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Re: [ox] Schenken?



Hallo Stefan und alle!

Stefan Meretz schreibt
ist echt ne Spezialdiskussion, aber auf Oekonux hat auch sowas ja
seine Fans;-)

Genau.

SMz: Bei gesellschaftstheoretischen Begriffen guckt man immer nur
auf die gesellschaftlichen-durchschnittlichen Resultate, nicht auf
den konkreten Einzelnen. Bei individualtheoretischen Begriffen
guckt man auf eben diese Einzelne; idealerweise sollten es aber
"Vermittlungsbegriffe" sein, das heisst auf den Einzelnen in seinem
gesellschaftlichen Vermittlungskontext zu gucken - und nicht auf
den Einzelnen als scheinhaft isoliertes Wesen.

HGG: In einer funktional ausdifferenzierten Gesellschaft ist eine
solch vereinfachende Dichotomie mE nicht mehr angemessen, denn
zwischen Einzelnem und Gesellschaft gibt es eine Vielzahl von
Zwischenebenen.

SMz: Ich habe oben erkenntnistheoretisch argumentiert, nicht
gegenstandsbezogen.

Ich auch. Es ging mir darum, dass das, was du (davor) als Dichotomie
"abstrakt" und "personal-konkret" bezeichnest (und in einem
Vermittlungszusammenhang aufgehoben sehen möchtest), also
gesellschaftlich-durchschnittliche Resultate und konkrete Handlungen
Einzelner, nicht nur *absolut*, also im gesamtgesellschaftlichen
Rahmen, sondern auch *relativ*, also bei der Analyse funktionaler
Teilstrukturen, zu berücksichtigen ist.  Und in dieser Mehrstufigkeit
ist das "Abstrakte" der einen Stufe das "Konkrete" der nächsten. FS
etwa hat Akteure, aber auch deutliche Strukturen, die eine von diesen
Akteuren nicht unmittelbar beeinflussbare, "abstrakte" Dynamik
entwickeln, die mit *der* gesamtgesellschaftlichen Dynamik schon
deshalb nicht identisch ist, weil sie nur ein Teil letzterer ist. Der
überdies bei 'Krisis'-artiger Argumentation leicht fehlbewertet wird
oder ganz aus dem Blickfeld gerät.  Insofern ist eine solche
weitergehende Differenzierung auch diskurstechnisch wichtig.

Vielleicht meinst du ja hier die Tatsache, dass sich Gesellschaft
stets eigenlogisch, also von konkreten Einzelnen (hinter unserem
Rücken oder vor unseren Augen) reproduziert. Das ist dann ein
Missverständnis. Das meint nämlich die Tatsache, _dass_ sich der
gesellschaftliche Zusammenhang herstellt. _Wie_ er es aber tut ist
historisches Spezifikum. Die "abstrakt-entfremdete" Form ist eine
davon, nämlich die derzeit vorherrschende.

Inwieweit eine solche abstrakte Dynamik auch *entfremdet* daherkommt,
ist eine zusätzliche Frage, die nicht so einfach zu beantworten ist,
wenn man bedenkt, dass Entfremdung ja auch subtiler als über rohe
Kommandogewalt daherkommen kann.  "Abstrakt" habe ich oben in der Tat
nicht im Marxschen Entfremdungssinne gebraucht, sondern im Sinn der
personal nicht unmittelbaren Beeinflussbarkeit.  D'accord, dass das
ein Phänomen *jedes* Zusammenhangs ist, in dem Menschen als
gesellschaftliche Wesen aktiv sind.  Aber nicht "der gesellschaftliche
Zusammenhang", denn das suggeriert Totalität und blendet aus, dass
solche Zusammenhänge mehr oder weniger umfassend und ihrerseits
strukturiert sein können.  Das meine ich mit ".. ist eine solch
vereinfachende Dichotomie mE nicht mehr angemessen".  Entfremdung
unter einem *solchen* Blickwinkel (Entfremdung in gesellschaftlichen
Teilstrukutren) zu analysieren wirft noch einmal neue Fragen auf.

Natürlich ist die Welt bunt und alles wunderbar vielfältig und
differenziert. Die Frage ist aber - egal, ob ich mir die explizit
stelle oder nicht - welchen erkennenden Zugriff ich auf diese
Buntheit nehme. Es gibt nicht gar keinen Zugriff, es gibt nicht gar
keine Reduktion: Erkennen bedeuten immer Wesentliches von
Unwesentlichem zu unterscheiden. Die ganze Totalität kann ich nicht
ins Bewusstsein heben - schon deswegen nicht, weil das ich als
Erkennender Teil des zu Erkennenden bin.

Das steht außer Frage. Mein Punkt in obiger Argumentation ist, dass
man bei der Analyse derselben (komplexen) Realität auf verschiedenen
Abstraktionsstufen *unterschiedliche* Reduktionen vornehmen wird, die
auch *unterschiedliche* Phänomene besonders deutlich zutage treten
lassen.  Wobei unsere Ergebnisse einer solchen Analyse etwa der
Realität FS hier auf der Liste sehr widersprüchlich sind.  Das macht
die Synthese auch erkenntnistheoretisch schwierig. Auch deshalb
".. ist eine solch vereinfachende Dichotomie mE nicht mehr
angemessen".

Dem entkomme ich IMHO nur, wenn meine Erkenntnismittel, die
Begriffe, gegenstandsangemessen sind. Das führt zu der Forderung,
das die Begriffe Teil der Wissenschaft sein müssen. Das sind sie in
der Regel nicht, der ungenügende Ersatz ist die Definition.

Der alte philosophische Streit um Empirie und Rationalität (dazu steht
in Utopie kreativ 135 übrigens ein interessanter Aufsatz von
M. Schumann).  Gute Wissenschaft verwendet IMHO sowieso beides und ich
sehe auch keinen großen Unterschied, wenn du die Ergebnisse von
Wissenschaft am Kriterium der Praxis misst.

gegenstandsangemessene Begriffe: Wenn der Gegenstand die _reduzierte_
Realität ist, dann stimme ich dir zu. Allerdings sollte, zumindest bei
der Auswertung, diese Reduziertheit deutlich werden. Was Pluraliltät
in dem Sinne bedeutet (also Bezug verschiedener Reduziertheiten
aufeinander), verstehe ich noch zu wenig. Mal sehen, ob mit der
2.2. hier in Leipzig mit Hörz und Richter da mehr Erleuchtung bringt.

Z.B. die Einbettung einzelner Programmierer in Softwareprojekte, die
Einbettung von Software-Projekten in die Software-Szene etc.  Jedesmal
wird in einen solchen übergeordneten Zusammenhang aber nur je ein Teil
eingebracht, denn Softwareprogrammierer sind ja nebenbei auch
Menschen, Studenten, Familienväter, Oekonuxies etc. (insbesondere bei
FS, wo sie ja nur durchschnittlich 10 h pro Woche dran sitzen),
Software-Projekte sind nicht nur als Teil der Softwareszene
interessant, sondern vielleicht auch betriebswirtschaftlich (wenn in
einer Softwarebude erstellt) usw.  Insofern finden
"Durchschnittsbildungen" in den verschiedensten Richtungen statt, und
zwar Durchschnitte von Projektionen (!), also nur von den Teilen der
Prozesse, die nicht ausgeblendet werden.  So viele "unsichtbare Hände"

Diese Durchschnitte spielen sich auf der Ebene der personalen
Kooperationen ab.

Wieso? Gerade das GNU-Projekt ist doch ein exzellentes Beispiel, dass
sich personale Kooperationen auf ein strukturelles Niveau heben können
mit einer "abstrakt-entfremdeten" (Eigen)-Dynamik, die auf die
personal-konkreten zurückwirkt.  Die "Spinner", die 1984 das
GNU-Projekt aus der Taufe hoben, (sowie die anderen Gurus der FS)
beziehen ihre heutige Reputation doch aus dieser Projektdynamik, zu
der sie zwar je personal-konkret beitragen, aber der Effekt ergibt
sich erst aus der Kohärenz ihres Handelns, der "unsichtbaren Hand",
die sie zusammenhält. 

Davon zu unterscheiden ist aber die gesamtgesellschaftliche
Kooperation - siehe das Dschungelpaper. Das geht nicht ineinander
auf, das eine ist nicht ein Teil des Anderen.

Genau diese Differenz will ich auch aufmachen, aber eben nicht nur
"gesamtgesellschaftlich". Und zwar noch immer nicht 
 
als Gegensatz im Sinne einer Alternative, sondern nur als Gegensatz
im Sinne von "zwei Seiten einer Medaille".

Das sehe ich komplett anders. Du machst damit aus Qualitäten
Quantitäten und ausserdem vermischt du IMHO zwei Dinge: Die
Tatsache, das der Mensch unbestritten ein Gesellschaftswesen ist,
hat noch nichts damit zu tun, wie er das ist, also wie er sein Leben
produziert. Die Gesellschaftlichkeit kommt ihm sui generis zu. Nicht
erst die Kultur macht ihn zum Menschen, sondern die Kultur ist
Ausdruck seines Menschseins.

Was hiesse nun "zwei Seiten einer Medaille"? Die Gesellschaft
reproduziere sich auch "personal-konkret". Da ist irgendwie was dran,
schliesslich sind es konkrete Menschen, die sich das verabreden und
herrschen. Das veranlasste ja die Arbeitsbewegung zu meinen, man müsse
die Macht erringen. Aber sobald sie die hatte (im Realsoz), war sie
genauso gekniffen und müssen erfahren, was Dominanz der Herrschaft eines
abstrakten Prinzips bedeutete. Das Medaillienbild haut also nicht hin,
es ist einfach nicht möglich, durch bloßes Wollen der abstrakten
Herrschaft eine andere Logik zu geben. Das "Personal-konkrete" zählt
nur insofern als es die Logik des Abstrakt-Äußeren exekutiert.

Die Gesellschaftlichkeit, die Kultur, *ist* für mich die andere Seite
der Medaille, ohne die personal-konkrete Aktion von Menschen nicht zu
begreifen ist.  Und umgekehrt, wobei du die kausal-zeitliche Dimension
der jeweiligen Systeme berücksichtigen musst, in der Veränderungen
ablaufen.  Das "Personal-konkrete" exekutiert nicht die Logik des
Abstrakt-Äußeren, sondern exekutiert seine eigene Logik, die sich
allerdings zu einem nicht unbeträchtlichen Teil aus dieser Logik des
Abstrakt-Äußeren konstruiert. Aber eben nicht nur. Wie subtil das
abgeht, ist dir etwa aus der Psychoanalyse sicher besser bekannt als
mir.  Und umgekehrt reproduziert sich die Logik des Abstrakt-Äußeren
aus diesen personal-konkreten Logiken. Situativ ein klassisches
Beispiel von Koevolution.

Mit deinem Rekurs auf "Wollen" und "Realsoz" vermischst du allerdings
die (von mir hier ausschließlich betretene) Ebene der Analyse und eine
voluntaristische politische Praxis.

Zugespitzt bedeutet es, dass in der Tat auf dem Wege des "gegen" die
Logik Kämpfens immer nur ein gegen die Auswirkungen der Logik Kämpfen
bleibt. Bleiben muss. IMHO ist das Besondere an der Freien Software,
dass sie sich um die alte Logik nicht schert, sondern eine neue Logik
etabliert. Also nicht auf die "andere Seite" der Medaille setzen,
sondern alle Medaillen links liegen lassen und einem Prinzip zur Geltung
verhelfen, dass keine Medaillen mehr kennt - whow, was für ein Bild;-)

Jetzt wirst du sehr mechanistisch.  In der politischen Praxis wirst du
wenigstens ab Phase 3 des Fünfschritts um das Ringen mit der alten
Logik kaum herumkommen.  Wenn du ganz viel Glück hast, dann bricht
sie, wie die Logik des Realsoz 1989, wie ein Kartenhaus zusammen.
Halte ich aber im Fall der Profitlogik für eher unwahrscheinlich. 

Selbstverwertung und Selbstentfaltung sind ein antagonistischer
Widerspruch.

Eben. Und daraus ergibt sich für mich das berühmte Fünkchen Hoffnung,
dass wir es doch mal schaffen mit der Durchbrechung der Profitlogik,
auch wenn es derzeit nicht danach ausschaut.  Unsere derzeitige
Analyse ist die Suche nach den "Sollbruchstellen" und insofern wichtig
für eine zukünftige politische Praxis.

-- 
Mit freundlichen Gruessen und besten Wünschen für das neue Jahr, 

Hans-Gert Graebe
________________________________
Web-Site: http://www.oekonux.de/
Organisation: projekt oekonux.de


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