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[ox] Artikel: Anmerkungen zu Produktivkraftentwicklung und Aufhebung



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Hallo,

ich habe einige (versöhnlichere?) Anmerkungen zum Artikel von Stefan Meretz "Produktivkraftentwicklung und Aufhebung" (Streifzüge 2/2001) formuliert. Ich schicke den Artikel einstweilen so, stelle ihn auch bald ins WWW.
MfG,
Christian
 
********************************
 
Anmerkungen zu Produktivkraftentwicklung und Aufhebung
Christian Fuchs (christian igw.tuwien.ac.at)

 Ich kann vielem von dem, was Stefan Meretz in seinem Artikel ueber "Produktivkraftentwicklung und Aufhebung" (Meretz 2001) als Antwort auf Fuchs (2001a) formuliert hat, durchwegs zustimmen, moechte an dieser Stelle nochmals die Gemeinsamkeiten und Unterschiede in den Argumentationslinien hervorheben und verdeutlichen. 

Positiv erachte ich, dass S. Meretz versucht, den Produktivkraftbegriff nicht-reduktionistisch als Verhaeltnis zwischen Mensch, Mittel und Natur zu fassen. In der Tat wurde der Produktivkraftbegriff im Marxismus haeufig verdinglichend auf rein technische Aspekte reduziert (so etwa bei Bucharin, Kautsky oder Plechanow). Ich verstehe unter Produktivkraeften in Anlehnung an Marx ein System der lebendigen Arbeit und diese naeher bestimmende subjektive, objektive und naturbedingte Faktoren begreifen. Diese Faktoren stellen nur in Kombination mit der lebendigen Arbeit Produktivkraefte dar. Der Produktivkraftbegriff ist also nicht reduzierbar auf einzelne Elemente des Systems der Produktivkraefte, er zeichnet sich durch emergente Eigenschaften aus. Das System der Produktivkraefte ist also mehr als die Summe seiner Teile. Unter subjektiven Produktivkraeften (Marx 1857/58, S. 403) kann die Einheit von physischer Produktionsfaehigkeit und geistigen Produktivkraeften (ebd., S. 410) wie Qualifikation, Kenntnisse, Wissen, Erfahrung, Faehigkeiten und General Intellect (zu diesem Begriff vgl. Marx 1857/58, S. 602) verstanden werden. Objektive Produktivkraefte sind hingegen die nicht auf das Individuum bezogenen Faktoren des Arbeits- und Produktionsprozesses: z.B. Arbeitsmittel, Arbeitsgegenstaende, Wissenschaft, Technik, Arbeitsteilung, Kooperation, Vergesellschaftungsgrad der Arbeit. Im Kapital spricht Marx weiters von den naturbedingten Produktivkraeften der Arbeit und betont immer wieder die zentrale Bedeutung der lebendigen Arbeit im System der Produktivkraefte.

Diese Faktoren stehen in einem sich historisch dynamisch wandelnden Verhaeltnis. So erleben wir im Kapitalismus durch den Widerspruch zwischen lebendiger und toter Arbeit etwa die massive Ersetzung von erster durch letzte, was wiederum einen Faktor der Krise des Werts darstellt. Der Mensch und sein Stoffwechsel mit der Natur sind m.E. in jeder Gesellschaftsformation der wesentliche Faktor des komplexen Systems der Produktivkraefte. Selbst in einem Reich der Freiheit wird es keine Vollautomatisierung und keine Weightless Economy geben, denn Gesellschaft benoetigt immer das aktive Handeln der Hauptproduktivkraft Mensch sowie eine stoffliche Dimension der Produktion. Ich wuerde nun aber nicht sagen, dass in warenproduzierenden Gesellschaften die eigenlogische Entfaltung des Mittelaspektes -also die technische Dimension - die Produktivkraftentwicklung bestimmt. Vielmehr ist auch hier die menschliche Arbeit die ausschlaggebende Groesse, waehrend es hinsichtlich der Technik zu einer Zweck-Mittel-Verkehrung kommt, sie wird zum Selbstzweck, tritt dem Mensch als Mittel der Entfremdung, Ausbeutung und entpersonalisierenden Herrschaft entgegen, ist aber eine bewusst zur Mehrwertproduktion eingesetzte Kategorie, die nicht intendierte Folgen nach sich ziehen kann. Dass die lebendige Arbeit der wesentliche Bezugspunkt des Systems der Produktivkraefte ist, hebt auch Stefan Meretz (2000) immer wieder hervor, denn schliesslich geht es tatsaechlich um die Entwicklung der Produktivkraft der Arbeit. Der Unterschied in den Argumentationslinien besteht darin, dass ich nicht davon ausgehe, dass die technischen Mittel zu einem bestimmenden Element in diesem System werden koennen, sondern dass Technik zu einem Selbstzweck werden kann. Das System selbst fasse ich in Kategorien der lebendigen Arbeit, subjektiver, objektiver und naturaler Faktoren, S. Meretz spricht von einem Verhaeltnis zwischen Mensch, Natur und Mittel. Beide Ansaetze haben insgesamt mehr Gemeinsames als Trennendes, auch dadurch, dass sie sich  grundsaetzlich gegen einen 

Das Verhaeltnis von Technik und Gesellschaft ist ein wechselseitiges und dialektisches. Technikentwicklung ist einerseits ein gesellschaftlicher Prozess, Technikanwendung beeinflusst und veraendert andererseits wiederum gesellschaftliche Strukturen und Verhaeltnisse, wobei sie durchwegs auch nichtintendierte Folgen mit sich bringen kann. Wird dieser Prozess auf die Wirkung von Technik auf Gesellschaft reduziert oder wird gesellschaftliche Entwicklung als zumindest vorwiegend technisch induziert angesehen, so koennen wir von einem Technikdeterminismus sprechen. Dieser verkennt in der Regel, dass Technik nur eine gesellschaftliche Kategorie ist, eine zweckmaessig orientierte Einheit der Mittel, Verfahren, Fertigkeiten und Prozesse , die notwendig sind, um definierte Ziele zu erreichen; eine Einheit, der oekonomische, politische und kulturelle Kategorien vorgelagert sind, wobei diese Einheit aber wiederum auf diese Kategorien zurueckwirkt. Karl Marx hat es, aehnlich wie spaeter etwa Herbert Marcuse oder Ernst Bloch, auf wunderbare Weise verstanden, das Verhaeltnis von Technik und Gesellschaft dialektisch zu begreifen. Das 13. Kapitel des 1. Band des Kapitals legt Zeugnis davon ab. Nur ein Beispiel: "Die von der kapitalistischen Anwendung der Maschinerie untrennbaren Widersprueche und Antagonismen existieren nicht, weil sie nicht aus der Maschinerie selbst erwachsen, sondern aus ihrer kapitalistischen Anwendung! Da also die Maschinerie an sich betrachtet die Arbeitszeit verkuerzt, waehrend sie kapitalistisch angewandt den Arbeitstag verlaengert, an sich die Arbeit erleichtert, kapitalistisch angewandt ihre Intensitaet steigert, [...]" (Marx 1867, S. 465). 

Eine Gefahr, die ich in der Diskussion um "Freie" Software sehe, ist nun, wie ich beobachtet habe, dass von aktuellen technischen und organisatorischen Entwicklungen haeufig auf einen Automatismus der emanzipatorischen gesellschaftlichen Veraenderung geschlossen wird. Die Folge sind Technikdeterminismus, Geschichtsmetaphysik und eine monokausale und eindimensionale Aufloesung des Verhaeltnisses von Technik und Gesellschaft. Ich behaupte damit nicht, dass Stefan Meretz grundsaetzlich technikdeterministisch argumentiert, da er durchwegs um Differenzierung bemueht ist, sondern dass in der Diskussion um "Freie" Software ein zu starker Technikoptimismus vorherrscht, der verkennt, dass es eine Ambivalenz gibt, die darin besteht, dass moderne technische Entwicklungen positive Moeglichkeiten realisieren helfen koennen, andererseits aber auch zur Unterbindung von Realisierungsmoeglichkeiten beitragen koennen.

Leider reduziert aber auch S. Meretz an einzelnen Stellen das komplexe Verhaeltnis von Technik und Gesellschaft auf rein technisch induzierte gesellschaftliche Veraenderungen. Ein solcher Faux pas ist auch bereits Marx passiert: "Die Handmuehle ergibt eine Gesellschaft mit Feudalherren, die Dampfmuehle eine Gesellschaft mit industriellen Kapitalisten" (Marx/Engels 1846/47, S. 130). Meretz/Schlemm (2001, S. 49) schliessen sich nun einer Aktualisierung dieses Zitates fuer die Informationsgesellschaft an: "Die vernetzte Muehle, sie ergibt eine Gesellschaft mit Sozialisten" (Goehring 1999, S. 130). "Ergeben"  impliziert dabei aber einen technisch induzierten und monokausal determinierten Veraenderungsprozess, der in eine qualitativ andere Gesellschaft fuehrt. Verkannt wird, dass jede Technik durchwegs ambivalente Wirkungsweisen, verschiedene Anwendungen und Folgen nach sich ziehen kann und dass Technik nicht die historische Entwicklung bestimmt.

Aehnliches Bauchweh befaellt mich, wenn in der Diskussion von einer GPL-Gesellschaft oder der "Freien" Software als Entwicklungsmodell fuer eine andere Gesellschaft gesprochen wird. Diese Kritik ist aber nicht verallgemeinerbar, da ja S. Meretz etwa auch betont, dass sich eine "Keimform" (zum Keimformbegriff siehe unten) nicht automatisch durchsetzt und dass Produktivkraftentwicklung nicht auf Technik reduziert werden kann. 

Ich muss sagen, dass ich hinsichtlich allgemein-philosophischer Scihtweisen und auch spezifisch hinsichtlich des Technikbegriffs und der Dialektik der gesellschaftlichen Entwicklung stark vom Werk Herbert Marcuses beeinflusst bin. Marcuse (1966a) kritisiert Dialektiken der gesellschaftlichen Entwicklung, die davon ausgehen, dass sich negierende Kraefte, die die fuer das System spezifischen Antagonismen sprengen und zu einer neuen Stufe fuehren, innerhalb dieses Systems entwickeln. Es stellt sich dabei die Frage, ob in der hochentwickelten technischen Basis der kapitalistischen Produktion die materielle Grundlage fuer die Entfaltung der sozialistischen Produktivitaet gegeben ist. 

Marcuse kritisiert nun, dass bei solchen Annahmen allzu oft von einer historischen Notwendigkeit einer fortschrittlichen, befreienden Weise ausgegangen wird und verkannt wird, dass es auch gesellschaftliche Kraefte geben kann, "die stark und materiell genug sind, um fuer eine ganze Periode die Gegensaetze zu neutralisieren, zu suspendieren oder sogar die negativen, sprengenden Kraefte in positive zu verwandeln, welche das Bestehende reproduzieren anstatt es zu sprengen" (Marcuse 1966a, S. 197). Marcuse weist immer wieder darauf hin, dass bestimmte technische Entwicklungen zwar durchwegs Basis fuer die historische Stufe der Menschheit sind, "auf der diese technisch imstande ist, eine Welt des Friedens zu schaffen -eine Welt ohne Ausbeutung, Elend und Angst" (Marcuse 1965, S. 123). Genauso sei aber auch moeglich, dass technische Entwicklung zur Ausbildung einer Standardisierung des Denkens und des Handelns, einer technologischen Rationalitaet, einem eindimensionalen und falschen Bewusstsein sowie falschen Beduerfnissen beitraegt (vgl. dazu z.B. Marcuse 1941, 1966b, 1967). Marcuse betont immer wieder diese Ambivalenz der Wirkungsweisen moderner Technologien, dass nicht determiniert ist, welche Entwicklung dominiert und dass sich grundsaetzlicher gesellschaftlicher Wandel nicht notwendigerweise durchsetzt. So meint er etwa: "Ich moechte nochmals hervorheben, dass ich diese [technische] Entwicklung (noch) nicht bewerte: sie kann fortschrittlich oder regressiv, humanisierend oder fortschrittlich sein" (1966b, S. 172). Oder: "Die Technik selbst kann Autoritarismus ebenso foerdern wie Freiheit, den Mangel so gut wie den Ueberfluss, die Ausweitung von Schwerstarbeit wie deren Abschaffung" (Marcuse 1941, S. 286).

Auch in Bezug auf die modernen Medien zeigt sich die von Marcuse angesprochene Ambivalenz der Wirkungsweisen. Einerseits haben wir es mit einer massenmedial vermittelten Erzeugung und Simulation von Hyperrealitaet zu tun, die durch die Zusammensetzung entkontextualisierter Symbole und Bilder manipulativ neue Bedeutungen generiert, um oeffentliche Meinungen in bestimmter Weise zu lenken (Bsp. CNN-Berichterstattung im Golfkrieg oder unlaengst bei der Schuerung von Rache und Kriegslust in Bezug auf "America's New War"). In diesem Zusammenhang ist die in der Kritischen Theorie von Marcuse, Adorno und Horkheimer formulierte Kulturindustriethese richtig, die besagt, dass die Kulturindustrie falsches Bewusstsein, ein eindimensionales Massenbewusstsein (Marcuse 1967) und eine instrumentelle Vernunft (Horkheimer 1946) erzeugt. Die neuen Technologien werden genau in diesem Sinn funktional eingesetzt. Andererseits bietet sich gerade fuer Protestbewegung die Moeglichkeit, die neuen vernetzenden Medien fuer ihre Selbstorganisation unterstuetzend einzusetzen (vgl. Fuchs 2001b). Die neuen Technologien widerspiegeln gesellschaftliche Herrschaftsverhaeltnisse, nichtsdestotrotz ist eine produktive Aneignung durch Protestbewegungen moeglich. 

S. Meretz (2001) schlaegt mit Bezug auf Klaus Holzkampf ein 5-Stufen-Modell fuer dialektische Entwicklungsprozesse vor. Fuer den gesellschaftlichen Prozess sollten meiner Ansicht nach die Erkenntnisse Marcuses staerker hervorgehoben werden: Dass naemlich die Ausbildung eines kritischen Bewusstseins,  emanzipatorischer Beduerfnisse, von Faehigkeiten und Kraeften, die ueber die Lebensbedingungen der bestehenden Gesellschaft hinausweisen, von Autonomie und einer auf all dem ansetzenden Praxis wesentliche und notwendige Bedingung fuer die Realisierung einer Umwaelzung historisch herangereifter Entwicklungen darstellt, das also der Mensch in Form der "revolutionaeren Klasse selbst" die groesste Produktivkraft ist (MEW 4, S. 181) und es auf die "geschichtliche Selbsttaetigkeit" (MEW 4, S. 490), also die Selbstorganisation der Menschen als umwaelzender Praxis ankommt. Des weitern wuerde ich auch nachhaltig betonen, dass die gesellschaftliche Entwicklung ein offener Prozess ist, der viele Richtungen annehmen kann und dass "Keimformen" auch so gestaltet werden koennen, dass es zu keiner alternativen Entwicklung kommt, sondern dass das falsche Bewusstsein der Menschen und die bestehenden Verhaeltnisse stabilisiert werden. 

Ich kann mir vorstellen, dass evtl. auch Stefan Meretz diesen Gedanken zustimmt, da ich vieles davon auch bei ihm in anderer Form formuliert finde. Der wesentliche Unterschied betrifft nun die Frage nach der Bewertung der "Freien" Software und nach dem Verhaeltnis von Innen und Aussen. S. Meretz ist durchwegs zuversichtlich, dass diese ein Modell fuer eine neue Gesellschaft darstellen koennte. Ich stimme voll mit Aussagen ueberein, die betonen, dass eine andere Gesellschaft auf individueller Selbstentfaltung und sozialer Selbstorganisation basiert, solche Fragen sind auch fuer mich grundlegendes Thema meiner Arbeit (vgl. z.B. Fuchs 2001b). Auch S. Meretz' Aussage, dass Selbstentfaltung "nur denkbar und praktisch moeglich in herrschaftsfreien gesellschaftlichen Vermittlungsformen" ist, unterschreibe ich voll und ganz, denn sie verdeutlicht den Zusammenhang von Selbstverwirklichung, -bestimmung, -organisation und herrschaftsfreiem Sozialismus, beides bedingt sich m.E. nach wechselseitig, eines ist nicht ohne dem anderen zu haben, kann aber auch nicht auf das jeweilige Andere reduziert werden.

Ich wuerde nun aber eher sagen -und eben in diesem Punkt wird mir S. Meretz nicht zustimmen -, dass die "Freie" Software im Sinn von Marcuse vorwiegend systemstabilisierend wirkt. Ich denke, dass die neuen Arbeitsformen grossteils nicht die Selbst-Bestimmung des Menschen foerdern, sondern neue ideologische Einbindungen ins System darstellen, die die Selbst-Entfremdung als objektiven Prozess weiter vorantreiben. Denn wer sich selbst bestimmen will, muss sich selbst sein und das Universum falscher Beduerfnisse und introjizierter Denkweisen transzendieren. Eben dies stelle ich aber in Bezug auf neue Arbeitsweisen und "Freie" Software nur in Randbereichen fest (interessant dazu sind etwa die wissenschaftlichen Studien zur "neuen", flexiblen Produktionsweise). Die Entwicklung ist auch hier nicht determiniert, aber meine Einschaetzung lautet nichtsdestotrotz, dass eher Stabilisierung, denn Transzendierung stattfindet. Auch S. Meretz weist darauf hin, dass das Bewusstsein ueber ihr Tun in der FSW-Bewegung sehr gering ausgebildet ist. Gewiss werden Taetigkeiten in einer anderen Gesellschaft gewisse Elemente umfassen, die sich in mancher Hinsicht in heutiger Arbeit irgendwie andeuten. Wesentlich erscheint mir aber, dass kein linearer, deterministischer Uebergang stattfindet und dass eine andere Gesellschaft eine Emergenz einer Unmenge an neuen Qualitaeten von Arbeit und Technik mit sich bringen wird. 

Wesentlich ist in Bezug auf grundlegenden gesellschaftlichen Wandel auch die Frage nach dem Unterschied und der Grenze zwischen Innen und Aussen. Die Frage zielt darauf ab, ob eine bestehende Gesellschaft negierende Kraefte diese von innen oder von aussen aufheben koennen und was unter diesen beiden Kategorien ueberhaupt zu verstehen ist. Marcuse (1966a) diskutierte diese Frage bereits und ich Folge seiner Einschaetzung. Er geht davon aus, dass es in der buergerlichen Gesellschaft negierende Kraefte gibt, die ausserhalb des Systems auf dessen Aufhebung hin- und gegen dieses arbeiten. Aussen versteht er "im Sinne von gesellschaftlichen Kraeften, die Beduerfnisse und Ziele repraesentieren, welche in dem bestehenden antagonistischen Ganzen unterdrueckt sind und in ihm nicht zur Entfaltung kommen koennen" (1966a, S. 198). Damit meint er also die potentielle revolutionaere Hauptproduktivkraft Mensch, die ihr Bewusstsein und ihre Praxis ausserhalb des Systems stellen kann, dieses ueberschreiten und auf die Aufhebung des alten Ganzen hinarbeiten kann. Die "Keimform" umfasst also auch fuer Marcuse nicht gesellschaftliche Strukturen, sondern emanzipatorisches menschliches Bewusstsein, das aber in der fortgeschrittenen Industriegesellschaft zunehmend in das System-Innere absorbiert werde. 

Wie Marcuse gehe ich davon aus, dass die materielle Basis der Gesellschaft eine bestimmte Entwicklung erreicht haben muss, damit ein derartiges emanzipatorisches Aussen grundsaetzlich ins Reich der Freiheit fuehren kann. Den Unterschied zu S. Meretz sehe ich nun darin, dass dieser vorwiegend von einem materiellen und oekonomischen Aussen ausgeht, waehrend ich meine, dass oekonomische Prozesse sich im Kapitalismus vorwiegend Innen abspielen und politisch selbstorganisierte, auf Basisdemokratie und eine neue Gesellschaft abstellende Bewegungen am ehesten geneigt sind, sich selbst nach Aussen zu wenden. "Freie Software" wird von Meretz als ein Organisationsprinzip begriffen, dass ausserhalb der Verwertung steht, waehrend ich eher zur Ansicht neige, dass es nur ein ausserhalb der Verwertung in Form politischer Selbstorganisationsbewegungen gibt. Worin wir uns einig sein duerften, ist, dass die negierenden aeusseren Kraefte nicht mechanistisch in eine andere Gesellschaft fuehren. 

In Kritiken an meinem Aufsatz in den Streifzuegen (Fuchs 2001a) war immer wieder zu hoeren, dass es idealistisch sei, kritisches Bewusstsein aussen anzusiedeln. Tatsaechlich ist Subjektivitaet aber ein entscheidender Faktor der Marxschen und der Marcuseschen Subjekt-Objekt-Dialektik (vgl. Marcuse 1966c). Die inneren Widersprueche der Gesellschaft und die Entwicklung der Produktivkraefte vollziehen sich objektiv, es erfolgt aber nicht automatisch eine Entwicklung in Richtung eines sozial und oekologisch nachhaltigen Reichs der Freiheit. Dazu bedarf es emanzipatorischer Subjekte, die ein Klassenbewusstsein ausbilden und dieses in reale gesellschaftliche Kaempfe einbringen. Es ist nicht gewiss, ob sich dieses Bewusstsein ueberhaupt bilden kann und wie darauf aufbauende Kaempfe ausgehen. "die in den Widerspruechen verfangenen (materiellen und intellektuellen) Produktivkraefte werden frei zum Uebergang in die ,hoehere' geschichtliche Form gesellschaftlichen Seins im bewussten Kampf mit den bestehenden Gewalten und den von ihnen bestimmten Interessen und Institutionen. Der Ausgang haengt von den Bedingungen der Moeglichkeit dieses Kampfes und des sich in ihm entwickelnden Bewusstseins ab. Dazu gehoert, dass seine Traeger ihre Sklaverei und deren Gruende begriffen haben, dass sie ihre Befreiung wollen und die Wege dazu gesehen haben" (Marcuse 1966c). 

Diese Vorstellung schliesst fuer Marcuse immer mit ein -und darin folge ich ihm -, dass bestehende Techniken nicht einfach in die neue Gesellschaft uebernommen werden koennen, sondern dass sich eine Unzahl an neuen Qualitaeten ergeben muss, um das Reich der Freiheit zu realisieren: "Die technische Transformation ist zugleich eine politische, aber die politische Aenderung wuerde nur in dem Masse in eine qualitative gesellschaftliche Aenderung uebergehen, wie sie die Richtung des technischen Fortschritts aendern -das heisst eine neue Technik entwickeln wuerde. Denn die bestehende Technik ist zu einem Instrument destruktiver Politik geworden" (Marcuse 1967, S. 238).

Die biologische "Keimform"-Metapher finde ich nicht sonderlich angebracht, da dies eine relativ lineare und determinierte Entwicklung vom Keim zum Spross und schliesslich zur fertigen Pflanze nahe legt. Besser gefaellt mir die etwas anders gemeinte Kategorie des Rhizoms bei Gilles Deleuze und Félix Guattari (1977), die auf gesellschaftliche Selbstorganisationsnetzwerke hinweist, die durchwegs auch ein Aussen konstituieren koennen, das einen emanzipatorischen Uebergang einleitet (vgl. Fuchs 2001b).

Verdeutlichen moechte ich noch, was ich unter "richtig" und "falsch" verstehe. Dass wir alle das System mittragen, da wir innerhalb dessen ueberleben muessen und daher gezwungen sind, zu arbeiten und zu konsumieren, ist eine simple Feststellung. Es ist aber ein qualitativer Unterschied zwischen notwendigen Systemzwaengen (Konsum, Lohnarbeit usw.), und der Affirmation des Systems in jenen Theorien und Gedanken, die behaupten, es zu kritisieren und zu transzendieren. Wir alle muessen konsumieren und stabilisieren, muessen dies aber nicht als gut betrachten. Dies ist der wesentliche Unterschied. Vor allem postmodernistische politische Strategien begreifen ein reines Innen als Aussen und formulieren politische Praxen, die auf Identitaet und Differenz basieren, die als dem System aeusserlich begriffen werden, es aber tatsaechlich von innen her affirmieren. Eine Weigerung in Gedanken ist immer moeglich, reicht aber nicht aus, es muss sich immer auch emanzipatorisches Handeln anschliessen. Obwohl wir uns innerhalb befinden, koennen wir gleichzeitig politisch ausserhalb gegen das Innen fuer ein neues Ganzes agieren. Wir sind zwar alle IdiotInnen des Kapitals, gemeint war diese Kategorie aber anders: Naemlich in Bezug auf Strategien, die meinen, sich ausserhalb zu stellen, die aber vorwiegend innerhalb stabilisierend wirken (koennen). Und dass sich in der FSW-Bewegung kaum kritisches Bewusstsein gebildet hat, steht ausser Frage. Zum Begriff der "Wahrheit" meint Marcuse, dass ein alternativer Gesellschaftsentwurf dann wahr ist, wenn er mit den realen Moeglichkeiten uebereinstimmt, die die bestehende Gesellschaft als Basis bietet und wenn er die bestehende Totalitaet als falsch erweisen kann, indem er die Aussicht bietet, die Errungenschaften der Zivilisation zu erhalten und zu verbessern, das Wesen der bestehenden Gesellschaft erfasst und der Verwirklichung einer Befriedung des Daseins groessere Chancen bietet (Marcuse 1967, S. 232). Marcuse bezeichnet diesen Wahrheitsbegriff auch als "historische Rationalitaet". Bewusstse
liessende Praxis historisch rational sind. 

Abschliessend moechte ich noch kurz etwas sagen zu einem von Annette Schlemm (2001) formulierten Einwand auf meine Feststellung, dass der Begriff "Freie Software" zynisch sei, da der Grossteil der Weltbevoelkerung so arm ist, dass er von Softwareproduktion noch nie etwas gehoert hat oder andere Sorgen hat, die sich auf das unmittelbare Ueberleben beziehen: "Brauchen arme Menschen etwa keine Freiheit? Klar brauchen die Hungernden keine Software zum Sattwerden. Aber dies war auch nie mit "Freier Gesellschaft" gemeint" (Schlemm 2001). Hier fand eine Missinterpretation statt, denn kritisiert wurde von mir eine immanente und nicht eine transzendierende Verwendung  des Freiheitsbegriffs. Ich stelle in Frage, dass es Freiheit in einer unfreien Welt geben kann. Aber natuerlich tritt in einer freien Gesellschaft Musse an Stelle der Arbeit, geistige noch staerker an Stelle von materieller Arbeit, Feiertag an Stelle des Arbeitstages, nichtoperationelles Denken an Stelle der instrumentellen Vernunft, Solidaritaet an Stelle des Konkurrenzkampfes, Sinnlichkeit anstelle von Repression, sie umfasst des weiteren Elemente wie den Frieden als Dauerzustand, das Ende von materiellem und psychischem Mangel. Dies bedeutet auch die Entwicklung der Menschen zu allseitigen Individuen (vgl. Marx/Engels 1845/46, S. 424) in einer Gesellschaft, in der "Jeder nicht einen ausschliesslichen Kreis der Taetigkeit hat, sondern sich in jedem beliebigen Zweige ausbilden kann, die Gesellschaft die allgemeine Produktion regelt und mir eben dadurch moeglich macht, heute dies, morgen jenes zu tun, morgens zu jagen, nachmittags zu fischen, abends Viehzucht zu treiben, nach dem Essen zu kritisieren, wie ich gerade Lust habe, ohne je Jaeger, Fischer, Hirt oder Kritiker zu werden." (Marx/Engels 1845/46, S. 33). Und das heisst natuerlich auch: Luxus und Software fuer alle.

Zusammenfassend laesst sich sagen, dass die Diskussion um die Keimformhypothese zeigt, dass es umstritten ist, entlang welcher Linien sich das Innen und das Aussen der Gesellschaft konstituieren. Erfreulich ist, dass es grosse Uebereinstimmungen hinsichtlich der Notwendigkeit einer auf Selbstorganisation und Selbstentfaltung basierenden Gesellschaft zu geben scheint. Auch darueber, dass sich das Aussen durch Prozesse der Selbstorganisation konstituiert, scheint es noch einigermassen aehnliche Ansichten zu geben. Was genau nun aber Selbstorganisation bedeutet und ob sich diese oekonomisch, politisch, kulturell oder technologisch bzw. in kombinatorischen Ensembles konstituiert, dazu gibt es verschiedenste Argumentationen, die zur Vertiefung der Einsichten in die Funktionsweise der gesellschaftlichen Entwicklung der Produktivkraefte, der materialistischen Dialektik und von Aufhebungsbewegungen beitragen koennen. Die Diskussion spielt sich des weiteren im Spannungsfeld der ambivalenten Wirkungen moderner Technologien ab, wobei es um die Frage geht, ob diese vorwiegend ein Moment der Einpassung der Individuen ins System darstellen, das dazu beitraegt, dass die Gesellschaft dazu tendiert, totalitaer zu werden, oder ob sie eine neue Gesellschaft mitproduzieren helfen koennen oder diese gar antizipieren. Dieses Spannungsfeld stellt sich derart dar, dass die "Aenderung der etablierten Richtung des Fortschritts einen grundlegenden sozialen Wandel bedeuten" wuerde, "aber sozialer Wandel setzt voraus, dass ein vitales Beduerfnis nach ihm besteht sowie die Erfahrung unertraeglicher Verhaeltnisse und ihrer Alternativen -und eben dieses Beduerfnis und diese Erfahrung werden in der etablierten Kultur daran gehindert, sich zu entwickeln" (Marcuse 1965, S. 125).

 Literatur:

 Deleuze, Gilles/Guattari, Félix (1977b) Rhizom. Berlin. Merve

 Fuchs, Christian (2001a) Die IdiotInnen des Kapitals. In: Streifzuege. Nr. 1/2001. S. 13-18

 Fuchs, Christian (2001b) Soziale Selbstorganisation im informationsgesellschaftlichen Kapitalismus. Wien/Norderstedt. Libri BOD

 Goehring, Wolf (1999) Mittels Informations- und Kommunikationstechnik die Warenproduktion dialektisch aufheben? In: Becker, Joerg/Goehring, Wolf (Hrsg.) (1999) Kommunikation statt Markt. GMD Report 61. S. 129-140

 Horkheimer, Max (1946) Zur Kritik der instrumentellen Vernunft. Frankfurt/Main. Fischer. 

 Marcuse, Herbert (1941) Einige gesellschaftliche Folgen moderner Technologien. In: Herbert Marcuse Schriften Band 3: Aufsaetze aus der "Zeitschrift fuer Sozialforschung". 1979. Frankfurt am Main. Suhrkamp. S. 286-319

 Marcuse, Herbert (1965) Bemerkungen zu einer Neubestimmung der Kultur. In: Ders. Schriften, Band 8. Frankfurt/Main. Suhrkamp. S. 115-135

 Marcuse, Herbert (1966a) Zum Begriff der Negation in der Dialektik. In: Ders. Schriften, Band 8. Frankfurt/Main. Suhrkamp. S. 194-199

 Marcuse, Herbert (1966b) Das Individuum in der Great Society. In: Marcuse Schriften 8. S. 167-193

 Marcuse, Herbert (1966c) Zur Geschichte der Dialektik. In: Ders. Schriften, Band 8. Frankfurt/Main. Suhrkamp. S. 200-226

 Marcuse, Herbert (1967) Der eindimensionale Mensch: Studien zur Ideologie der fortgeschrittenen Industriegesellschaft. Muenchen. dtv. Neuauflage 1994

 Marx, Karl (1857/58) Grundrisse der Kritik der politischen Oekonomie. Berlin. Dietz. MEW, Band 42

 Marx, Karl (1867) Das Kapital. Band 1: Der Produktionsprozess des Kapitals. Berlin. Dietz. MEW, Band 23

 Marx, Karl/Engels, Friedruch (1845/46) Die deutsche Ideologie. Berlin. Dietz. MEW 3. S. 5-530

 Marx, Karl/Engels, Friedrich (1846/47) Das Elend der Philosophie. Berlin. Dietz. MEW, Band 4. S. 63-182

 Meretz, Stefan (2000) LINUX&CO. Freie Software - Ideen fuer eine andere Gesellschaft. AG Spak

 Meretz, Stefan (2001) Produktivkraftentwicklung und Aufhebung. In: Streifzuege, 2/2001. S. 27-30

 Meretz, Stefan/Schlemm, Annette (2001) Die freie Gesellschaft als Selbstentfaltungs-Netzwerk. In: Marxistische Blaetter, 2/2001. S. 46-53

 Schlemm, Annette (2001) Hoch die internationale Selbstentfaltung! http://www.opentheory.org/internationale/v0001.phtml

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Web-Site: http://www.oekonux.de/
Organisation: projekt oekonux.de


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