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Re: [ox] Freie Software und Wissenschaft



Hallo ihr Wissenschaftler!

Also zunächst mal finde ich es ja schon auffällig, dass ausgerechnet
die professionellen Wissenschaftler es sind, die auffschreien, wenn
mal jemand ihre Profession kritisiert. Oder stecke ich Dich da in die
falsch Schublade, Franz? Naja, Das Sein bestimmt das Bewusstsein :-)
Gilt für mich als gescheiterten Wissenschaftler ja genauso. Das ist
vielleicht wie mit dem Rauchen. Die ehemaligen Raucher sind die
verbiestersten Nichtraucher.

Ich bin übrigens ganz stolz, dass ich grad rausgefunden hab´, wie mein
Mailer Multireplays hinkriegt. Ich machs also diesmal im Stefan-Stil
und beantworte alle drei Mails auf einmal:

On Mon, Jul 08, 2002 at 12:22:14PM [PHONE NUMBER REMOVED], Franz J. Nahrada wrote:
Wissenschaft ist nichts anderes als Aufklärung pur - und hat damit die
selben Probleme wie diese, sie ist immer auch der Mythos, den sie zu
bekämpfen angetreten ist und sie droht immer in Barbarei umzuschlagen.

Ich möcht das neumodische Aufklärung-dreschen nicht so gerne mitmachen.

Also zunächst mal ist Aufklärungsdreschen nicht neumodisch, sondern so
alt, wie die Aufklärung selbst und zum anderen, wollte ich garnicht
dreschen. Wenn Du meine Mails im Aufklärungsthread gelesen hast,
weisst Du ja, wie ich dazu stehe.

Ein Versuch könnte sein zu sagen: wir dürfen aber auch nicht hinter die
Aufklärung zurückfallen. Wir das geht? Daran haben sich viele Leute
die Köpfe zerbrochen, wie Gebser etc. - Wir müssen erkennen, daß
die mythische, magische, rationale Art uns die Welt zugänglich zu machen
jeweils ihre Eigenberechtigung und Funktion haben, aber auch ihre dunkle
Seite und Grenze. DAnn arbeiten wir aber nicht mit der "Abrißbirne für
eine neue Großtheorie" (Robert Kurz in der letzten Krisis)

Ist das der Gebser von

http://www.integraleweltsicht.de/Gebser_Texte/U_G_Geleitwort/body_u_g_geleitwort.htm

?

Jemand hat mir mal gesagt: wenn Du Wissenschaft betreibst bist Du 
wie ein scharfes Messer.  Wahrheit kann töten und Du merkst es nicht
einmal.

Aber versuch es mal ohne Wahrheit. Du kommst in noch größeres Schlamassel!

Es geht ja nicht um Wahrheit ja oder nein, sondern um ein spezifisches
Verfahren zur Wahrheitsproduktion, nämlich das wissenschaftliche.

Im weiteren Sinne Kritische Wissenschaft versucht genau diese Probleme
mit den Mitteln der Wissenschaft selber in Griff zu kriegen und
teilweise gelingt das durchaus. Bestes Beispiel ist ja die "Dialektik
der Aufklärung" selber.

Naja. Man könnte böse bemerken daß es sich hier um Philosophie
handelt und nicht um Wissenschaft ;-)

Und man könnte ebenso böse antworten, dass jede Wissenschaft vor allem
anderen Philosophie ist.

Aber: Kritische Theorie (ich meine damit nicht nur die Frankfurter
Schule, sondern jede Theorie mit emanzipatorischem
Erkenntnisinteresse, die ihre eigenen Entstehungsbedingungen
reflektiert) findet ihre Grenze eben dann, wenn sie nur Theorie
bleibt. 

Aber auch ihre Befreiung. Wenn sie zur "Praxis" übergehen, gehen die
meisten Theorien kaputt. Paßt mir auch nicht, ist aber so eine Art 
ständige Beobachtung, gerade was Gesellschaftstheorien anbelangt.
Ist aber nicht weiter tragisch. Muß man halt bessere Theorie machen.
Im Augenblick ist hier ein guter Platz dafür ;-)

Das ist genau das Bild von der Theorie, die erst gemacht wird und dann
praktisch erprobt, das ich angreife. Mir geht es genau darum eine
Theorie zu haben die ebenso praktisch ist, wie die Praxis theoretisch.

Wissenschaft hat es natürlich mit Reproduzierbarkeit zu tun, aber
eben auch mit dem Verständnis beschränkter Reproduzierbarkeit.

Nein ihrem Idealbild nach nicht. Es geht nicht um das Verständnis von
beschränkter Reproduzierbarkeit sondern gerade darum die Verständnis
(also das System, das Modell, ...) so weit zu treiben, dass möglichst
wenige Einzelfälle draussen bleiben und diese sind dann nicht mehr
Gegenstand von Wissenschaft auch wenn sie in ihren besseren Varianten
sich dieser Beschränktheit immerhin noch bewusst wird, so will sie sie
nicht mehr _verstehen_. Dafür gibt es dann Priester und Therapeuten.

Ich möchte als Beispiel die Pflanzenbetrachtung wählen: Erst durch
genaues Bobachten der Natur kommst du drauf, wie viele Faktoren 
zusammenwirken müssen, um ein bestimmtes Resultat hervorzubringen.
Und wenn Du versuchst es zu "plastizieren", also experimentell 
nachzuverfolgen, dann merkst Du die verschiedenen Zufalls und
Freiheitsgrade
in der Natur. Das ist dann nochmal ein staunendes Lernen. Das ist
auch Theorie, das ist auch Wissenschaft. Und zwar m.E. die zeitgemäße Form.

Sprich: Die Wissenschaft versteht immer mehr der Faktoren, die die
Pflanzenbetrachtung ausmachen und systematisiert sie so also. Zum
Staunen regt auch schon die Regelmäßigkeit der Planetenbahnen oder die
Entdeckung der Gesetze des Freien Falls an, das kann nicht das
Kriterium sein.

Die Zeit, in der die Produktion der Welt nach dem Muster einer gigantischen
Kopieranstalt eingerichtet war, ist doch am Verblassen. 

Hm, sehe ich anders. Immer mehr wird kopierbar in dem Masse, wie immer
mehr digitalisiert wird. Nur ist die Kopie dann eben auch so einfach,
dass die Stückzahlen immer kleiner werden können. 

Mc Luhan hat einmal gesagt, für die große industrielle Kopiermaschine
ist es zweitrangig, ob sie Cornflakes oder Cadillacs hervorbringt.

Die Industrie ist keine Kopiermaschine. Ein Kopierer zeichnet sich ja
dadurch aus, dass man beliebiges reinsteckt und es kommt hinten eine
Kopie raus. Die (alte fordistische) Industrie konnte das jedoch gerade
nicht. 

Genauso hat die Wissenschaft die Welt nur grob erfaßt, hat viele
feine Phänomene und Unterschiede beiseite gelassen. 

Naja, dass stimmt wohl schon, würde ich aber erstmal als
postindustrielle Transformation von Wissenschaft bezeichnen. Damit
bleibt die Wissenschaft genauso ihren Prinzipien verhaftet, wie der
Postfordismus dem Kapitalismus. Das heisst natürlich nicht, dass das
nicht auch sein gutes haben kann, nur rehabilitiert es Wissenschaft
auch noch nicht.

Am bereich der Medizin wird das am klarsten: die Mittel der heutigen
Wissenschaft reichen kaum aus, die Krankheit eines Menschen zu erklären.

Im Erklären ist sie schon verdammt gut. Nur hilft es meistens nichts,
weil keine Therapie für die Diagnose vorhanden ist. Die Medizin
unterscheidet sich also in dieser Frage auch nicht so sehr von den
Sozialwissenschaften ;-)

Die Wissenschaft wie es sie gibt präformiert die Welt nach dem Bild der
Kopiermaschine: aber das Bild ist feiner geworden.

Wir haben dezentrale Automation und globale Intelligenz: wir haben
tausend mal mehr denkkapazität. Und wir sind immer mehr interessiert
am Einzelfall, am Einzigartigen. Hier überschneiden sich Wissenschaft und
Kunst:
die prinzipien so anzuwenden, daß das Einzigartige zur Geltung kommt.

Erst hier vollendet sich Wissenschaft: Wo sie bis an ihre Grenzen geht.

Die Überschneidung mit Kunst finde ich spannend. Früher war das ja
noch das selbe. Wenn man jetzt sagt, die Trennung von Wissenschaft und
Kunst beruht darauf, dass die einen das systematische suchen und die
anderen das einzigartige und wenn dann andererseits in der
Wissenschaft neuerdings eine Tendenz zum Einzelfall und in der Kunst
eine weg vom einzigartigen "Werk" (wie andernthreads ja schon
ausgeführt), dann würde das bedeuten dass tendenziell beides wieder
zusammenwächst.

...

Während wir hier so reden, hat sich die Kopiermaschine wie ein verrückt
gewordener
Rasenmäher in das Reich des Geistes eingemischt und versucht es zu
bewirtschaften.

Sie hebt die Trennung von Wissenschaft und Praxis auf ihre Weise auf:
geistiges Eigentum, Lizenzen. Die Reproduzierbarkeit als Gegenstand der
Bezollung. Wissenschaft als Claim für Wirtschaft. Sie vermengen sich zu 
einer Feudalaristokratie, während wir die Kopiermaschinen bedienen dürfen.

Heißt da nicht Wissenschaft als Gemeingut zu retten auch gleichzeitig
tatkräftig ihre Veränderung zu fordern?

Wissenschaft war nie ein Gemeingut und wird es erst mit ihrer
Abschaffung (lies: Überwindung) werden.

... jetzt zu Hans-Gert:

On Mon, Jul 08, 2002 at 03:48:33PM +0200, Hans-Gert Graebe wrote:
irgendwie scheint es sehr verschiedene Arten von Wissenschaft zu
geben, denn die Aspekte, die ihr beschreibt, sind nur ein kleiner Teil
dessen, wa sich (unter sehr praktischen Aspekten) bei mir mit dem
Begriff "Wissenschaft" verbindet. Insbesondere kann ich mir kaum
vorstellen, dass ohne spielerische Elemente und Neugier, allein durch
"harte Knochenarbeit" *wirklich neue* (d.h. überraschende, in der Form
noch nicht gedachte) wissenschaftliche Erkenntnisse wachsen.  Siehe
dazu die von mir schon mehrfach zitierte Arbeit von Fuchs-Kittowski.

Korrekt. Genauso wie kein Spiel ohne harte Arbeit entstehen kann, kann
auch keine Wissenschaft ohne spielerische Elemente entstehen.
Letztenendes kann es sowieso garkein Leben ohne spielerischen Elemente
geben. Was ich jedoch sagen wollte, ist, dass bei Freier Software die
Dynamik direkt aus den spielerischen Elementen (Selbstentfaltung)
kommt, wärend das in der Wissenschaft nicht so ist. Die spielerischen
Elemente sind dort funktional für die Wissensaneignung (wenn man nett
ist) oder die Kariere (wenn man böse ist). Aber da kommen wir halt
wirklich vielleicht in den Bereich, wo die eigene Erfahrung regiert.
Ich möchte ja keinen Wissenschaftlerinnen irgendwie ihre
Selbstentfaltung in Abrede stellen, wenn sie denn meinen, dass sie sie
da finden, ich hab halt nur meine - ganz persönlichen - Zweifel.

Ich verweise auch auf den Beitrag von Ilkka Tuomi
<a href= "http://firstmonday.org/issues/issue6_1/tuomi/index.html";>
Internet, Innovation, and Open Source: Actors in the Network</a><br>
First Monday, volume 6, number 1 (January 2001)
und den Ansatz der "thought communities", auf den hier vor einiger
Zeit hingewiesen wurde. Da ist, glaube ich, viel Nützliches für diesen
Thread hier zu finden.

Ich hab den Artikel mal überflogen. Ich bin mal unfair und gehe
inhaltlich nicht drauf ein, sondern rein formal. Ich nehme mal ein
Zitat daraus - zugegeben völlig aus dem Zusammenhang gerissen - um
deutlich zu machen, was an Wissenschaft wirklich nervtötend ist:

" (e.g., DiBona, Ockman, & Stone, 1999 Wayner, 2000; Leonard, 2000;
Raymond, 1998b; Raymond, 1998a; Bezroukov, 1999; Kuwabara, 2000)"

Wow. Der Kern von solchen Zeilen ist doch:

- Der Autor will uns weismachen, er hätte _alles_ was es zu einem
Thema (wissenschaftliches) gibt, gelesen. Dieser Anspruch von
systematischer Vollständigkeit ist bei Wissenschaft immer vorhanden.
Das das heute in dem Masse, wie Wissen selbst Produktivkraft wird, und
die Gesellschaft somit selbst verwissenschaftlicht so absurd ist, dass
diese Zeilen immer länger und länger werden und es somit eine ebenso
absurde wie peinliche Vorstellung ist, dürfte klar sein.

- Diese beiden Zeilen tragen nichts zum Verständnis bei. Niemand klar
Denkendes wird das alles nachverfolgen. Und schon garniemand, der
nicht hauptamtlich mit Wissenschaft beschäftigt ist (was dem
Offenheitsargument Hohn spricht). Wer es doch tut, hat es genau mit
der Sorte von harter, nervtötender, disziplinierender Arbeit zu tun,
die Wissenschaft ausmacht. Diese Zeilen bringen also ein Wissenschaft
inhärentes Paradox auf den Punkt: Entweder ich ignoriere sie - dann
weiche ich die wissenschaftlichen Anforderungen auf - oder ich
verfolge sie im Detail, dann wird es schlicht ätzend.

Was bleibt also: Poserei und Kariere. Und das kriegt man schon in den
allerersten Seminaren und Vorlesungen beigebracht, wie wichtig die
sind. Das gestaltet sich von Disziplin (Das Wort alleine!) zu
Disziplin unterschiedlich, mal ist es Namedropping, mal
Abreviationdropping, mal Formalismus mit dem man Punkte sammelt, die
Rituale einübt. Am Ende ist es immer ein entfremdetes Hecheln nach dem
kleinen anschlussfähigen Wissenskick mit dem man gross rauskommt.

Sorry, ich merke ich schreibe mich etwas in Rage. Aber das ist doch
auch zum aufregen, oder?

... und nun zu Thomas:

On Mon, Jul 08, 2002 at 02:32:00PM +0200, Thomas Berker wrote:
ok, also mal wieder FS & Wissenschaft. Wir hatten das Thema schon oft

Die Parallelen liegen ja auch auf der Hand. Leider ist genau diese 
Diskussion ziemlich knifflig. Das liegt daran, dass  - wie auch schon 
geschrieben wurde - konkreter Wissenschaftsbetrieb und eine wieauchimmer 
konzipierte ideale Wissenschaft (z.B. als Aufklaerung) durcheinandergehen. 
Wir wissen, dass diese Konzepte kontrovers diskutiert werden. Und zudem 
moechte ich davor warnen, die eigenen Erfahrungen in einer oder zwei 
Disziplinen in einem oder zwei Wissenschaftsbetrieben zu verallgemeinern. 

Jetzt pose ich auch mal :-) Ich glaube nämlich schon, dass ich einen
größeren Querschnitt kenne, als die allermeisten anderen. Ich hab
mehrere Jahre in Life-Science-Laboren gearbeitet und kenne sowohl
Ingenieurs- als auch Geistes- und Sozialwissenschaft aus eigener
Anschauung (und bin bei allem gescheitert, wie gesagt). 

"Disziplinen" sag ich nur!

Also: Wissenschaft als eine bestimmte ideale Wissenschaft und als 
Wissenschaftsbetrieb gibts erstmal nicht. 

Na, zu allem was ich gesehen habe, passen die von mir geschilderten
Prinzipien aber sehr gut.

Mein Punkt fuer diese Mail ist, 
dass FS mit einer bestimmten Variante von Wissenschaft sowohl als Idee als 
auch als Betrieb allerdings sehr viel gemein hat.

Diese Wissenschaft ist
- pragmatisch,
- netzwerkfoermig (im Gegensatz zu buerokratisch) organisiert,
- international,
- gleich fern von Staat und Kapitalismus,
- offen und durchlaessig.

Soweit die Idee. 

Und das ist schon immer das ideal von _jeder_ Wissenschaft und es ist
schon immer ein Hohn gewesen. Welche Wissenschaft würde sich offen
dazu bekennen eine dieser Prinzipien nicht anzuwenden? Naja,
pragmatisch vielleicht. Und wo ich grad so düster drauf bin:
Genau das sind auch die Ideale von Freier Software und wenn nix
passiert, sieht es damit in hundert Jahren genauso elend aus.

Konkret am naechsten kommt ihr die angelsaechsische 
Variante, genauer gesagt eine Fraktion darin, die ihren Ausgang in den 
1960er Jahren hat. All das, was du, Benni, ueber Systematik, 
Reproduzierbarkeit usw. schreibst, trifft beispielsweise fuer weite Teile 
der Cultural Studies oder auch mein Feld, die Science and Technology 
Studies, kein bisschen zu. Da wird gespielt, da werden Geschichten 
erzaehlt, da werden pragmatisch Wissensbausteine wiederverwertet, usw. 

Schickst Du mal ein paar Beispiele? 

Wieder bösartig: Es ist auch ein typisches Verhalten von
Wissenschaftlern ihre jeweils eigene Disziplin als die einzig wahre
hinzustellen.

Freilich ist diese Form der Wissensproduktion umkaempft. Das Verdikt der 
Unwissenschaftlichkeit ist dabei die beliebteste Waffe, was vielleicht 
vergleichbar ist mit dem Argument FS sei unprofessionelle 
Softwareproduktion. Hier draengt sich geradewegs ein Buendnis zwischen FS 
und Wissenschaft auf. Und in diesem Kampf (oder etwas friedlicher: in 
dieser Diskussion) koennen WissenschaftlerInnen durchaus auch eine Menge 
von den Diskussionen auf dieser Liste hier lernen.

Also: FS _ist_ in zentralen Punkten vergleichbar mit Wissenschaft, aber 
trau schau wem.

Ja, die Frage ist nur, ob das für Wissenschaft oder gegen Freie
Software spricht ;-)

Grüße, Benni

________________________________
Web-Site: http://www.oekonux.de/
Organisation: projekt oekonux.de


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