht herauszufinden, wie viel Prozent
der Community aus welchen Staaten der Erde heraus agiert; und obwohl mir
dies nicht gelang, wirst Du mir sicherlich zustimmen, dass ca. 80-90 %
aus Industrienationen stammen,und da wiederum das Vorhandensein einer
alternativen Beschäftigung zur Befriedigung ihrer Grundbedürfnisse eine
essentielle Voraussetzung ist, um in ihrer _Freizeit_ sich der
Entwicklung von OSS zu widmen.
Da hast Du zumindestens teilweise durchaus recht und das ist ja
durchaus auch eine der Kritiken an den euphorischeren Vertretern
hier auf der Liste. Nur sagst Du ja selbst, man muss den
Kapitalismus als Vorraussetzung akzeptieren. Oder überspitzt
formuliert: Ohne Kapitalismus wäre die FS nicht entstanden aber wir
würden sie vielleicht auch nicht vermissen.
Oder andersrum: Der Kapitalismus ist ein System das sehr effizient
Probleme löst, die man ohne ihn nicht hätte (gilt übrigens auch für
Computer). Hm... da gewinnt der Begriff von der "kybernetischen
Maschiene" ja gerade einen ganz neuen Aspekt für mich ;-)
Ich sehe den Kapitalismus nicht als die
idealste Form der Gesellschaft, aber dennoch als stabiles und
funktionierendes System der heutigen Zeit und im Wesentlichen auch als
existierende Rahmenbedingung,die nicht einfach wegdiskutiert oder
vernachlässigt werden kann.
Sorry, das kann ich angesichts von ganzen Kontinenten, die nur noch
als überflüßige Bevölkerung dahinvegitieren nur noch zynisch nennen.
Wenn sowas stabil ist zeigt das nur wie massiv die
Herrschaftsinstrumente sein müssen, die den Kapitalismus am Leben
halten.
Ich messe Realität am Vorhandensein durchdachter Modelle, die über eine
blosse Idee hinausgehen. Ich messe Realität an Zahlen, Daten und Fakten,
und nicht an verbalen Formulierungen.
Erklär mir mal was an "Zahlen, Daten und Fakten" realer sein soll
als an "verbalen Formulierungen". Letzten Endes sind "Zahlen, Daten
und Fakten" schliesslich auch nur "verbale Formulierungen".
... Ohje, jetzt hab ich mich als Postmoderner geoutet ;-)
Grüße, Benni
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