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Re: [ox] notizen zur keimform



Hi Lorenz,

ich greife deine Ausgangsthesen auf (die Debatte der Liste ist schon
fortgeschritten):

Glatz schrieb:
3.
das unterschlägt aber die von Stefan Mz. sonst betonte wesentliche differenz
eines offenen gesellschaftlichen vorgangs zu einem determiniert biologischen
prozess. vielleicht kommt das daher, dass der begriff aus dem historischen
materialismus zu stammen scheint, nach dem ja der kapitalismus trotz aller
greuel die historische mission hat, die vorbedingungen einer Freien
Gesellschaft zu schaffen, die sich aus der alten "entwickeln" lässt. Marx
selbst spricht ja in diesem zusammenhang von naturgeschichte der menschheit.

Diese historische Herkunft macht mir zu schaffen, da ein
entsprechendes Vorverständnis immer dazu führt, gesellschaftlichen
Prozessen Naturcharakter zuzuschreiben. Gesellschaftliche Prozesse
lassen sich jedoch nicht "naturgesetzlich", sondern nur
"gesellschaftsgesetzlich" fassen. Umstritten ist, ob es eine
"Eigengesetzlichkeit" (oder harmloser: eigene Logik)
gesellschaftlicher Entwicklung gibt. Ich meine: ja.

dieser meinung bin ich nicht (mehr), sondern stimme dem von Norbert T. auf
der konferenz referierten gedanken zu, dass die produktivkraftentwicklung
als entscheidende determinante der gesellschaftlichen entwicklung nur für
die vom wert beherrschte gesellschaft gilt, aber nicht exprapoliert werden
darf (so jedenfalls hab ichs verstanden).

Das genau sehe ich nicht so. IMHO liegt das an der verengten
Vorstellung von PKE als "Produktivitätsentwicklung" resp. noch enger
"Technikentwicklung". Diese (ver)dingliche(nde) Sicht hat mich doch
bei Norbert arg verwundert, wo Krisis sozusagen
"Dinglichkeitskritik" par excellance betreiben. Das was sie an der
Wertvergesellschaftung kritisieren
(Fetischismus/Verdinglichung/Ontologisierung) heben sie genau an
dieser Stelle unhinterfragt in die Theorie. In diesem dinglichen
PKE-Begriff sind sie übrigens völlig einig mit dem Altmarxismus -
der Unterschied ist "nur", dass der Altmarxismus den dinglichen
PKE-Begriff naturgesetzlich (also überhistorisch) fasst, während
Norbert die begrenzte Geltung für den Kapitalismus betont.

So wie ich das versuche zu denken, liegt es sozusagen quer zu
alledem: PKE als Verhältnisbegriff, PKE als "Inhaltsseite" und
Vergesellschaftsform als "Formseite" gesellschaftlich-historischer
Entwicklung. "Alt" ist darin nurmehr mein Festhalten am historischen
Materialismus - Naturgesetzlichkeit, Determinismus, historische
Mission usw. sind da aber raus.

5.
freie selbstentfaltung ist kein letztlich uneingelöstes versprechen der
produktivkraftentwicklung in der wertgesellschaftlichen form (wie ich Stefan
Mz. [miss?]verstanden habe). sie ist eine zielvorgabe, die mit der logik des
werts nichts zu tun hat. Sie ist ein von menschen empfundenes bedürfnis, das
(seit langem) in widerspruch zu den gesellschaftlichen verhältnissen steht.
wenn das von diesen menschen so gesehen wird, können sie sich dazu stellen
(bewusst anpassen, ausweichen, konfrontieren, einen mix daraus).

Deine sehr freundliche Formulierung mit deutlicher inhaltlicher
Kritik berührt einen Kern, den wir nicht "mal eben" diskutiert
bekommen, geschweige denn aus-. Das Abgehen vom historischen
Materialismus - also das Abgehen vom Begreifen geschichtlicher
Prozesse als Resultat wirklicher (materieller) Entwicklungen als
Bewegung in Widersprüchen - kippt in meiner Sicht das Kind mit dem
Bade aus. Das kann nur daher kommen, dass auch die KritikerInnen den
Kurzschluss "historischer Materialismus = Determinismus" mitmachen.
Übrig bleibt dann - wie Du auch schreibst - nur noch das Wollen, die
Ideen und die Wünsche der Menschen. Geschichte als Ideengeschichte,
eine idealistische Geschichtsauffassung, teile ich nicht (das i-Wort
ist kein Verdikt).

Freie Selbstentfaltung ist nicht bloß eine nette Idee, sondern auch
Ergebnis eines widersprüchlichen Entwicklungsprozesses der
Wertgesellschaft selbst. Dass diese Tendenz "in die Form" genommen
wird, ist klar (darauf weist Sabine stetig hin, und ich teile das),
sie birgt aber eben auch Potenzen einer neuen
Vergesellschaftungsform, die sich nur in Aufhebung der
Wertgesellschaft zeigen kann. Als solche ist sie nicht bloss
Handlungsmöglichkeit (das ist sie auch, aber davon gibt es viele),
sondern "Keimform" einer neuen Gesellschaft. Diese Aussage
impliziert mitnichten, dass das so kommen muss, dass es jetzt
passiert usw. Sie bedeutet "nur", dass die "Vergesellschaftung"
("Produktion und Verteilung") in der Freien Software ansatzweise
"anders" verläuft. Was das so "anders" ist, gilt es zu kapieren -
gerade, weil nix von alleine kommt.

6.
die Freien Software-Bewegung kann nur dann ein beitrag zu einer Freien
Gesellschaft sein, wenn die beteiligten menschen das wollen, wenn sie sich
bewusst dazu entscheiden.

Ja, auch. Für entscheidender halte ich jedoch, dass die neuen Formen
der Vergesellschaftung nicht bloss "ideell", sondern _real_ besser
sind - auch für jene Menschen, die sich dazu nicht bewusst
entscheiden (weil z.B. damit gar nix am Hut haben), sondern die die
neuen Formen einfach deswegen übernehmen, weil sie subjektiv besser
sind, als die alten. Das Neue kann nicht blosser Willensakt sein,
sondern es muss auch für je mich wirklich besser sein.

ich denke, es handelt sich nicht um "keim"formen, sondern um
handlungsmöglichkeiten, um potenzen, die wir heute vorfinden, die wir, wenn
wir eine Freie Gesellschaft erreichen wollen, aus der analyse (auflösung)
der welt des werts gewinnen können. Solche gibt es vermutlich viele, die
mehr oder weniger bedeutung haben und mehr oder weniger tiefe der
veränderung zulassen.

Aus der Analyse (Auflösung) der Welt des Werts gewinnt man nur eine
einfache Negation. "So kann es nicht sein." Eine Keimform - so sie
eine ist - enthält die Bestimmungen der doppelten Negation. Und weil
genau das das schwierige ist - wie genau soll es anders laufen - ist
die erkenntnisleitende Funktion des Begriffes "Keimform" für mich so
wichtig. Entwicklung als Resultat einer Bewegung in Widersprüchen
kann ich ohne diesen Begriff nicht denken.

die potenzen der Freien Software" sind recht groß und eröffnen viele
perspektiven von veränderung. sozusagen sprengkraft bekommen sie, glaub ich,
wenn sie sich mit vielen anderen möglichkeiten und anliegen kombinieren -
mit der "benachbarten" "Free Hardware", mit den von Franz N. immer wieder
vorgebrachten ansätzen, mit den von Flo L. unlängst genannten fragen und
anderem, wovon ich (noch) gar nichts weiß - aber das wenigstens weiß ich
;-).

Da sind wir uns wieder völlig einig:-)

Ciao,
Stefan

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