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Re: [ox] Konferenz-Beitrag: Warum Freie Software dem Kapitalismus nicht viel anhaben kann - aber vielleicht trotzdem etwas mit Kommunismus zu tun hat



Liebe Sabine, Michael, Liste!

Last month (51 days ago) Stefan Merten wrote:
Warum Freie Software dem Kapitalismus nicht viel anhaben kann
=============================================================
Sabine Nuss [sabine.nuss prokla.de], Michael Heinrich
[prokla zedat.fu-berlin.de]
- aber vielleicht trotzdem etwas mit Kommunismus zu tun hat
-----------------------------------------------------------

Ist zwar schon eine ganze Weile her, aber ich hatte mir beim Lesen ein
paar Notizen gemacht, die ich doch noch einbringen will. Viel
wesentliches ist aber schon gesagt worden - na, ich schieb's halt mal
raus.

Ich hoffe, daß ich großzügig genug zitiere, so daß der Kontext noch
erhalten bleibt.

I. Freie Software als `Anomalie'
================================
...
Während Unternehmen versuchen, die traditionellen Intellectual
Property Rights (IPR) mittels technischer Sicherungsinstrumente
(Kopierschutz) auch im Cyberland durchzusetzen und damit eine Art
virtueller Enclosures[2] (Aneignung von Datenland) initiieren,

Nun, das ist zumindest ein wenig unscharf. Was m.E. zunehmend
stattfindet ist die technische Unterstützung von IPRs - genauer: von
Verwertungsinteressen. Das Copyright gibt es aber solange es
proprietäre Software gibt und wird seitdem eingesetzt.

während
zugleich die Staaten Nutzer und Anbieter von frei zugänglichen
digitalen Inhalten illegalisieren, um auch das Cyberland der
herrschenden Rechtsordnung zu unterwerfen,

Wait a minute. Hier setzt ihr "frei zugänglich" mit "legal" gleich -
oder ich verstehe euren Punkt überhaupt nicht :-( . Es gab und gibt
frei zugängliche Inhalte, die illegal angeboten werden. Oder meint
ihr, daß jetzt daran gegangen wird, die Legalität auch durchzusetzen?
Davon ist m.E. wenig zu spüren - vor allem von staatlicher Seite her.

entstehen andererseits
Produkte und Produktionsformen, die sich diesen Enclosures und der
Verwertung (zu) entziehen (meinen?): Die Freie Software.

Dieser Punkt durchzieht euren ganzen Text: Die Freie-Software-Bewegung
meint das gar nicht. Die Freie-Software-Bewegung hat ganz weitgehend
davon überhaupt keinen Begriff und will in Teilen nichts sehnlicher
als zurück in die Arme des Verwertungsprozesses. Wir diskutieren das
hier vielleicht anders, aber wir sprechen hier sicher nicht für die
Freie-Software-Bewegung.

Freie Software ist Software, die sich von kommerzieller Software im
wesentlichen dadurch unterscheidet, dass ihr Quellcode[3] bei
Weitergabe des Programms mitgeliefert, einsehbar und veränderbar ist.

Ja, das ist vielleicht eine der guten Fragen: Wie unterscheidet sich
Freie Software eigentlich von proprietärer. Ich habe in einigen Mails
versucht, hier ein paar Punkte anzudeuten - wesentlich:
Konfigurierbarkeit, Abwesenheit von Konkurrenz, Anhalten zum
selbständigen Handeln. Dies sind alles Effekte Freier Software, die
aus dieser Kultur kommen und haben nicht in erster Linie etwas mit den
offenliegenden Quellen zu tun. Diese Effekte finde ich gerade für
gesellschaftlich-kulturelle Überlegungen aber fast wichtiger als die
Quelloffenheit.

...
[4] Die Lizenz gewährt das Recht zur freien Benutzung des Programms,
das Recht, Kopien des Programms zu erstellen und zu verbreiten, das
Recht, das Programm zu modifizieren und das Recht, modifizierte
Versionen zu verteilen.

Wesentlich scheint mir auch das Recht, aus den Quellen zu lernen. Ich
kann mir anschauen, wie gute ProgrammiererInnen ein bestimmtes Problem
gelöst haben und davon lernen. Das hat viel mit Freiheit zu tun.

III. Entgegnungen
=================

BTW: Mir fiel auf, daß dieser Teil eures Artikels leider wesentlich
unsachlicher und polemischer und insgesamt argumentativ schwächer
gehalten war. Mich bringt das jedenfalls nicht vorwärts :-( und
irgendwie habe ich das Gefühl, daß solcher Tonfall eher dazu geeignet
ist, (Schützen)gräben auszuheben :-( .

Bei aller Unterschiedlichkeit der genannten Konzepte gibt es einen
gemeinsamen Nenner: Der positive Bezug auf Freie Software. Sei es
Freie Software als Keim einer künftigen nicht-kapitalistischen
Gesellschaft, oder als Keim einer künftigen Wissensgesellschaft mit
kleinem Marktanteil oder freie Software als "sozialistisches Prinzip"
- in allen Überlegungen taucht sie als Hoffnungsträger für eine
irgendwie "bessere" Welt auf. Wie kommt es, dass der Freien Software
eine solch wichtige Vorreiterrolle zuerkannt wird? Erst mal ist Freie
Software nichts als ein Produkt mit spezifischen Anwendungsprofilen
zur Ausführung und Regulation von Arbeitsprozessen (oder Spielen).
Freie Software ist also als fertiges Produkt, in seinen technischen
Eigenschaften von proprietärer Software in nichts zu unterscheiden.

Siehe oben. Klar, auf der Ebene von Byte-Strömen unterscheidet sich
Freie Software sicher nicht von proprietärer - aber jenseits dessen
ganz sicher. Was für Freie Programme benutzt ihr denn üblicherweise,
daß sich euer Eindruck herausbilden konnte?

Daß es mir als Benutzer möglich ist, die Software zu verändern (weil
der Quellcode aufgrund der GPL offen und nicht wie bei proprietärer
Software geschützt ist), hat nur für die kleine Minderheit von Nutzern
Bedeutung, die sowohl über die technischen Fähigkeiten als auch über
die Zeit für solche Eingriffe verfügen. Die Masse der Nutzer geht mit
Freier Software auch nicht anders um als mit proprietärer.

Na ja, ich habe jedenfalls noch nie(!) einen Text verloren, weil mir
der Emacs abgestürzt wäre... Und mit StarOffice habe ich ähnliche
Erfahrungen. Ein Aspekt ist auch, daß Bugs mit der Zeit verschwinden -
und nicht wie z.B. bei M$ von Version zu Version jahrelang
mitgeschleppt werden (Manchmal frage ich mich, was die vielen
M$-ProgrammiererInnen eigentlich den ganzen lieben langen Tag machen.
Oder gehen da wirklich nur Nieten hin?)

Davon abgesehen kostet Freie Software auch (fast) nichts. Auch für
manche nicht ganz unwichtig.

Ich denke schon, daß alleine wegen der höheren Qualität BenutzerInnen
anders mit Freier Software umgehen als mit proprietärer.

III a) Entzieht sich Freie Software der Verwertung?
---------------------------------------------------

Dass sich "Freie Software" der Verwertung entziehen würde, ist ein oft
gehörtes Argument bei jenen, die der Freien Software systemsprengendes
Potential beimessen: Die Tatsache, dass die GPL den privaten
Eigentumsanspruch verhindert, so das Argument, führe zu einem
"Überfluß" an Freier Software, sie ist jedermann frei zugänglich und
verunmögliche daher die künstliche Verknappung als Voraussetzung für
kapitalistische Verwertung - etwas, was alle haben können, ist
natürlich schwer verkäuflich. In dieser Wahrnehmung wird
offensichtlich "Verkauf" mit "Verwertung" gleichgesetzt.

Das ist natürlich Quark. Verkauf hat mit Verwertung nur in der Regel
was zu tun. Freie Software aber auch Handys werden nicht verkauft,
sondern mehr oder weniger kostenlos abgegeben. Während Freie Software
sich im Kern aber nicht verwertet, ist das bei Handys anders - was
auch daran zu sehen ist, daß letztere wohl künftig wirklich verkauft
werden.

Nun ist aber
mit den Schwierigkeiten beim Verkauf nur eine Seite des
Verwertungszusammenhangs `verwundet' und zwar jene, die in der
Zirkulation stattfindet. In der Produktionssphäre kann Freie Software
aber ohne weiteres eingesetzt und zum Bes,tandteil des
kapitalistischen Verwertungsprozesses werden.

Wenn etwas zum Bestandteil des Verwertungsprozesses wird, bedeutet das
noch lange keine Verwertung. Auch die Luft, die KapitalistInnen wie
ArbeiterInnen arbeiten ist Bestandteil des Verwertungsprozesses, wird
aber nicht verwertet.

Dies ist in zweifacher
Hinsicht möglich. Zum einen kann Freie Software als kostenloses
Produktionsmittel genutzt werden, was im Vergleich zur Verwendung
proprietärer Software, die bezahlt werden muß, die Profitrate erhöht.
Zum anderen kann Freie Software aus dem Netz gezogen und unter Zusatz
von zusätzlicher Arbeit, wie Support oder der Erstellung von
Handbüchern, verkauft werden. Verwertet hat sich dann das
vorgeschossene Kapital für die Arbeitskraft und die Produktionsmittel
für Handbücher oder/und CD-ROMs. Die Freie Software hat sich zwar
nicht verwertet, weil kein Kapital dafür aufgewendet wurde, sie
bildete in diesem Fall aber die Grundlage dafür, dass ein
Verwertungsprozeß überhaupt in Gang kam.

Ja, wie die Luft zum Atmen...

Freie Software wird bereits
auf beide Weisen seit längerem verwendet, Tendenz steigend.[11] Werner
Winzerling machte in seinem Vortrag bei der Oekonux-Konferenz noch
einen weiteren Grund für das Interesse gerade von Computerherstellern
an Linux deutlich: da Microsoft ein Quasi-Monopol für
PC-Betriebssysteme besitzt, sei Linux ein willkommenes Gegengewicht.

Nun, was M$ zu Freier Software unter der GPL meint, dürfte ja
mittlerweile hinlänglich bekannt sein. Von Willkommen keine Spur...
Leider ist Werners Beitrag immer noch nicht da, so daß wir uns nicht
mit ihm auseinandersetzen können :-( .

...
III b) Keimform
---------------

Über Freie Software als `Keimform' einer neuen Entwicklung wurde im
Rahmen von Oekonux schon viel debattiert (siehe
http://www.oekonux-konferenz.de/, Subjekt Keimform). Wenn wir diese
Debatten richtig verstanden haben, ist dabei mit `Keimform' ein neues
Prinzip gemeint, das zum einen mit dem bestehenden System prinzipiell
unverträglich ist

Freie Software ist nicht "prinzipiell unverträglich" - sonst könnte es
als Keimform gar nicht im Alten existieren oder nur in kleiner Nische
- wie BTW die vielen alten Alternativprojekte.

und das zum anderen zum Ausgangspunkt einer
Unterminierung und schließlich einer Überwindung des alten Systems
werden kann. Dass Freie Software zwar einerseits eine `Anomalie' für
das Privateigentumsparadigma darstellt, dass sie aber mit dem alten
System - der Kapitalverwertung - keineswegs unverträglich ist, haben
wir oben zu zeigen versucht. Wie steht es aber nun mit der Ausbreitung
der `Anomalie'? Als Ansatz dafür, wie man der "kybernetischen
Maschine" weitere Bereiche "abtrotzen" könne, wird auf freie Projekte
im Internet verwiesen, wie z.B. freie Literatur, freie Musik, eine
freie Enzyklopädie, usw.

Es geht nicht um "abtrotzen" - das ist eine völlig falsche, letztlich
militaristische Sichtweise. Freie Software und andere Freie Projekte
entstehen einfach so, weil Leute Bock drauf haben. Sie wollen
niemensch was abtrotzen sondern einfach nur was Nettes für sich und
andere.

Interessant wird es dann aber beim Hinweis
auf "Freie materielle Güter", dort gäbe es auch schon Projekte, die
versuchen, die Prinzipien Freier Software auf die Produktion
materieller Güter umzusetzen: "Zunächst scheint dies eine
unüberwindliche Hürde, da materielle Güter nicht den Bedingungen der
digitalen Kopie unterliegen." (Merten a.a.O.) Dennoch seien einige
interessante Entwicklungen zu beobachten. Als Beispiel wird OSCar, die
Entwicklung eines Autos, oder die Entwicklung von Entwurfsplänen für
elektronische Schaltungen genannt. In diesem Zusammenhang wird dann
aber wieder darauf verwiesen, dass zur Realisierung dieser Ideen
kommerzielle Firmen den Vorteil hätten, Entwicklungskosten zu sparen:
"So gibt es inzwischen mehrere Projekte, die sich mit dem Design
materieller Güter befassen. Sie entwerfen dabei ein Gut, das dann von
kommerziellen Firmen hergestellt werden kann. Der Vorteil für eine
Herstellerfirma liegt darin, daß sie die Kosten für eine
Produktentwicklung nicht selbst aufbringen muß." (Merten a.a.O.). Von
dem befremdlich wirkenden Umstand abgesehen, dass hier die
Kostenersparnis eines kapitalistischen Unternehmens als "Vorteil" der
Freien Software gepriesen wird, erscheint uns die von Merten als nur
"zunächst" unüberwindlich bezeichnete Hürde vielmehr konstant
unüberwindlich zu sein.

Festzuhalten bleibt: Der Entwicklungsprozeß Freier Software hat nach
und nach immer mehr beFreit. Ob es bei materiellen Gütern
grundsätzlich gehen kann, weiß heute keineR. Aber alleine aus der
Ausbreitungsidee heraus kann es m.E. funktionieren.

Um nochmal den Vergleich mit dem Übergang zum Kapitalismus zu bemühen:
Eure Argumentation klingt für mich in etwa wie: "Die
Nahrungsmittelproduktion wird aber für immer feudal organisiert
bleiben".

Dass Freie Software auf (relativ) breiter Basis produziert werden
kann, hat zur Voraussetzung, dass ihre Produktionsmittel - PC und
Netzzugang - in den entwickelten kapitalistischen Ländern billig zu
haben sind (in den meisten Entwicklungsländern sieht dies erheblich
anders aus). Dass die Produktionsmittel für Freie Software so billig
sind, liegt letzten Endes daran, dass es sich hier um
`Informationsprodukte' handelt: das eigentliche Produkt ist die
Information (das Programm, oder auch der Plan eines Autos), materiell
ist lediglich der Träger der Information. Die Bearbeitung, Speicherung
und das Kopieren von Information sind aber relativ einfach, mit wenig
Material- und Arbeitsaufwand durchführbar und dadurch billig geworden.
Ganz anders sieht es aber bei materiellen Produkten aus. Ein Auto zu
bauen erfordert erheblich "mehr" Aufwand an Produktionsmitteln (und
damit auch an Kosten), als ein Software-Tool zu programmieren: ein PC
steht auf vielen Schreibtischen, eine Montagehalle mitsamt den
entsprechenden Maschinen kann sich nur eine Autofirma leisten.
Insofern findet die `Keimform' an der Welt der kostenaufwendigen und
arbeitsintensiven materiellen Produkte ihre Schranke.

Festzuhalten bleibt: Auch die materielle Produktion beruht immer mehr
auf Information. Der Feudalismus wurde letztlich dadurch abgelöst, daß
immer größere Teile des wirtschaftlichen Gesamtprozesses auf Geld
beruhten. So gingen die Gesetze des Geldes immer mehr auf die gesamte
Wirtschaft und damit auch die Gesellschaft über. Kann das mit dem
Übergang zur Information nicht auch so sein?

Von einer
Unterminierung kapitalistischer Verhältnisse ist nichts zu sehen.

Nun, die Arbeitsintensität sinkt permanent. Heute sind noch - wenn ich
es recht erinnere - ca. 24 menschliche Arbeitsstunden für die
Produktion eines Autos notwendig. Ein Ergebnis ist die ständig
steigende Arbeitslosigkeit, die bereits im System permanent selbiges
unterminiert...

III c) Selbstentfaltung
-----------------------

Als Besonderheit der Produktion Freier Software wird schließlich noch
geltend gemacht, dass hier Menschen kooperieren, deren Tätigkeit durch
`Selbstentfaltung' charakterisiert sei: es ist nicht die Orientierung
am Tauschwert der Produkte oder am Lohn, sondern das inhaltliche
Interesse am produzierten Gebrauchswert und der Spaß an der
Kooperation mit anderen, welche die einzelnen motivieren, ihre Zeit in
die Produktion Freier Software zu stecken.

In der Tat ist es beeindruckend, wie es dabei gelingt, dass Menschen
weltweit zusammenarbeiten und komplexe Produkte hervorbringen, nicht
nur ohne die Motivation des Tauschwerts, sondern auch unter
weitgehendem Verzicht auf eine hierarchische Leitungsstruktur. Einer
grundsätzlichen Alternative zum Kapitalismus, einer Gesellschaft also,
die ohne Geld, Tausch und staatlichen Zwangscharakter der Reproduktion
auskommt, einer Gesellschaft, die man als `kommunistisch' bezeichnen
kann (und die mit den in Osteuropa untergegangenen `kommunistischen
Staaten' offensichtlich nichts gemein hat), wird gerne vorgeworfen,
sie könne es nicht geben, denn `der Mensch' sei eben gar nicht so:
ohne äußeren Druck einerseits und materiellen Anreiz andererseits
laufe gar nichts und das Ganze müsse außerdem noch durch fähige
Leitungspersonen an der Spitze gesteuert werden. Dazu stellt die
Produktion freier Software tatsächlich ein Gegenbeispiel dar. Sie
macht deutlich, dass selbst unter den Bedingungen des Kapitalismus
eine andere Form der Produktion möglich ist - und zwar nicht nur in
dem beschränkten Rahmen eines kleinen Projektes, das überschaubar ist
und bei dem sich alle kennen, sondern innerhalb eines weltweiten
Verbundes. Insofern ist die Produktion Freier Software ein wichtiges
Beispiel für die Möglichkeit anderer Kooperationsformen - aber auch
nicht mehr. Weder kann sich dieses Beispiel dem kapitalistischen
Zugriff entziehen, noch stellt es eine `Keimform' dar.

Auch dieses Beispiel ist in den kapitalistischen Kontext integriert.

Nun, im luftleeren Raum *kann* sich nichts entwickeln - schon
deswegen, weil da keineR leben kann. Eine Keimform muß sich also immer
im Alten entwickeln - ihr das vorzuwerfen ist also wenig sinnvoll.

Aber mal eine Gegenfrage: Wie muß denn eine Keimform aussehen? Welche
Kriterien müßte sie denn erfüllen? Es ist ja nicht gerade fair, alles
abzuqualifizieren, aber die Kriterien nicht anzugeben, nach denen ihr
qualifiziert.

Dies gilt nicht nur für ihre Produkte, die keineswegs jenseits des
kapitalistischen Verwertungszusammenhangs stehen, dies gilt auch für
die auf `Selbstentfaltung' beruhenden Produktionsbedingungen. Dass
Menschen im Kapitalismus in dieser Weise kooperieren können, hat zur
Voraussetzung, dass einerseits ihr Lebensunterhalt gesichert ist
(entweder indem sie Lohnarbeit leisten oder z.B. als Studenten
staatlich alimentiert werden) und dass ihnen die Sicherung ihres
Lebensunterhaltes andererseits genügend Zeit läßt, sich mit Freier
Software zu beschäftigen. Betrachtet man die kapitalistischen
Verhältnisse weltweit, dann gehören diejenigen, die Freie Software
entwickeln, zu einer kleinen, privilegierten Gruppe, innerhalb der
entwickelten kapitalistischen Länder. Diese Privilegierung läßt sich
unter kapitalistischen Bedingungen wohl kaum verallgemeinern. Aber
auch für diejenigen, die diese Privilegierung heute genießen können,
besteht immer die Gefahr, dass sich ihre Situation aufgrund von
Krisenprozessen ändert: dass sie arbeitslos werden oder die
Arbeitsintensität steigt, dass Ausbildungsförderung gestrichen oder
der Druck in den Ausbildungsinstitutionen erhöht wird. Insofern liegen
auch die ProduzentInnen Freier Software lediglich an der (im Moment
recht langen) Leine des Kapitals.

Nun, die Leide des Kapitals war schon deutlich länger als sie heute
ist. Oder würdet ihr z.B. den permanenten Sozialabbau, den Abbau der
Systeme, die in den 70ern geschaffen wurden, auch noch als eine
Verlängerung der Leine sehen? Jedenfalls hat sich in "besseren" Zeiten
nichts entwickelt.

Aber selbst die angesprochene `Selbstentfaltung' entzieht sich nicht
gänzlich der Verwertung. "Selbstentfaltung" ist eine Produktivkraft,
die auch das Kapital seit einiger Zeit für sich entdeckt. So hat
Norbert Bensel, verantwortlich für Human Resources der DaimlerChrysler
Services AG, jüngst bei einem Vortrag auf der Konferenz "Gut zu
Wissen" der Heinrich-Böll-Siftung neue Arbeitskonzepte vorgestellt,
die in ihrem nicht nur sprachlichen Habitus sehr den
Selbstentfaltungsaspekten, die der Freien Software zugeschrieben
werden, ähneln. Er verwies auf das Modell OpenSource als Vorbild und
beschrieb das neue Arbeitsmodell mit folgenden Stichworten: "Spass
haben" (statt Geld verdienen, als Motivation...), "Freiwillige
motivieren", "Anerkennung für cool code", "Kunden zu Mitarbeitern
machen", "Bedürfnis der Mitarbeiter nach Entfaltung" usw. Im Abstract
zu seinem Vortrag heißt es unter anderem: "....Gängige Strukturmodelle
mit einer festen Befehlshierarchien von oben nach unten spiegeln die
betriebliche Realität nicht mehr wieder....." (Bensel 2001).[12]

Auch den Anhängern der "Keimform-Theorie" ist dieser Sachverhalt
bekannt. So schreibt Stefan Meretz: "...die Sachwalter des Kapitals
als Exekutoren der Wertverwertungsmaschine haben erkannt, dass der
Mensch selbst die letzte Ressource ist, die noch qualitativ
unentfaltete Potenzen der Produktivkraftentwicklung birgt. In seiner
maßlosen Tendenz, alles dem Verwertungsmechanismus einzuverleiben,
versucht das Kapital auch diese letzte Ressource auszuschöpfen"
(Meretz 2000). Allerdings stoße das Kapital dabei an Grenzen: eine
wirklich freie Selbstentfaltung sei nicht möglich, da in einem
kapitalistischen Unternehmen letzten Endes doch die Verwertungsaspekte
und die Konkurrenz der Mitarbeiter untereinander dominieren würden.
Daher sei es dem Kapital gar nicht möglich, die in der
Selbstentfaltung steckende Produktivkraft wirklich auszuschöpfen.

Wie die Idee der Freien Software, bzw. die damit zusammenhängende
"Selbstentfaltung" von der real existierenden Welt vereinnahmt wird,

Nun, sie wird nicht vereinnahmt - siehe oben. Deswegen ist leider das
Folgende auch wenig wertvoll.

ist aber unserer Ansicht nach nicht wegzuwischen mit dem Argument,
dass Diskussionen über die Kompatibilität von Freier Software und
Kapitalismus an der Sache vorbeigingen und dass man vorwiegend darüber
reden müsse, wie überhaupt "die Arbeit beschaffen sein muß, damit sich
in ihr der Mensch als Subjekt voll entfalten kann" (a.a.O.). Dies ist
eine Form von Utopismus: Es wird unter Absehung der realen
Entwicklungen ein Gegenbild entworfen, ein nettes Märchen erzählt,
darüber wie es aussehen würde, wenn das Rotkäppchen nicht zum Wolfe
rennen würde. Derweil aber ist der Wolf gerade dabei, das Rotkäppchen
zu fressen.
...


						Mit Freien Grüßen

						Stefan

________________________________
Web-Site: http://www.oekonux.de/
Organisation: projekt oekonux.de


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