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Re: [ox] zur Zukunft der Einzelinteressen



Hallo,

danke Casimir, daß Dir das aufgefallen ist. Ich finde dies auch einen extrem
wichtigen Punkt.

was hier gerade (mit einiger Zustimmung!) auf EWIG
festgeschrieben werden sollte ;-)

Ich denke nicht, daß irgendwas auf EWIG festgeschrieben ist, wenn jemand
etwas aufschreibt, und nicht gleich Protest kommt. Nicht mal, wenn für eine
Zeitlang sehr viele sich definitiv auf etwas Gemeinsames verständigen (wie
z.B. den Glossar, den es für Oekonux wohl jetzt gibt oder auch unseren, den
wir für im Gegenbilder-Buchprojekt pflegen), ist etwas für ewig
festgeschrieben!

I.
  »Daraus, dass es unter bürgerlichen Verhältnissen
  Interessengegensätze und Herrschaft gibt, folgt nicht der
  Umkehrschluss, dass es bei Abschaffung der bürgerlichen
  Verhältnisse es keine Interessengegensätze zwischen Menschen
  und Gruppen mehr gäbe, weil sich dann ein tatsächliches
  Allgemeininteresse entwickeln würde, das alle
  Einzelinteressen einschließt.«

Nun, ich verstehe erst mal die berechtigt Sorge von Ralf, daß mit Aufhebung
des Kapitalismus nicht automatisch Friede-Freude-Eierkuchen herrschen wird.
Da hat er wirklich Recht. Unsere jetzt doch oft noch abstrakten Überlegungen
könnten zu zu abgehobenen Höhenflügen verleiten und da ist das Nachfragen
von Ralf meist ziemlich sinnvoll.
Ich sehe das Konzept der "Freien Kooperation" von Christoph Spehr, über das
wir ja schon oft diskutiert haben, auch in diesem Rahmen. Dieses Konzept
wird oft kritisiert, weil es den Kapitalismus nicht beim Namen nennt,
sondern "nur" allgemein über Herrschaft redet. Aber ich denke, daß es sich
gerade fragt, was passiert, wenn wir mal die kapitalistische Herrschaftsform
wegdenken (beseitigt haben), was dann noch an Herrschaftsgefahren drohen
könnte. Deshalb ist Christophs Bestimmung von Herrschaft allgemeiner
(Herrschaft besteht darin, über andere verfügen zu können).
Und auch die Hinweise, wie wir die neue Entwicklung von Herrschaft
verhindern können, bezieht sich auf diesen weiteren Rahmen.

In diesem Kontext können wir nun auch das Verhältnis von besonderen und
allgemeinen Interessen denken.
Es gibt in Freien Kooperationen keine ein für allemal festgelegten Regeln -
sondern sie stehen immer zur Debatte. Das heißt dann: es können sich keine
Forderungen aus angeblich "allgemeinen Interessen" verselbständigen, sondern
alles allgemein für alle zur Geltung Gebrachte entsteht aus einem
Aushandelungsprozeß "von unten" her. Was nicht wirklich aus der Aushandelung
der besonderen Interessen folgt, ist nicht wirklich ein
allgemein-kollektives oder allgemein-menschliches Interesse.
Wenn die gesellschaftlichen Strukturen absichern, daß es diese
Verselbständigung nicht gibt (daß niemand im Namen von allgemeinen
Interessen über andere Menschen verfügen kann - und dazu gibt Christoph in
seinem Konzept Bestimmungungen an, die das absichern können), gibt es
allerdings auch keine Entgegensetzung von allgemeinen und individuellen
Interessen mehr, die von einer Dominanz des Allgemeinen gegenüber dem
Einzelnen herrührt (worauf sich Herrschaft ja meist bezieht). Es kann dann
nur scheinbare, eingebildete "allgemeine" Interessen geben. Unter freien
Bedingungen wird einfach nichts als "allgemeines Interesse" anerkannt, was
nicht wirlich aus den einzelnen Interessen selbst abgeleitet ist. Was
individuellen Interessen unvereinbar entgegensteht - ist kein wirkliches
allgemeines Interesse.

Diese Fragestellung berührt die tiefsten Fundamente bürgerlichen Denkens. Da
ist z.B. traditionell die "Sittlichkeit" das Bindemittel zwischen
Allgemeinem und Einzelnem. Aber wir ändern das Paradigma. Wir haben keine
vereinzelten Menschen (und vereinzelte individuelle Interessen), die dann
mittels irgendwelcher Medien (Macht, Geld, Kommunikation, Arbeit,
Sittlichkeit...) mit einem ihnen äußerlichen Allgemeinen verbunden werden
müßten. Sondern wir haben nur jene Allgemeinheit, die in den jeweils
besonderen individuellen Menschen drin steckt und sich aus ihren
Bedürfnissen entwickelt. Alles andere wird nicht als Allgemeines anerkannt.

Das entspricht auch der "Lösung" des alten Universalienstreits: Während die
herrschende Kirche mit Gott dem Allgemeinen die Herrschaft zuerkannte und
die Einzelnen sich unterzuordnen hatten, widersetzten die ersten
Nominalisten sich dem, indem sie den Einzelnen auf den Thron hoben. Max
Stirner und Nietzsche taten das später gegen die zur Unterordnung zwingende
Verabsolutierung von "Nation" und "Volk". Diese beiden Extreme lassen sich
dialektisch vermitteln, wenn eben als Allgemeines nur das angesehen wird,
was im Besonderen selbst drin steckt und aus ihm, bzw. seinen Beziehungen
zur Welt und untereinander real erwächst. Hegel nennt das Allgemeine das
"sich selbst Besondernde" und setzt dagegen das nur Abstrakte (oder
abstrakt-Allgemeine), das durch Hinweglassung des Besonderen entsteht und
lediglich das Gemeinschaftliche festhält (wie bei der Konstitution der
Konstruktionen "Volk" oder "Frauen"...).

II.
  »Menschen werden auch dann noch in vielfältiger Weise unter
  unterschiedlichen Bedingungen leben und unterschiedliche
  Lebensgeschichten haben und daraus unterschiedliche
  Interessen artikulieren und diese durchzusetzen versuchen,
  in Auseinandersetzung mit anderen. Es kommt darauf an, dies
  nicht wegzubehaupten, sondern davon auszugehen und das in
  möglichst rationalen und demokratischen Formen auszutragen.«

Ja, ein lebendes Allgemeines braucht diese Vielfalt ja auch!
Für die Aushandelung der verschiedenen Interessen sollten meiner Meinung
nach auch hier die Bestimmungen aus Christophs Konzept beachtet werden:
1. es gibt keine allgemeinen Regeln, wie sie das aushandeln (die können wir
auch auch weder vorab festlegen, noch dann ein für allemal festlegen).
2. es muß strukturell gesichert sein, daß niemand über andere verfügen kann,
weder individuell, noch auf Gruppen bezogen. Wenn eine Gruppe das Bedürfnis
hat, einen Atomreaktor zu bauen, würde sie über die Umweltsicherheit der
anderen verfügen und das darf sie nicht dürfen.
Wie das strukturell gesichert werden kann, darüber sollten wir ruhig
diskutieren.
Das wäre die zweite Richtung. Oben habe ich nur kurz angedeutet, wieso sich
die allgemeinen Interessen nicht gegen die individuellen verselbständigen
können (weil sie dann einfach keine mehr wären...). Inwiefern sich auch
individuelle/teilkollektive Interessen nicht gegen andere richten können ist
eine andere Frage (deshalb hier das II) und wahrscheinlich die, von der Ralf
ausgegangen ist.

Clever ist, daß dieser Mechanismus hier als "möglichst
rationale und demokratische Form" umschrieben wird, obwohl
er ja offenbar nur dazu dient einen irrationalen Gegensatz
zu _verwalten_.

Ja, das verdeckt die Problemstellung eher, weil sie die falsche Frage
stellt, bzw. die Richtung einseitig vorgibt. Denn was ist schon "rational"
und "demokratisch".
Auch hier kommen wir wieder dazu, zu fragen, was wir als "individuelles
Interesse" sehen. Hier sind wir wieder beim Thema Selbstentfaltung.
Als Ausgangspunkt vielleicht nur kurz:
1. Es verstößt niemand absichtlich und bewußt gegen seine eigenen
Interessen. Alles, was jede Person denkt und tut, ist für sie "subjektiv
funktional" - es macht für sie Sinn, weil es eine Möglichkeit für sie ist,
ihre Handlungsfähigkeit zu erhalten oder zu erweitern (was so in etwa dem
wichtigsten Grundbedürfnis entspricht).
2. Unter den jetzigen strukturellen Bedingungen können eigene Interessen
fast nur realisiert werden, wenn dafür die Interessen anderer eingeschränkt
werden (meinen Job hat eine andere nicht bekommen, meine Zinsen werden von
wem anders erarbeitet...). Deshalb können wir uns die Freiheit fast nur im
bürgerlichen Sinne vorstellen: mit "eine Freiheit hat die Grenze an der
Freiheit des anderen". Das hat uns nicht daran gewöhnt zu sehen, daß wir
unsere Interessen, vor allem unsere Selbstentfaltungsinteressen, eigentlich
nur wirklich realisieren können, wenn wir sie innerhalb geeigneter freier
Vereinbarung und Zusammenarbeit mit anderen realisieren und das erfordert,
daß auch die jeweils anderen sich maximal selbst entfalten können. Wenn sie
das nicht können, schade ich  mir selber, weil mir etwas an Vielfalt, an
Kreativität, an Kraft, an Freude etc. entgeht...
Unter freien Bedingungen kann es deshalb gar nicht im Interesse einer Gruppe
sein, sich einen Atomreaktor hinzusetzen. Unter freien Bedingungen brauche
ich mit niemandem um die Arbeitsstelle konkurrieren, oder die Anerkennung
("Markt um Aufmerksamkeit", "Aufmerksamkeit als neue Währung"...). Denn mir
gehts nur gut, wenn es allen anderen auch gut geht - deshalb ist es in
meinem ureigensten Interesse, ihnen erstens nicht selber zu schaden und
zweitens auch Strukturen aufrecht zu erhalten, die sichern, daß das niemand
kann... (die drei Bestimmungen als Christophs Konzept sichern). Aufs
Kollektiv bezogen habe ich das z.B. gefunden bei einem politischen Treffen,
wo VertreterInnen von Schwarzen Gemeinden in Kolumbien als Erfahrung aus der
Sklaverei für ihre jetzigen Kämpfe als Losung haben: "Wir können nur frei
sein, wenn alle anderen auch frei sind." Ohne die ganze Theoretisiererei
kommen die auch drauf!

So, das fällt mir erst mal dazu ein.
Entschuldigt die Ausführlichkeit, ich taste mich auch immer erst mal ran.
Wer Christophs Konzept noch mal schnell nachlesen will:
http://www.thur.de/philo/kooperation.htm


Ahoi Annette


________________________________
Web-Site: http://www.oekonux.de/
Organisation: projekt oekonux.de


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