Re: [ox] Re: [ox] Re: [ox] Die Finsternis der " Aufklärung"
- From: Stefan Meretz <stefan.meretz hbv.org>
- Date: Fri, 08 Mar 2002 16:03:42 +0100
Hallo Petra und andere,
auf diese Mail habe ich "gewartet";-) - denn sie spricht eine Dissenz
an, die so vor sich hin köchelt, und ich freue mich, dass du sie
explizierst.
RAUNHAAR aol.com wrote:
Also sprach Adorno! Kann schon sein, daß "Selbstentfaltung" i.S. von der
"einen Essenz", die als strukturierendes Prinzip sich dann wieder nur in
vielerlei "Erscheinungsformen" manifestieren wird ohne diese
universal-abstrakte (vulgo: philosophische) Denke nicht möglich ist. Insofern
soll ja nach Eurem Entwurf nur eine Totalität (durch den Wert strukturiert)
durch eine andere (durch "Selbstenfaltung" strukturiert) ersetzt werden.
"Emanzipation" ist aber m.E. nur durch das Überwinden dieser Denk- und
Handlungsform (samt Subjektform), eben einer sie strukturierenden "Essenz"
möglich.
Mir kommt es so vor, aber ob du dir gerade selbst im Wege stehst: IMHO
verdinglichst du das, was du auf der Formebene gleichsetzt: die
"Essenz". In dieser Denkweise ist "Essenz" immer ein äußeres Drittes.
Dass aber die These von der Selbstentfaltung als strukturierendem
Prinzip nur sinnvoll in erster Person gedacht werden kann, übersiehst du.
Die Kernfrage stellst du selbst, und du "musst" sie verneinen:
Daß eine Gesellschaft eine Essenz haben muß/soll versteht sich ja
nicht aus sich selbst. Vorstellbar wäre auch eine Gesellschaft in der es
keinen Unterschied gibt zwischen dem was ist und wie dies in "Erscheinung"
tritt.
Das klingt in meinen Ohren wie bloßer Mystizismus: die harmonische
Identität von Inhalt und Form? - Aber nun sind meine Ohren gewiss solche
in dieser Gesellschaft...
Ich formuliere die Frage mal so um: Muss eine Gesellschaft ein
"strukturierendes Prinzip" haben? Nein, das ist die falsche Frage, sie
impliziert ein Drittes als Telos. Die richtige Frage lautet: "Hat jede
Gesellschaft ein "strukturierendes Prinzip"? Meine Antwort ist klar: Ja,
denn Gesellschaft ist nichts anderes als "vermittelnde Infrastruktur"
(im umfassenden Sinne), die unabhängig von den konkreten einzelnen
Individuen - zugespitzt: "hinter ihrem Rücken", vornehmer: "unabhängig
vom je einzelnen Beitrag" - funktioniert. Die Frage ist nicht, ob,
sondern nur, wie Vermittlung organisiert ist.
Ich kann gefühlsmäßig völlig nachvollziehen, im antiontologischen
Überschwang gleich jegliche gesellschaftliche Vermittlung zu
exkludieren. Das ist aber IMHO genauso "verdinglichend" gedacht, was die
Kritik gegen die Verdinglichung eigentlich ausdrücken soll. Es ist damit
eine immanent bürgerliche und eben nicht transzendente Denkfigur.
Entscheidend ist IMHO, Gesellschaft erkenntnistheoretisch als
eigenständige kategoriale Ebene zu begreifen. Was du versuchst, ist
diese Eigenständigkeit in Richtung auf eine "Summe von Individuen"
aufzulösen. Das bedeutet dann nichts anderes als gedankliche Auflösung
von "Vermittlung" zugunsten einer Summe von "Unmittelbarkeiten".
Diese IMHO implizite Denklinie ist super gefährlich, die gab es mit
ziemlichen krassen Auswirkungen innerhalb des Maoismus. Die Realisation
wurde in Kambodscha versucht. Ich unterstelle dir das keinesfalls ("du
denkst so wie..."), aber ich will deutlich auf die inhaltlichen Linien
hinweisen. Sie sind IMHO so deutlich wie die strukturelle Nähe der
Zirkulationsfixierung des Arbeiterbewegungsmarxismus zum Antisemitismus.
Dann gäbe es auch keine abstrakte Herrschaft samt entsprechender
Regulationsmechanismen (z.B. sogenannte "Demokratie").
Dann gäbe es keine Vermittlung mehr.
Um den Einwänden aus dem "Fetish-thread" gleich zuvorzukommen, möchte
ich anmerken, daß dies nicht heißen soll, daß *keine* Vermittlung geben kann
oder darf und ich etwa das unmittelbare Aufgehen des Einzelnen in der
gesellschaftlichen Formation propagiere.
Den Einwand erhalte ich aufrecht, denn die Unmittelbarkeit ist bei
deiner Kritik - trotz hier getroffenener gegenteiliger Aussage - als
Alternative zur von mir behaupteten Vermittelheit impliziert.
(Eingeschlossen immer Missverstehen meinerseits.)
Es geht mir um die Aufhebung der
Totalität, was bedeutet, daß es eine Universalität geben kann in welcher
Mensch- und situtationsbezogen qualitativ unterschiedliche Vermittlungsformen
existieren von denen die Gesellschaftsmitglieder (und auch die ohne
entsprechendes anatomisches Merkmal) auch wissen, daß sie menschengemacht
sind.
Diesen Satz (ohne die Klammer, die ich nicht verstehe) kann ich voll
unterstützen: genau darum geht's!
Zur Klammer: Was oder wen meinst du mit "die ohne entsprechendes
anatomisches Merkmal"? Welches Merkmal?
Bitte wechsele nun gedanklich wieder auf die gesamtgesellschaftliche
Ebene: Was konstituiert diese Gesellschaft? Nichts? Oder eben das, was
du hier schreibst? Du ersetzt hier doch "nur" den Begriff der
"Totalität" durch den Begriff der "Universalität". Voll d'accord.
Ok, das nenne ich plaktiv "Selbstentfaltung". Es fasst die Potenz des
Individuums, genau den Ausschluss eines formierenden Prinzips dritter
Person (Wert etc.) zugunsten eines ausschliesslich gültigen Prinzips
erster Person herstellen zu können. Diese Annahme musst du auch machen,
sonst ist alles sophistische Spielerei. Im übrigen macht auch sonst der
Begriff der Aufhebung keinen Sinn.
Den insoweit z.B. Horst aber auch mir gemachten Vorwurf wir verfolgten
eine Art Primitivmaterialismus muß ich insoweit mit dem Vermerk "return to
sender" versehen. Aus meiner Sicht bezieht sich der Marxsche "Materialismus"
nicht auf die schnöde Produktion (also Mensch ringt der Natur sein Leben ab),
IMHO ist "Materialismus" eine metatheoretische Kategorie. Diesen Begriff
der "Materie" mit "Stoff" oder "Produktion" gleichzusetzen, ist schlicht
Quark. Wer hat euch diesen Vorwurf gemacht?
- Hm, mir schwant gerade, dein Hinweis könnte sich auf meine Sentenz
"Produktion und Reproduktion des gesellschaftlichen Lebens" beziehen? Es
handelt sich jedoch um ein Missverständnis und u.U. verkürzten Begriff
von "Produktion", diesen einzig auf das "von der Natur sein Leben
abringen" zu beziehen. Mit Re-/Produktion meine ich hier im umfassenden
Sinn das "Herstellen" des gesellschaftlichen Lebens. Dieser Aspekt wird
gerne vernachlässigt, und es wird so getan, als ob die Menschen ihr
Leben quasi bloß "vorfinden". In Wahrheit stellen sie es permanent her -
eingeschlossen alle stofflichen und nichtstofflichen Aspekte, Denkformen
etc.
sondern, im Rahmen seiner Metakritik am Hegelschen Begriff, auf die
gesellschaftlichen Beziehungen der Menschen untereinander (was dann
selbstverständlich auch für die Art und Sichtweise der Beziehung mit der
"Natur" Folgen zeitigt, und umgekehrt) Der Idealismus ad ultimo (Hegels Geist
), der irgendwie vom Himmel oder sonstwo herkommend die gesellschaftlichen
Beziehungen strukturieren soll und "weiterentwicklickelt" wird dechiffriert
als durch gesellschaftliches Handeln und dadurch bestimmte Denkformen
hergestellte "Realität".
Ack.
Emanzipation wäre dann nicht die "Einheit in ihrer
vielfältigen Erscheinung" sondern ein durch Vielfalt entstehendes Universum
(bitte jetzt nicht ausschließlich astro-physikalisch verstehen). Eine solche
Emanzipation ist aber mit bürgerlicher bzw. "aufklärerischer" Subjektivität
samt ihrer sakralen Transfiguration des "Selbst" und des "Individuums" nicht
machbar.
In deiner Mail auf Bennis Frage, was Transfiguration hier meint:
"die Selbstwahrnehmung und Überhöhung als "Subjekt" oder "Individuum"
Idenität mit der zugewiesenen sozialen Rolle ist/sein könnte."
Der qualitative Unterschied liegt hier im Schrägstrich: Es ist was
anderes, Subjekt mit Rolle gleichzusetzen ("ist") - sei es als
Zustandsbeschreibung oder als Behauptung eines quasi-ontischen
Zusammenhangs - oder es als nahegelegte Rolle zu begreifen ("sein
könnte"). Im ersten Fall wird die Handlungsmöglichkeit suspendiert.
Auch hier finde ich die Warnung vor der Ontologisierung bürgerlicher
Verhaltensweisen als quasi-naturale Formen verständlich, aber als
Absolutum gefährlich. Damit würde ex negativo genau das reproduziert,
was bürgerliche Wissenschaft permanent tut: die Möglichkeitsbeziehung
des Individuums zur Realität zu suspendieren (als Naturalisierung etc.).
Und ohne die können wir alles knicken - was Quark ist, denn genau das
tun wir hier: Wir nutzen unsere Möglichkeit, uns zu unserer Realität ins
Verhältnis zu setzen.
Danke für diese Mail:-)
Ciao,
Stefan
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