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Re: [ox] Wie steht es mit der Uebertragbarkeit?



In einer eMail vom 08.07.01 22:40:34 (MEZ) - Mitteleurop. Sommerzeit schreibt 
smerten oekonux.de:

Aber es ging ja um Kunst. Ich bin da wie gesagt blutiger Laie, aber
 ich habe in der Kunst den Eindruck, daß viele Werke nicht so entstehen
 wie Software, sondern daß diese noch stärker individuelle Werke
 Einzelner sind. Da ist dann also nichts mit Selbstorganisation,
 internationaler Kooperation und so.

Also, hier wabert immer noch sehr der bürgerliche Geniebegriff durch die 
Gegend, und ich möchte mal aus kunstsoziologischer Sicht einige Anmerkungen 
dazu machen.

Zunächst: selbstredend kann Kunst auch auf kollektiven Bewegungen beruhen. 
Darum habe ich ja mal gesagt, dass mich die Oekonux/Freie Software- Bewegung 
stark an gewisse künstlerische Avantgarden vor allem in der ersten Hälfte des 
20. Jahrhunderts erinnert. Ich denke da z. B. an die Sürrealisten, an die 
Futuisten, an Bauhaus, an die sog. russische Produktionsästhetik usw. All 
diese Avantgarden haben mit Oekonux eines gemeinsam: es ging um die 
"Versöhnung" von Kunst und alltäglicher Lebenspraxis, um den Zusammenklang 
von neuen technologischen Möglichkeiten, gesellschaftlichen Veränderungen, 
verändertem Lebensgefühl und künstlerischem Ausdruck. Oder wie Breton, der 
"Chefideologe" der Sürrealisten, mal sagte: "Wir wollen nicht nur die 
Gesellschaft, sondern das Leben ändern!" Dabei wurden sehr unterschiedliche 
Wege beschritten: Breton traf sich mit Trotzki in dessen mexikanischem Exil 
Ende der 30er Jahre und verfasste zusammen mit diesem ein Manifest, wo 
"Politik" und "Kunst" ihre jeweiligen Beiträge zur "permanenten Revolution" 
leisten sollten (die französischen Sürrealisten waren organisiert und traten 
bis auf wenige Ausnahmen der KP bei). Über den Einflusses des "Bauhauses" auf 
die Entwicklung der Stadtpolitik der Nachkriegszeit muss man nicht viele 
Worte verlieren. Die russische Avantgarde versuchte vor allem in den 20er 
Jahren, Kunstelemente in die alltägliche Produktion einfließen zu lassen, 
wenn auch mit eher mäßigem Erfolg. Ein italienischer Futurist, Marinetti, war 
unter Mussolini zeitweise Kulturminister, soweit ich mich erinnere. Das ist 
übrigens auch der Punkt, wo mir fälschlicherweise unterstellt wurde, ich 
würde Oekonux für latent faschistisch halten. Völliger Blödsinn, ich habe 
nicht mehr gesagt, als dass Avantgardebewegungen auch entschiedene Holzwege 
beschreiten können; mehr war damit nicht gemeint.  

Es gibt in der Kunst- und Literatursoziologie einen Ausdruck, der als 
"Intertextualität" bezeichnet wird. Damit ist gemeint, dass Kunstwerke immer 
in einem historischen Zusammenhang stehen und auf früheren Werken aufbauen. 
Die früheren Werke sind im neu entstehenden "enthalten", ein Kunstwerk steht 
nie außerhalb der Kunst- und Stilgeschichte. Adorno hat immer auf dem 
materialen Aspekt der Kunst bestanden, d. h. Kunst war für ihn immer 
Formgebung eines "Rohstoffs", "Hingabe ans Material", die Beachtung der 
Eigengesetzlichkeit des Materials usw. Also nix mit dem armen Poeten, der  in 
seiner Dachstube hockt und konvulsivisch erbebt, sobald ihn die Intuition 
übermannt - also wie sich Kleinbürgers das so landläufig vorstellen.

Warum diskutiert ihr eigentlich nicht mal das Verhältnis von Programmieren 
und Computerkunst? Es gibt jetzt im Herbst die "Ars Electronica" in 
Österreich, so eine Art Documenta der zeitgenössischen multimedialen Kunst, 
es gibt das ZKM in Karlsruhe, wo sich exakt mit der Schnittstelle von Kunst 
und Programmierung beschäftigt wird. Das sind gleichzeitig, dessen bin ich 
mir auch bewusst, Einfallstore, um der Kommerzialisierung der Digitalkunst 
Vorschub zu leisten, aber ich finde es eher schade, wenn sich Open Surce und 
FS um solche Dinge nicht zu kümmern scheint. Da existieren die 
unterschiedlichsten Ansätze nebeneinander her, ohne dass die anscheinend 
jemals voneinander gehört haben bzw. Notiz voneinander zu nehmen scheinen. Es 
gibt vereinzelt Künstler wie R. Goetz, der versucht, Literatur, Tekkno und 
Cyberkunst als eine Art Gesamtkunstwerk zu vereinen, aber von solchen 
Versuchen wird gleichfalls von der FS keinerlei Notiz genommen. 

Literatur zum Thema? Der wichtigste zeitgenössische Kultursoziologie ist 
Pierre Bourdieu, sein Buch "Die feinen Unterschiede" über klassenspezifische 
Kunstrezeption aus den 70ern ist immer noch ein Klassiker, als deutsches 
Pendant dazu kann Gerhard Schulze mit seiner "Erlebnisgesellschaft" gezählt 
werden, auch wenn der viel affirmativer ist als Bourdieu. Und natürlich 
Adorno, Peter Gorsen, Herbert Marcuse undundund.



Kurt-Werner Pörtner
 
________________________________
Web-Site: http://www.oekonux.de/
Organisation: projekt oekonux.de


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