Re: [ox] Wie steht es mit der Uebertragbarkeit?
- From: KXX4493553 aol.com
- Date: Sun, 8 Jul 2001 17:34:22 EDT
In einer eMail vom 08.07.01 22:40:34 (MEZ) - Mitteleurop. Sommerzeit schreibt
smerten oekonux.de:
Aber es ging ja um Kunst. Ich bin da wie gesagt blutiger Laie, aber
ich habe in der Kunst den Eindruck, daß viele Werke nicht so entstehen
wie Software, sondern daß diese noch stärker individuelle Werke
Einzelner sind. Da ist dann also nichts mit Selbstorganisation,
internationaler Kooperation und so.
Also, hier wabert immer noch sehr der bürgerliche Geniebegriff durch die
Gegend, und ich möchte mal aus kunstsoziologischer Sicht einige Anmerkungen
dazu machen.
Zunächst: selbstredend kann Kunst auch auf kollektiven Bewegungen beruhen.
Darum habe ich ja mal gesagt, dass mich die Oekonux/Freie Software- Bewegung
stark an gewisse künstlerische Avantgarden vor allem in der ersten Hälfte des
20. Jahrhunderts erinnert. Ich denke da z. B. an die Sürrealisten, an die
Futuisten, an Bauhaus, an die sog. russische Produktionsästhetik usw. All
diese Avantgarden haben mit Oekonux eines gemeinsam: es ging um die
"Versöhnung" von Kunst und alltäglicher Lebenspraxis, um den Zusammenklang
von neuen technologischen Möglichkeiten, gesellschaftlichen Veränderungen,
verändertem Lebensgefühl und künstlerischem Ausdruck. Oder wie Breton, der
"Chefideologe" der Sürrealisten, mal sagte: "Wir wollen nicht nur die
Gesellschaft, sondern das Leben ändern!" Dabei wurden sehr unterschiedliche
Wege beschritten: Breton traf sich mit Trotzki in dessen mexikanischem Exil
Ende der 30er Jahre und verfasste zusammen mit diesem ein Manifest, wo
"Politik" und "Kunst" ihre jeweiligen Beiträge zur "permanenten Revolution"
leisten sollten (die französischen Sürrealisten waren organisiert und traten
bis auf wenige Ausnahmen der KP bei). Über den Einflusses des "Bauhauses" auf
die Entwicklung der Stadtpolitik der Nachkriegszeit muss man nicht viele
Worte verlieren. Die russische Avantgarde versuchte vor allem in den 20er
Jahren, Kunstelemente in die alltägliche Produktion einfließen zu lassen,
wenn auch mit eher mäßigem Erfolg. Ein italienischer Futurist, Marinetti, war
unter Mussolini zeitweise Kulturminister, soweit ich mich erinnere. Das ist
übrigens auch der Punkt, wo mir fälschlicherweise unterstellt wurde, ich
würde Oekonux für latent faschistisch halten. Völliger Blödsinn, ich habe
nicht mehr gesagt, als dass Avantgardebewegungen auch entschiedene Holzwege
beschreiten können; mehr war damit nicht gemeint.
Es gibt in der Kunst- und Literatursoziologie einen Ausdruck, der als
"Intertextualität" bezeichnet wird. Damit ist gemeint, dass Kunstwerke immer
in einem historischen Zusammenhang stehen und auf früheren Werken aufbauen.
Die früheren Werke sind im neu entstehenden "enthalten", ein Kunstwerk steht
nie außerhalb der Kunst- und Stilgeschichte. Adorno hat immer auf dem
materialen Aspekt der Kunst bestanden, d. h. Kunst war für ihn immer
Formgebung eines "Rohstoffs", "Hingabe ans Material", die Beachtung der
Eigengesetzlichkeit des Materials usw. Also nix mit dem armen Poeten, der in
seiner Dachstube hockt und konvulsivisch erbebt, sobald ihn die Intuition
übermannt - also wie sich Kleinbürgers das so landläufig vorstellen.
Warum diskutiert ihr eigentlich nicht mal das Verhältnis von Programmieren
und Computerkunst? Es gibt jetzt im Herbst die "Ars Electronica" in
Österreich, so eine Art Documenta der zeitgenössischen multimedialen Kunst,
es gibt das ZKM in Karlsruhe, wo sich exakt mit der Schnittstelle von Kunst
und Programmierung beschäftigt wird. Das sind gleichzeitig, dessen bin ich
mir auch bewusst, Einfallstore, um der Kommerzialisierung der Digitalkunst
Vorschub zu leisten, aber ich finde es eher schade, wenn sich Open Surce und
FS um solche Dinge nicht zu kümmern scheint. Da existieren die
unterschiedlichsten Ansätze nebeneinander her, ohne dass die anscheinend
jemals voneinander gehört haben bzw. Notiz voneinander zu nehmen scheinen. Es
gibt vereinzelt Künstler wie R. Goetz, der versucht, Literatur, Tekkno und
Cyberkunst als eine Art Gesamtkunstwerk zu vereinen, aber von solchen
Versuchen wird gleichfalls von der FS keinerlei Notiz genommen.
Literatur zum Thema? Der wichtigste zeitgenössische Kultursoziologie ist
Pierre Bourdieu, sein Buch "Die feinen Unterschiede" über klassenspezifische
Kunstrezeption aus den 70ern ist immer noch ein Klassiker, als deutsches
Pendant dazu kann Gerhard Schulze mit seiner "Erlebnisgesellschaft" gezählt
werden, auch wenn der viel affirmativer ist als Bourdieu. Und natürlich
Adorno, Peter Gorsen, Herbert Marcuse undundund.
Kurt-Werner Pörtner
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