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[ox] Re: Gehrings Swpat-Vortrag bei der Oekonux-Konferenz



Daß der Bereich der Informationsverarbeitung nicht freigehalten wurde
von Patenten, kann man zur Kenntnis nehmen. Zigtausende erteilte
Patente mit Einfluß auf Software, sinnvoll oder unsinnig, wie etwa die
Amazon-Patente, lassen sich nicht wegdiskutieren. Mögen die vielen
Gerichtsurteile in aller Welt und auch in Deutschland über die
Zulässigkeit solcher Patente im Geiste den Buchstaben der Gesetze zu
widersprechen scheinen, so sind sie doch gefällt und integraler
Bestandteil der Rechtsordnungen geworden. Darüber zu diskutieren,
erscheint müßig. Die Rechtssysteme haben einen Wandel durchgemacht.
Punkt.

Offenbar sind die Rechtsordnungen organische Wesen, die sich von
menschlicher Einsicht unabhaengig irgendowhin "entwickeln".  Dann ist es
allerdings erst recht "muessig", ueber irgendwelche Konstrukte der Firma
Lutterbeck, Horns & Gehring zu diskutieren.  Gehring vergisst hier auch,
dass der "Wandel" keineswegs abgeschlossen sondern ein aeusserst prekaerer
unstabiler Zustand erreicht wurde, weswegen sich die EU-Gesetzgeber und in
er Folge die Berliner Regierung bemuessigt sehen, darueber zu diskutieren.
Und Lutterbeck & Co, die hierzu um Rat gefragt wurden, haben sich vor der
heiklen Aufgabe gedrueckt und einfach das Thema gewechselt, um lieber
wohlklingende Reden halten und schoene Grafiken praesentieren zu koennen.
Deshalb fordere ich auf

	http://swpat.ffii.org/vreji/papri/bmwi-luhoge00/

"Geld zurueck!", ohne das unbedingt ganz bierernst zu meinen.

Das Geld des BMWi ist mir letztlich egal, aber ich kann es nicht
schweigend mitansehen, wie hier Leute die Wissenschaft zum Showgeschaeft
degradieren.

Am Anfang der weiteren Betrachtungen möchte ich ein wenig
Begriffsklärung betreiben. Die folgende, auch im Gutachten verwendete
Grafik, stellt dar, was in unserem Verständnis mit «Software-Patenten»
gemeint ist. Wir haben auf die Terminologie der EU-Kommission
zurückgegriffen, so erklären sich die Wortungetüme.

Die EU-Kommission verwendet tendenzioese Terminologie mit bestimmten
politischen Absichten.

Eine Bezeichnung wie "computer-implementierbare Erfindungen" suggeriert
eine Antwort, wo eigentlich eine Frage zu stellen waere.  Die lautet:

	Sind computer-implementierbare Organisations- und Rechenregeln
	(Programme fuer Datenverarbeitungen) Erfindungen im Sinne des
	Patentrechts (Art 52 EPUe) ?  Sollen sie es werden ?

Es ist eines Wissenschaftlers unwuerdig, parteipolitische Formulierungen
unreflektiert seinen Ueberlegungen zugrunde zu legen.

[Lutterbeck/Horns/Gehring 2000]

Die Abbildung zeigt zwei sich überlagernde Kreise, die Gegenstände von
Patentschriften symbolisieren sollen. Da gibt es einerseits jene
"Erfindungen", um mit den Worten des Patentrechts zu sprechen, die zu
ihrer Realisierung keines Computers bedürfen. Der linke, blaue Kreis
umfaßt diese Menge von Erfindungen. Auf der anderen Seite gibt es
Erfindungen, bei deren Umsetzung ein Computer im weitesten Sinne
möglicherweise eine Rolle spielt. Der rechte, rote Kreis bildet jene
Erfindungen ab.

Das ist keine Unterteilung nach Erfindungen sondern nach
Patentanspruechen.

In Anbetracht einer Patentanmeldung bzw. eines erteilten Patents läßt
es sich mit der gebotenen gründlichen Recherche feststellen, ob eine
Erfindung beim Einsatz immer ohne Computer auskommt, dann fällt sie in
den linken, blauen Kreisausschnitt.

Darum geht es ueberhaupt nicht bei der Patentpruefung. Es geht darum, ob
es sich bei der erfinderischen Leistung, fuer die ein Patent begehrt wird
(egal mit welchen nicht erfindungsrelevanten "technischen Merkmalen" die
Patentansprueche sprachlich eingekleidet sind) um eine Erfindung handelt.
Eine Organisations- und Rechenregel ist keine Erfindung, egal ob sie mit
Bleistift- und Papier oder auf einem Universalrechner oder auf einem
Spezialgeraet verwirklicht wird.

S. dazu die hochentwickelte BGH-Rechtsprechung und das Lehrbuch das
Patentrechts von Krasser 1986 sowie zahlreiche weitere Literatur, die sich
Lutterbeck & Co auszublenden "bemuessigt" fuehlten.

Analog läßt sich ermitteln, ob eine Erfindung nie ohne Computer
auskommt, wodurch sie in den rechten, roten Kreissektor einzuordnen
wäre. Patente in diesem Sektor werden in der Diskussion üblicherweise
als "Software-Patente" bezeichnet.

Das sind die einfachen, klaren Fälle.

Schwierig wird es in dem Bereich, der durch die Schnittmenge der
beiden Kreise markiert wird. Wir haben diesen als Ambivalenzbereich
bezeichnet, um zu verdeutlichen, daß die zum Patent angemeldete
Erfindung sowohl mit als auch ohne Computer zu implementieren wäre.
Jedes Patent auf eine solche Erfindung deckt dann sowohl Lösungen mit
Computer als auch Lösungen ohne Computer ab [auch wenn es sich nicht
um ein "reines Software-Patent" handeln würde]. Die grundsätzlich
gegebene Äquivalenz von Hardware- und Software-Lösungen, wie sie
beispielsweise in Form rekonfigurierbarer Hardware ganz konkret wird,
macht in diesem Abschnitt eine klare Trennung zwischen
Software-Patenten und Nicht-Software-Patenten unmöglich ­ zumindest in
einem juristischen Verständnis.

In seinem wegweisenden Artikel von 1977

	http://swpat.ffii.org/vreji/papri/grur-kolle77/

erklaert hierzu der fuehrende deutsche Rechtsdogmatiker ausfuehrlich,
warum diese Aequivalenz patentrechtlich belanglos ist.  Eigentlich
versteht sich das von selbst, wenn man bedenkt, dass nicht ein
Anspruchsgegenstand sondern eine Erfindung auf Patentfaehigkeit zu
untersuchen ist.  Letztere muss eine Antwort auf eine Frage an die
Naturkraefte sein.

Zusammenfassend lassen sich also drei Typen von Patenten beschreiben:

o    Nicht-Software-Patente (nicht computer-implementierbare
     Erfindungen)

o    Software-Patente (computer-implementierte Erfindungen)

o    "Sowohl-als-auch-Patente" (Erfindungen im Ambivalenzbereich)

Ein rechtlich verläßlicher Weg für den Ausschluß von Patenten für
Software läßt sich daraus nicht ableiten. Das muß Berücksichtigung
finden, wenn nach einer besseren Patentpolitik gesucht wird.

Wegen solcher wiederholter ignoranter Behauptungen, die nur durch
Nicht-Lektuere oder Ausblendung elementarer Lehrbuecher und
Patentrechtskommentare zu erklaeren ist, sollte das BMWi sein Geld
zurueckfordern.

Es bleibt anzumerken, dass die Firma Lutterbeck offenbar Ueberlegungen zur
Patentierbarkeit von Software durchaus nicht muessig findet, sondern sich
bemuessigt fuehlt, in diesem Bereich Begriffsverwirrung zu betreiben und
einschlaegige Literatur auszublenden.

Auf den richtigen Weg führt unserer Meinung nach die Untersuchung der
Rolle, die Software in der Informationsgesellschaft spielt.

Diese Rolle kann man untersuchen, ohne deshalb die eigentlichen Probleme,
um die die Bruesseler und Berliner Politik derzeit einen Eiertanz macht,
zu tabuisieren.  Was spricht dagegen, mehrere Probleme gleichzeitig
anzugehen?  Muss man unbedingt, um die Wichtigkeit seiner eigenen Ansaetze
ins rechte Licht zu ruecken, alles andere als "muessig"
disqualifizieren?  Das entspricht nicht der Grundhaltung eines
Wissenschaftlers.

...

Auf diesem Wege würde den Open Source-Entwicklern die Möglichkeit zum
Erwerb eigener Patente eröffnet: Sie könnten Open Source-Software
entwickeln und Patente anmelden.[21]

S. dazu

	http://swpat.ffii.org/stidi/gacri/

Hinter vielen Hirngespinsten von einem Zusammenleben von Swpat und freier
Software steht letztlich eine nicht bereinigte Hassliebe zum Patentwesen.
Manche Leute leben ihre inneren Widersprueche gerne oeffentlich aus.

Das Quelltextprivileg schafft den Patentschutz für Software nicht ab!
In Anbetracht der durch die Gerichte und die Patentämter in aller Welt
geschaffenen Fakten, wäre das auch unmöglich.

Schon wieder muss ein politisches Konzept dadurch dem Publikum schmackhaft
werden, dass Alternativen (mit falscher aber grafisch schoen
veranschaulichter Begruendung) als nicht gangbar dargestellt werden.

Eine Politik, die bei der Weiterentwicklung des Patentschutzes für
Software die Belange der IT-Sicherheit und die Bedürfnisse der
Entwickler von quellenoffener Software angemessen berücksichtigt, wäre
dann Standortpolitik im besten Sinne.

Diskussion auf der Oekonux-Liste
[http://www.oekonux.de/liste/archive/threads.html#02859]

In diesem Falle besteht hoffentlich kein Einwand dagegen, die Diskussion
(auch) auf der Swpat-Liste zu fuehren.

[21] Vgl. auch Robert Gehring: Berliner Ansatz zu «Open Software
Patents». Ein Ausweg aus dem "Digital Dilemma"?, Beitrag zur Konferenz
über wirtschaftspolitische Aspekte der Patentierung von Software,
veranstaltet vom Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie am
18. Mai 2000 in Berlin, im Internet:

Von einschlaegigen Kreisen ziemlich gnadenlos zerpflueckt.
Aber bei der Berliner Forschungsfirma "Internet Governance" kommt
es offenbar nur auf Glitzerfassaden an, die man wahrt, indem man
offenen Diskussionen auf dem vielzelebrierten Netz aus dem Weg geht
und stattdessen nur mit Aushaengeschildern wie "BMWi-Gutachten",
"Bundestags-Anhoerung" etc um sich her wedelt.

--
Hartmut Pilch                                      http://phm.ffii.org/
Schutz der Innovation vor der Patentinflation:   http://swpat.ffii.org/
80000 Stimmen gegen Logikpatente:            http://www.noepatents.org/

________________________________
Web-Site: http://www.oekonux.de/
Organisation: projekt oekonux.de


[English translation]
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