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[ox] Re: Die Schlauch-Seil-Inkontingenz



Hi Stefans!

Endlich mal ein Plural meines Vornamens, zu dem ich nicht gehöre ;-) .
Na, bis eben ;-) .

Bei diesem Thema kann ich natürlich nicht schweigen - hängt doch ein
Bild just der Situation der Stufe 1 an der Tür des Büros, in dem ich
meine Brötchen (sic!) verdiene :-) .

Last month (43 days ago) Stefan Seefeld wrote:
Stefan Meretz wrote:
Stufe 1: Zwei Leute tauschen sich über ihre unmittelbaren sinnlichen
Eindrücke aus, die ihnen nur tastend zugänglich sind. Der eine schreibt
sein Getastetes als "schlauchartiges Ding mit Rillen". Der Andere nennt
sein Getastetes "seilartiges Ding mit einer Quaste dran". Sie kommen zu
dem Schluss, das sie es nicht mit der gleichen Sache zu tun haben. --
Interessant hier: auch die Seinsebene ist nur über die Praxis zugänglich
(die die Wahrnehmung einschliesst).

na klar, Wahrnehmung ist (nach dem Sein selbst) priorit"ar, i.e. liegt
der Begriffsbildung zugrunde. Aber nachhaken m"ochte ich hier doch:

Ich m"ochte behaupten, Du kannst Dich gar nicht "uber 'unmittelbar
sinnliche Eindr"ucke' austauschen, da die Austauschbarkeit ja schon
Begriffe und Symbole von dem zu vermittelnden voraussetzt. Ob die
Partner dabei dieselben Begiffe und Symbole benutzen, ist ja dabei
erstmal egal. Eco beschreibt, wie Marco Polo einem Einhorn begegnet:
er sieht ein Nashorn und versucht es in Seinen 'Begriffsapparat'
einzubauen. Dort findet er als besten 'fit' ein Einhorn, von dem er
zumindest als Mythos geh"ort hat. Nun stellt er fest dass Sein Bild
vom Einhorn mit dem des Nashorns nur sehr unzul"anglich zusammenpasst
(das Nashorn ist nicht weiss, und auch nicht gerade grazi"os, etc.).
So stellt sich die Frage ob der ihm bekannte Begriff ('Einhorn') zu
erweitern oder zu ver"andern ist, oder ob da ein neuer Begriff her muss.

Will sagen: wenn Du 'schlauchartiges Ding mit Rillen' sagst, dann weil
Du gerade dabei bist, Deine sinnlichen Eindr"ucke auf etwas abzubilden,
von dem Du schon einen Begriff hast. Nun weisst Du aber dass das nur
eine Analogie ist, und deshalb h"angst Du Deiner Beschreibung noch ein
'-artig' an.

Dem wäre hinzuzufügen, dass die Praxis durch eine bestimmte
Wahrnehmungsart erheblich bestimmt wird. Handelte es sich z.B. um
Wesen, die sehen könnten, so würden sie wohl vor allem eine große,
graue, mehr oder weniger zusammenhängende Masse sehen - die noch dazu
erheblichen Ausdehnungsschwankungen unterliegt (Elefantenherde).

Würden sie lediglich Teilchenwellen wahrnehmen können, so würden sie
den Elefanten vermutlich auf dem Planeten Erde nicht einmal gegen
seine Umgebung abgrenzen können.

Wichtig hier: Die je gegebenen Möglichkeiten der Wahrnehmung sind ein
ganz entscheidender Filter auf die Realität. Diese Möglichkeiten der
Wahrnehmung - gerade wenn Begriffe selbst schon als Filter eingesetzt
werden - sind aber erheblich gesellschaftlich und historisch bestimmt.
Schon von daher sind die gefundenen Begriffe immer gesellschaftlich
und historisch eingebettet.

In der Software-Entwicklung - um auf das Bild an meiner Bürotür zurück
zu kommen - hast du genau diesen Faktor alle Nase lang. Um ein gutes
Konzept zu finden, das eine möglichst gute Lösung deines Problems
ermöglicht, musst du erstmal deine Wahrnehmung auf das schärfen, um
was es eigentlich geht. D.h. hin gucken.

Stufe 2: Unsere beiden Leuten erklimmen die nächste Stufe der Erkenntnis.

Warum ist das die nächste Stufe? Es ist eine neue Erkenntnis würde ich
sagen, die mit vorgängigen Erkenntnissen zusammenhängt, indem sie sie
in Bezug setzt. Dennoch ist sie erstmal eine Erkenntnis in its own
right - oder? Aber das eigentlich nur BTW.

Sie stellen doch fest, dass es eine Beziehung zwischen dem "gerillten
Schlauch" und dem "gequasteten Seil" gibt: beides taucht stets in einer
bestimmten räumlichen Enfernung voneinander auf. Wenn ein "gerillter
Schlauch" auftaucht, dann gibt es in einer Entfernung von 2 bis 3 Metern
auch ein "gequastetes Seil" - und umgekehrt. Sie definieren das
Schlauch-Rillo-Seil-Quasto-Gesetz und geben diesem Zusammenhang den Namen
Schlauch-Seil-Inkontingenz. -- Interessant hier: Erst durch schrittweises
Aufklären von Zusammenhängen von Erfahrungen, etwa durch Messungen, ist
eine Definition möglich.

Das ist eine Definition? Eben sagst du noch, es ist ein Gesetz -
genauer: Die Versprachlichung einer aufgrund einer bestimmten
Fokussierung von Wahrnehmung vorgefundenen Gesetzmäßigkeit. In der
Mathematik wäre das auf jeden Fall ein Satz. Aber ich glaube, das ist
hier nicht das Entscheidende. Entscheidend scheint mir der Übergang
von den Messergebnissen zu einer Theoriebildung - nichts anderes ist
ja das Postulat einer Gesetzmäßigkeit.

Das ist die Ebene traditioneller (bürgerlicher)
Wissenschaft.

D.h. "böse" - oder?

Hier gehören etwa die Selbstorganisationstheorien rein oder
auch die Systematische Soziologie oder Luhmanns Systemtheorie.

BTW: Ich finde solcherlei Zuschreibungen irgendwie nicht wirklich
hilfreich. Hat für mich immer so das Geschmäckle von "Das sind doch
alles IdiotInnen." - oder? Darüberhinaus kann ich nicht erkennen, dass
die bürgerliche Wissenschaft da stehenbleiben würde - manchmal wäre
ich sogar froh, sie täte es...

Es ist die
Ebene des Abstrakt-Allgemeinen. Hier gibt es auch schon "Begriffe", aber
es ist noch nicht die Ebene des Begriffs im Hegelschen Sinne erreicht.

ok, hier haben wir 'Begriffsbildung' erlebt. Die beiden haben
festgestellt, dass sich ein Ding losgel"ost vom Rest betrachten l"asst,
und haben dieser Betrachtung (d.h. dem Bild das sie sich von dem
Ding machen) einen Namen gegeben.

Ja, das Betrachten des Speziellen, das Abstrahieren hat hier statt
gefunden. Aus dem Nebel der Messergebnisse haben sie ein Gesetz
kristallisiert - was immer falsch sein kann, denn allein schon: "Wer
misst, misst Mist".

Um wieder zur Software zu kommen: Der nächste Schritt ist dann, das
Wahrgenommene irgendwie zu sortieren - d.h. Regelmäßigkeiten darin zu
erkennen. Hier beginnt eine Begriffsbildung. Im sozialen System eines
Software-Projekts kommt es spätestens an dieser Stelle darauf an, ein
gemeinsames Bild zu entwerfen. D.h. die Begriffsbildung sollte von
allen getragen werden, damit später alle damit arbeiten.

Diese Ebene ist die des Konkret-Allgemeinen.

Stufe 3: Unsere beiden Leute werden immer Schlauer. Sie erkennen nicht nur
abstrakt-allgemeine Zusammenhänge, sondern erschliessen sich das "Ding"
in ihrer vollen Bedeutung innerhalb der menschlich-gesellschaftlichen
Praxis. Und da fällt es ihnen wie Schuppen von den Augen: Das "Ding" ist
ein Elefant!

Vielleicht habe ich hier das zentrale Problem, da ich hier nicht den
qualitativen Sprung gegenüber der vorherigen Begriffsbildung erkennen
kann. Dass es ihnen wie Schuppen von den Augen fällt, liegt ja daran,
dass sie den Elefanten vorher schon kannten und nur plötzlich
erkennen, dass sie den die ganze Zeit vor sich haben.

Aber auch der Elefant ist ja nicht der Weisheit letzter Schluss. Der
Elefant kann ja als Teil einer Herde betrachtet werden und dann ist er
wieder nur Bestandteil einer Gesetzmäßigkeit: Viele Elefanten kommen
auf einem räumlich stark begrenzten, aber dennoch wechselnden Gebiet
vor.

Auf der Ebene der Software: Du hast Regel- und Gesetzmäßigkeiten
erkannt und beginnst sie in Datenstrukturen und Algorithmen zu packen.
Aber - und das ist hier wichtig - die in einem Schritt entstandene
Software kann im nächsten Schritt wieder nur Objekt eines nächsten
Schrittes sein, in dem sie selbst Teil neuer Gesetzmäßigkeiten wird.
Auf diese Weise entstehen komplexe Systeme bzw. Theoriegebäude.

Ich denke, diesen Prozess kannst du mit allem machen, was dir per
Wahrnehmung zugänglich ist. Es hängt halt stark von deiner Praxis ab,
die deine Wahrnehmung und deine Gesetzmäßigkeitserkenntnis stark
vorstrukturiert. Wenn du einE hungrigeR ElefantenjägerIn bist, wird
dich die Herde sicher mehr interessieren, als die Anzahl der Meter
zwischen Schwanz und Rüssel. Wenn du einE FreieR Java-ProgrammiererIn
bist, dann wird dich die Ebene der Register des Prozessors keinen Deut
jucken - auch wenn sie "letztlich" die Ausführung deines Programms
bewirken.

Von daher kann ich überhaupt nicht erkennen, wie du so etwas wie
Konkret-Allgemein im allgemeinen Fall gegen Abstrakt-Allgemein
abgrenzen kannst. Oder volkstümlich: Dem eenen sin Konkret-Allgemein
is dem annern sein Abstrakt-Allgemein.

Was habe ich nicht verstanden?

Aus einer Folge-Mail noch.

Last month (43 days ago) Stefan Meretz wrote:
Fies
gewendet, könnte ich formulieren: Wer definiert, hat was zu verbergen;-)

Das ist nicht fies gewendet, sondern genau das, was eine Definition
leisten soll. Sie soll den Nebel der Messergebnisse verbergen in einem
kontingenten Begriff. Dadurch sind die Messergebnisse ja nicht weg -
nur verborgen, weil es nicht immer Sinn macht, sich über die Atome zu
unterhalten - wie du selbst im Konkret-Allgemeinen zu sagen scheinst.

Zwei Dinge sind mir dabei wichtig:
(1) Die inhaltliche Klärung ist primär, ohne sie gibt es keine Definition
(2) Sehr oft wird der oben beschriebene Prozess als nicht zu eigentlichen
Wissenschaft gehörig betrachtet. Oft "beginnt" eine Wissenschaft mit
Definitionen, die dann so tut, als ob damit die Begriffe "auf die Welt"
kommen. In Wirklichkeit sind sie längst da, z.B. in dem o.g. Prozess
entstanden. Da der Prozess der "Definitionsfindung", also
Begriffsbildung, meist nicht offengelegt wird - insbesondere die Methode
nicht! - ist eine solche Definition theorieimmanent nicht kritisierbar
(das gilt in der Regel für den "Westen").

Mein Eindruck ist, dass du hier einfach die Lehre kritisierst und die
Forschung ignorierst. In der Lehre ist es sicher so wie du sagst. Auch
wenn ein - dann wohl tendenziell wissenschaftstheoretischer - Zugang
zu der Erkenntnisweise sicher wünschenswert wäre, so kann es auch
sinnvoll sein, jemenschen erstmal in ein Gebiet einzuführen, indem die
bisher gefundenen Ergebnisse präsentiert werden. Und diese Ergebnisse
vorgefundener Gesetzmäßigkeiten und deren Begriffsbildung schlagen
sich dann in Definitionen, Sätzen, Theorien, etc. wieder.

In der Forschung wird das wohl keiner mehr behaupten, weil es - wie du
richtig sagst - schlicht nicht stimmt.

Um Oekonux als Beispiel zu nehmen: Wenn ich da einen
Einführungsvortrag halte, dann stelle ich mich auch nicht erst eine
Stunde hin und erkläre die Mechanik einer Mailing-Liste - was ich
eigentlich müsste, da dies der hiesige Prozess der Begriffsbildung
ist. Nein, ich präsentiere in einer knappen Stunde o.ä., die
Konzentrate unseres gemeinsamen Erkenntnisprozesses. Dadurch gehen die
anderen Teile nicht weg - sie sind nur gerade nicht im Fokus.


						Mit Freien Grüßen

						Stefan

PS: Ich robbe mich mit hohem Tempo an die Gegenwart ran ;-) :
___________________________
Unread: 67 [ox], 52 [ox-en]

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Web-Site: http://www.oekonux.de/
Organisation: projekt oekonux.de


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