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Re: [ox] Re: Aussenstandpunkt vs. Gruppenstandpunkt



Hi Stefan und (Unbe)herrsch(ende|te)!

Endlich. Ich zitiere mal großzügig, weil es ohnehin schon schwierig
sein dürfte, die Zusammenhänge in diesem Long-Term-Thread noch zu
kriegen.

2 months (70 days) ago Stefan Meretz wrote:
nach meiner Wahrnehmung drehen sich viele der Debatten um Freie
Kooperation, Selbstentfaltung, Entfremdung und nun Immanenz und
Transzendenz usw. um in der Tat eine sehr entscheidende Frage, nämlich um
das, was du "Oekonux-Theorie des Sozialen" genannt hast. Das Spannende an
Oekonux ist, dass wir mit der Nase drauf gestoßen werden, weil FS eben
doch ziemlich anders ist als andere "Keimförmchen".

Deswegen ist IMHO für uns das "Empire" von Hardt/Negri von unschätzbarer
Bedeutung. Es bricht viele Perspektiven auf, die sich (auch bei mir)
verfestigt haben. Leider ist es nicht einfach zu lesen, und leider
enthält es auch einiges wirres Zeug (oder ich versteh es nicht) und die
Politische Ökonomie darin kann man knicken. Ich kann dennoch nur
empfehlen, es sich mit anderen zu erschliessen, denn es ist nunmal kein
Gutenacht-Buch.

Die beste Zusammenfassung (vielleicht kommt mir das nur so vor, weil ich
das "Empire" schon gelesen habe) ist übrigens eine von Robert Foltin
("Immaterielle Arbeit, Empire, Multitude. Neue Begrifflichkeiten in der
linken Diskussion. Zu Hardt/Negris 'Empire'"), erschienen in der
Zeitschrift "Grundrisse". Eine Online-Version wird versprochen unter
http://www.grundrisse.net.

Ist mittlerweile online
[http://www.unet.univie.ac.at/~a9709070/nummer2.pdf]. (Da hat mal wer
was verstanden :-) ).

Darin gibt es auch einen Artikel von Karl Reitter, der voll in unsere
Diskussion hier passt: "Repräsentation und Multitude - ein Bericht".

Da dieser Artikel angenehm kurz ist, habe ich ihn mal schnell gelesen.
Leider bin ich ziemlich enttäuscht. Wenn das die Grundlage für
Theoriebildung sein soll, dann Gute Nacht.

Was macht der Text? In der mittlerweile allzu üblichen Medientechnik
greift er sich ein Beispiel raus, was das zeigt, was der Autor zeigen
will. Und daraus folgt - nicht schwer - das, was er gerne zeigen
möchte. Mit dieser Technik kann prima alles mögliche "gezeigt" und bei
Bedarf auch mal schnell Pogrom- / Kriegs- /
Your-Lieblings-Alptraum-here-Stimmung erzeugt werden. Theoriebildung
geht mit diesem willkürlichen Umgang mit Realität aber nicht.

Der zentrale Fehler des Textes liegt m.E. darin, dass er eine
Missbrauchssituation hernimmt und behauptet - und es ist wirklich nur
eine Behauptung - nichts anderes als Missbrauch sei möglich. Das ist
auf der Ebene der Sozialschmarotzerdebatte - um mal ein beliebiges
Beispiel zu nennen. Dieser Übergang von einem konkreten
Missbrauchsfall zur verallgemeinernden Theoriebildung konzentriert
sich in dem Satz "Für mich war diese Veranstaltung geradezu ein
Lehrstück in Sachen Repräsentationspolitik.". Damit verallgemeinert
Karl Reitter sein Beispiel zur Theorie - ähnlich wie die Bild-Zeitung
das mit den (wenigen) Fällen von Sozialhilfemissbrauch tut.

Und so geht es munter weiter: "Und gleichzeitig wurde mir einmal mehr
die Bedeutung, oder vorsichtiger formuliert, eine mögliche Bedeutung
des Begriffes `Multitude' und ihrer Nicht-Repräsentierbarkeit, klar."
Die ohnehin schon wenig erkenntnisdienliche Umdeutung des
Missbrauchsfalls eines Phänomens (Repräsentation) als Kern der Sache
wird umgedreht, auf einen anderen Bereich bezogen - die `Multitude'
als Begriff unterscheidet sich `Multitude' ja wohl erheblich von der
Gruppe, um die es in seinem Beispiel geht - und noch schnell zum
Gesetz erhoben. Na, vielen Dank.

Von dieser falschen - oder meinetwegen: wenig erkenntnisfördernden
Basis - kann er dann auch zwanglos weiterschließen: "[...]
andererseits verweist Multitude auf den Aspekt nicht repräsentierbaren
politischen Handelns. [...], Paradebeispiel für den zweiten [nämlich
diesen] sind Genua, Argentinien oder hierzulande [d.h. Österreich] die
Donnerstagsdemos [gegen die blau-schwarze Koalition AFAIK]." Hier wird
der verkürzte Begriff von Repräsentation, den er eben konstruiert hat
zum einzig Möglichen erklärt. Es tut mir Leid, aber das hat die
Qualität des Satzes, dass die Menschen niemals ohne Geld auskommen
werden. Das historisch eben mal Vorgefundene und sogar von Vertretern
just dieses Systems als Missbrauch kategorisierte, wird ontologisiert
und zur überhistorischen Allgemeingültigkeit erklärt.

Das Ganze wird dann noch mit ein paar völlig schrägen
Gegenüberstellungen garniert: "Die Nicht-Repräsentierbarkeit, die
Negri/Hardt als geradezu ontologische Eigenschaft der Multitude
ausmachen, wiederholt und bekräftigt in neuer Form, einen, ja DEN
Aspekt, den im Grunde jede politische Strömung herausstellt. Ob man es
Klassenkampf, Emanzipation, Rebellion, Widerstand, Befreiung oder
Revolte nenne mag, immer zielen diese Begriffe auf Prozesse ab, die
am, im und durch das Subjekt selbst stattfinden müssen." Ich kann
nicht erkennen, wie die Repräsentation einer Gruppe im Siebelschen
Sinne zu diesen subjektiven Prozessen im Widerspruch steht.

Ich kann nur wiederholen, was Siebel schon geschrieben hat und wo ich
immer besser verstehe, was er meint:

  Damit ist das in den Vordergrund gestellt, was an der Herrschaft für
  das heutige zeitgenössische Bewußtsein besonders hervorsticht,
  nämlich das Element der Macht und des Zwangs. Es ist jedoch zu
  fragen, ob diese Sicht nicht einseitig, ja verkürzt ist, wenn man
  dem Herrschaftsphänomen allein durch diese Begründung gerecht werden
  will. Dazu ist bereits zu bedenken, daß die Herrschaft von den der
  Herrschaft Unterworfenen grundsätzlich akzeptiert und gewünscht
  werden kann. [http://www.oekonux.de/liste/archive/msg04988.html]

Ich kann nur nochmal darauf hinweisen, dass ich in der Tat diese
Verkürzung für nicht erkenntnisfördernd halte, da sie den Zugang zu
wichtigen Zusammenhängen verbirgt. Ich sage damit nicht, dass der
Missbrauch von Herrschaft nicht bekämpft werden müsse. Ganz im
Gegenteil: Missbrauchte Herrschaft - wie im obigen Beispiel - ist
keine mehr, da Herrschaft wesentlich als ein Handeln im
Gruppeninteresse (sage ich hier mal so platt) verstanden werden muss,
wenn mensch das Phänomen wirklich tief verstehen will.

Deine Antwort an mich bringt recht gut auf den Punkt, worum es mir
auch hier geht.

On Saturday 07 September 2002 13:18, Stefan Merten wrote:
Nun ist mir die Freie Kooperation zwar relativ egal, nicht so aber die
Theoriebildung hier. Bei uns klafft nach meiner Wahrnehmung nämlich
exakt dieselbe Lücke: "Wir" wissen viel über das Individuum und haben
dazu auch einiges an Theoriebildung betrieben. Selbstentfaltung dürfte
das wichtigste Stichwort sein. Wie sich das Individuum aber mit
anderen Individuen zusammenfasst und Gruppen bildet - dazu wissen
"wir" bisher einfach nichts. Oder was habe ich so fundamental
übersehen?

Es gibt da viel, letztlich ist das die Baustelle der Soziologie. Siebel
gehört doch auch dazu. Es ist nur meistens nicht brauchbar, IMHO.

Eine Frage ist aber noch nicht gestellt: Brauchen wir überhaupt eine Art
"Theorie der Gruppe"? Das ist mir nicht klar. Als Arbeits-Hypothese würde
ich mal sagen: Nein.

Das ist eine interessante Frage. Ich würde sie selbstredend mit "Ja"
beantworten aus einem einfachen Grund: Menschen bewegen sich permanent
in Gruppen. Zumindest für das Heute bedarf es also einer Theorie um
dieses Phänomen zu verstehen - und ich halte die "alles von Außen
aufgeherrscht"-Theorie einfach für deutlich zu kurz. Gruppen bilden
sich auch ohne dass sie von Außen aufgeherrscht werden - ständig, mal
locker und mal fester. Die Freie Software wimmelt z.B. auch davon -
mit ganz unterschiedlichen Graden an Institutionalisierung im übrigen.

Die `Multitude' scheint mir doch auch eine Ansammlung von Gruppen (und
Individuen?) zu sein, in der unterschiedliche
Institutionalisierungsgrade existieren. Ich meine in Genua z.B. waren
ja nicht lauter Einzelne unterwegs, sondern es haben sich
selbstverständlich spontan oder vorbereitet Gruppen gebildet. Die
`Multitude' als Ganzes scheint mir mehr und mehr mit dem zu
korrelieren, was wir hier gewöhnlich unter Gesellschaft verstehen. Die
Repräsentation der Gesellschaft über den Staat habe ich in diesem
Thread aber auch schon als zumindest sehr fragwürdig bezeichnet.

Bei den beiden Sozialpolen "Individuum" und "Gesellschaft" ist die
Notwendigkeit einer selbstständigen, d.h. kategorial eigenständig
wissenschaftlich ausweisbaren Theorie wohl unbestritten.

Ist es? Das Individuum wie wir es heute verstehen ist wesentlich ein
Konstrukt der Aufklärung. Aber ich würde die Notwendigkeit einer
Theorie jedenfalls nicht bestreiten.

Bei der Gruppe
ist das nicht klar. Hier gibt es beide Varianten: Die Gruppe als Summe
der Individuen her zu verstehen oder als Portion der Gesellschaft. Sind
wir einig, das beide Ansätze zu verwerfen sind?

Völlig.

Bleibt eben "die Gruppe" als ebenso eigenständig kategorial fundierte
Theorie. Was Siebel z.B. macht, ist genau das nicht. Genaugenommen macht
der gar keine Theorie sondern systematisierte Deskription. Da kann man
auch einige "Ahas" erleben, aber Theorie ist das eigentlich nicht, denn
sie erklärt nichts.

Noch so ein Dauerbrenner. In meiner gestrigen Mail andernthreads ("Die
Schlauch-Seil-Inkontingenz") bin ich ja genau auf diese Frage auch
eingegangen. Das was du hier als "systematisierte Deskription"
denunzierst ist nichts anderes als Begriffsbildung. Und auch wenn
diese Begriffe nicht da raus kommen, wo du sie gerne hättest,
*erklären* sie m.E. ungeheuer viel. Jedenfalls verstehe ich seit
dieser Lektüre querbeet viel mehr von der Welt. Wohlgemerkt: Ich will
das nicht überhistorisch sehen - aber *heute* hilft es mir. Und nein,
das sind nicht immer nur Missbrauchssituationen von Herrschaft /
Gruppe / Gruppenstandpunktswolke.

Na gut, könnte man ja besser machen wollen als Siebel. Dann müsste man
aber "die Gruppe" als eigengesetzliche "Ebene" begreifen, die sich
qualitativ sowohl von der "Ebene" des Individuums wie der Gesellschaft
abhebt. Das sehe ich nicht. -

Ok, lass uns zusammen weiter schauen.

Ist das jetzt ein Widerspruch zu der obigen
Aussage, dass die "Gruppe" weder von der "Seite" des Individuums noch der
Seite der Gesellschaft theoretisch pepackt werden können?

Nein, und in der Auflösung steckt das ganze Dilemma des Themas. Die
Begründung setzt nun ein Verständnis des Unterschieds von Immanenz und
Transzendenz voraus. Ich meine nämlich, dass du das nicht richtig siehst.
Du versuchst "die Gruppe" auf die Seite der Immanenz zu schummeln;-)

Nun, ich denke, dass das Konzept von Immanenz und Transzendenz quer
zum Konzept der Gruppe liegt. Was du mit der Identifikation betreibst,
ist m.E. lediglich die Identifikation des Missbrauchs mit dem Begriff.
Schauen wir mal.

Immanenz/Transzendenz kann man auch (vereinfachend) mit
Innensicht/Außensicht oder Standpunkt erster/dritter Person übersetzen.
Der immanente/innere/erste Standpunkt ist immer nur von konkreten
Individuen einnehmbar.

Da außer Individuen nichts einen Standpunkt einnehmen kann, ist das
irgendwie trivial. Ok.

Wenn es um eine gewisse Anzahl geht, dann ist es
eine gewisse Anzahl konkreter Individuen.

Und jetzt bin ich doch ein bisschen verblüfft. Das ist genau das, was
ich als Gruppenstandpunktswolke beschreibe. Dieses Wir - wenn es keine
Monadengruppe sein soll - konstituiert sich exakt aus den immanenten
Standpunkten der Beteiligten - i.A. hinsichtlich eines bestimmten
Themas. Totalitäten fordern nur Sekten aller Art und Staaten.

Wenn ich dich richtig verstehe, dann ist mit diesem Wir aber immer
noch ein immanenter Standpunkt möglich. Nichts anderes sage ich die
ganze Zeit.

Das ist auch der Grund, warum
der Begriff "Multitude" ("Menge" in der unglücklichen deutschen
Übersetzung) seine zentrale Relevanz hat: Es geht nicht um die Masse
(oder die Klasse, oder das Volk oder...), sondern um die Vielheit der
konkreten individuellen Menschen. Jeder Standpunkt, der die je
individuelle, unmittelbare sinnliche Erfahrung überschreitet, ist eben
ein transzendenter (siehe Def.). Hier ist das "je", was ich so gerne
verwende, das zentrale Wörtchen.

In meinem Begriffssystem ginge das in die Richtung eines entfremdeten
Standpunkts. Ich glaube sowieso immer mehr, dass Transzendenz vor
allem Entfremdung bedeutet.

Der Standpunkt einer Gruppe ist ein solcher transzendenter Standpunkt. Er
überschreitet je meinen Standpunkt. Er liegt außerhalb von je mir, es ist
ein Außenstandpunkt.

Nein. Im von mir so geschätzten Konsensmodell wird aus der
Gruppenstandpunktswolke für einen konkreten Fall ein Standpunkt
kristallisiert, der deinen Standpunkt *gerade nicht* überschreitet,
sondern ihn umfasst - auch wenn er vielleicht gerade nicht mit deinem
individuellen Standpunkt identisch ist. Letzteres ist bei
Einstimmigkeit der Fall.

Ich gebe dir aber Recht darin, dass es für transzendent vs. immanent
von zentraler Bedeutung ist, wie diese Gruppenstandpunktswolke
kristallisiert und wie sehr dieser Prozess mit Entfremdung verbunden
ist. Hier scheidet sich m.E. letztlich die Frage, ob eine
Gruppenstandpunktswolke vorgeblich und damit Missbrauch ist oder eben
nicht.

Im Empire wird nun gezeigt, dass die Konstitution
eines solchen transzendenten Standpunkts entscheidend ist zur
Beherrschung der Multitude.

Da sagst du es selbst.

Meine Kritik daran lautet, dass du (und Empire?) hier in die falsche
Richtung schließt. Zwar mag die Konstitution eines solchen
transzendenten Standpunkts für die Beherrschung - und hier ist m.E. ja
der Missbrauch von Herrschaft gemeint - entscheidend sein. Damit gilt
aber noch lange nicht, dass jede Konstitution einer
Gruppenstandpunktswolke automatisch zum Missbrauch von Herrschaft im
Sinne des Handelns im Interesse einer Sozialeinheit führt.

Wie in diesem Thread schon angedeutet, ist mein Wunsch, diese andere
Richtung genauer zu betrachten: Wie können sich
Gruppenstandpunktswolken in einer Weise konstituieren, die den
Missbrauch von Herrschaft mindestens kräftig erschweren? Freie
Software mit ihrem Prinzip der Selbstentfaltung Einzelner als
Voraussetzung der Selbstentfaltung der Gruppe und umgekehrt liefert
hier m.E. bahnbrechende Beispiele.

Erst wenn der Standpunkt geschaffen wurde,
kann er mit Repräsentation verknüpft werden, erst wenn Repräsentation
hergestellt ist, kann die Multitude beherrscht werden. Repräsentation ist
nicht die andere Seite von Domination, sondern seine Voraussetzung. Es
ist eine der zentralen Herrschaftsstrategien.

Dem kann ich gar nicht widersprechen. Es ist aber immer noch die
falsche Schlussrichtung. Nur weil Repräsentation missbraucht werden
kann - und sie damit eigentlich ihren Charakter als Repräsentation
gleich wieder verliert - muss sie nicht in jedem Fall missbraucht
werden.

So wird auch mit der Freien Software als Bewegung umgegangen. Es ist nicht
"sie" selbst, die danach strebt - das ist ein wichtiger Unterschied! Uns
fällt das übrigens daran auf, dass es uns schwerfällt, über *die
FS-Bewegung* zu reden: Es gibt sie eigentlich nicht. Es gibt
selbstgemachte (wer eigentlich, vielleicht am ehesten Raymond) und
fremdgemachte Repräsentaten, und es gibt inzwischen Umfragedaten.

Auf die Problematik der Gruppenkonstruktionen von Außen wie du sie
hier exemplarisch andeutest hatte ich in diesem Thread schon
hingewiesen. Dies scheint mir ein wichtiger Punkt. Vielleicht trifft
es sich damit auch, dass die `Multitude' auf Grund ihrer Vielfalt
nicht repräsentiert werden kann, da dies immer nur von Außen kommen
kann. Hier ist allerdings auch eine neue historische Situation
erreicht, dass die `Multitude' die Menschheit als letztes verbliebenes
Bezugssystem hat. Dazu hatte ich kürzlich was gepostet
[http://www.oekonux.de/projekt/chat/archive/msg00010.html].

Aber mir geht es jedenfalls gar nicht darum die `Multitude'
repräsentierbar zu machen. Insofern reden wir vielleicht auch kräftig
aneinander vorbei.

Kleiner Exkurs Immanenz-Transzendenz aus dem "Empire": Erstmal
Fremdwörterbuch "transzendent": die Grenzen der Erfahrung und der
sinnlich erkennbaren Welt überschreitend; übersinnlich, übernatürlich
(Philos.); Gegensatz: immanent

Schön, dass du das nochmal so deutlich hinschreibst. Nach dieser
Definition ist der Gruppenstandpunkt nämlich alles andere als
transzendent. Er ist zweifellos über- oder besser: zwischenindividuell
und intersubjektiv. Damit ist er kein individueller Standpunkt - klar.

Nein, nicht klar, sondern genau umgekehrt:

Jetzt wird's aber ganz kraus. Ok, alles nacheinander.

ein interindividueller
Standpunkt existiert nicht.

Ok, ein interindividueller Standpunkt mag nicht in der Reinform als
sinnlich erkennbar existieren. Ich sehe übrigens auch nicht, wie das
mit individuellen Standpunkten der Fall sein kann - wo wird's denn da
sinnlich erkennbar?. Aber ich verstehe, dass der interindividuelle
Standpunkt der Monade erstmal nicht zugänglich ist. Dennoch ist es
Menschen möglich, einen interindividuellen Standpunkt denkend zu
konstruieren - wie sie es im übrigen auch mit ihren individuellen
permanent tun, die ja auch nicht in einem anderen Organ als dem Gehirn
entstehen. Dieser interindividuelle Standpunkt sollte natürlich in
Kommunikation gemeinsam denkend konstruiert werden - klar. Aber er
existiert dann jedenfalls als Denkkonstruktion.

Keiner kann ihn einnehmen.

Die Frage wer ihn einnehmen kann hat sehr viel mit Rollen zu tun. In
meiner Rolle als Monade kann ich ihn nicht einnehmen - klar. In einer
Rolle, in der die Repräsentation einer Sozialeinheit vorkommt, kann
ich ihn sehr wohl einnehmen. Diese beiden Rollen sind nicht identisch
miteinander - auch klar. Vielleicht liegt auch in diesem Rollenkonzept
ein wichtiger Knackpunkt. Deucht mir so.

Erst eine
Erklärung, jemand stehe auf diesem, erzeugt ihn.

Nun, das ist zwar ein Widerspruch zu deiner obigen Aussage, dass er
nicht existiert, aber ich denke, dass ich verstehe was du meinst.

Deine Wortwahl zeigt aber schon worauf du raus willst: Auf den
Missbrauch des Gruppenstandpunkts. Ich behaupte, dass es denkbar - und
beinahe täglich sogar praktisch erlebbar - ist, dass eine
Gruppenstandpunktswolke nicht per einseitiger, letztlich wieder
monadischer Erklärung kristallisiert, sondern dass dies in Form einer
Einigung zwischen konkreten Individuen geschieht.

Und das ist dann
automatisch der transzendente Drittstandpunkt.

So wie du seine Konstitution herleitest in der Tat. Kannst du
irgendwie zeigen, dass es (per Naturgesetz?) keine andere Möglichkeit
geben kann?

Aber er ist damit noch lange nicht transzendent, denn er überschreitet
eben nicht die Grenzen der Erfahrung und der sinnlich erkennbaren
Welt. Er ist nicht materiell greifbar - insofern ist er nicht sinnlich
erfahrbar - aber als Denkkonstruktion ist er wie so vieles andere im
menschlichen Leben erfahrbar und seine Auswirkungen sind es sogar
höchst sinnlich. Menschen spüren nämlich, wenn sie gegen oder mit dem
Gruppenstandpunkt handeln. Benni betont das alle Nas' lang, wenn er
sich gegen die Integration in eine Gruppe wehrt. Er *spürt* den
Gruppenstandpunkt, den er so bedrohlich findet.

Der Gruppenstandpunkt ist mitnichten sinnlich, es gibt ihn
quasi-natürlicherweise nicht. Sondern was bei solchen identitären
Konstruktionen passiert, ist der sinnliche Bezug zu einem transzendenten
Standpunkt, der erst hergestellt werden muss. Das gibt es natürlich,
keine Frage. All die Nationalismen, Rassismen, oder auch
Menschenrechtstandpunkte usw. gründen darauf. Ich habe Bennis
Interventionen stets als Ablehnung eben solcher hergestellter
transzendenter Standpunkte wahrgenommen. Die sind als solche bedrohlich,
unabhängig vom Inhalt.

Als soziales Wesen müssen Menschen auch diese Fähigkeit haben. Wenn
Menschen diese Abstraktionsleistung nicht hinbekämen, dann wären sie
darauf angewiesen, mit dem Nebel der Phänomene - hier: dem
widersprüchlichen Handeln anderer - zurechtzukommen.

Hier stecken Postulate drin, die nicht haltbar sind. Menschen brauchen
keine Abstrakta wie irgendwelche "Gruppengesetze", um mit dem Handeln
anderer "zurechtzukommen".

???

Genauso wie ein Baby den Nebel der aus der materiellen Welt
erfahrbaren sinnlichen Phänomene nach und nach durch eine Begriffswelt
strukturiert, genauso strukturiert es sich den Nebel der sozialen
Welt. Dazu gehört dann auch irgendwann zu kapieren, was die Regeln
sind, die in einer Gruppe gelten. Gerade Kinder machen sich das wohl
auch sehr unmittelbar gegenseitig klar.

Der "Nebel der Phänomene" ist die sinnliche
interindividuelle Ebene, auf der nunmal das Leben spielt. Jede/r trifft
dabei stets immer auch Verallgemeinerungen, doch sind es je meine
Verallgemeinerungen, die auch je meinen Erfahrungen beruhen (dazu gehört,
das mir andere ihre Verallgemeinerungen aufschwatzen). Es sind keine, die
von einem anderen Standort aus zugänglich wären.

Ach jetzt verstehe ich worauf du wieder rauswillst. Ähm, mir ging es
nicht darum, dass sie aufgeschwatzt werden, sondern dass sie Folge
einer Begriffsbildung sind. Ganz autonom - aber in Reaktion auf die
sinnlich-soziale Ebene.

Das Mittel, sie
nachvollziehbar für andere zugänglich zu machen, ist das der
Kommunikation. Das Verstehen, also der Versuch, meine Wahrnehmung als
eine Variante möglicher Wahrnehmungen aufzunehmen, geschieht wieder nur
von dem je individuellen Standort aus.

Ja. Meine Rede ist ja die ganze Zeit, dass Kommunikation ein wichtiger
Bestandteil emanzipatorischer Konstitution von
Gruppenstandpunktswolken ist. Ein wichtiges "Hilfsmittel" um
Entfremdung zu "hinkriegen" ist m.E. fehlende Kommunikation. Nur per
Kommunikation kann ich mich auf die Bedürfnisse von Menschen beziehen
und damit Handeln im emanzipatorischen Interesse überhaupt erst
möglich machen.

Ich bezweifle
alledings, dass das in irgendeiner emanzipatorischen Weise geht.
Menschen müssen sich über ihren Handlungsrahmen (möglichst) klar sein,
sonst ist verantwortliches und damit emanzipiertes Handeln gar nicht
möglich.

Es gibt nicht "das emanzipierte Handeln". Das ist eine Fiktion. Ich kann
mich zu den Bedingungen in bestimmter Weise verhalten. Ich kann damit
meine Handlungsmöglichkeiten in längerer Perspektive einschränken (mir
damit selbst zum Feinde werden) oder sie erweitern (Stichwort:
Selbstentfaltung). Dies geschieht wieder von je meinem Standort aus.
Dieser ist auf dieser Ebene nicht verallgemeinerbar.

Ja, war ein bisschen verkürzt dargestellt.

Gibt es eine Ebene der Verallgemeinerbarkeit? Ja, die gibt es. Du hast sie
benannt: Es ist die der intersubjektiven/interindividuellen
Verständigung. In diesem Medium (will ich das mal nennen: es ist kein
irgendwie feststellbarer Standort) stellen wir allgemeine gemeinsame
Handlungsmöglichkeiten fest, weil wir wissen, das je ich mich nur
entfalten kann, wenn meine Entfaltungbedingung - die Entfaltung der
anderen - auch gegeben ist.

Ich will ein einfaches Beispiel nehmen: Eine dauerhafte
Liebesbeziehung zwischen zwei Menschen mit Partnerschaftsanteilen -
zur Vereinfachung mal ohne Kinder.

Den Abschnitt lasse ich doch mal weg, weil der nicht viel Neues
bringt. Auch später kürze ich stark.

Mittlerweile denke ich auch, dass eine strikte Leugnung eines
Gruppenstandpunkts bzw. eine Denunziation als per se
anti-emanzipatorisch die Menschen nur noch als Monaden begreifen
*kann*. Wenn nur noch individuelle Standpunkte gelten dürfen, dann
wird entweder der darin integrierte Standpunkt der Gruppe geleugnet -
was geht, aber m.E. das Verständnis der Wirklichkeit nicht fördert -
oder es kommen eben die bürgerlichen Privatpersonen raus, die durch
nichts Soziales mehr miteinander verbunden sind und denen das Soziale
(von oben) eingeprügelt werden muss, damit nicht das
(anti-emanzipatorische) Chaos regiert.

Das ist jetzt ein etwas fieses Argument. Es verknüpft die berechtigte
Kritik am "Monadenstatus" der Menschen in der bürgerlichen Gesellschaft
mit der aus meiner Sicht völlig verfehlten Forderung, es müssen einen
Gruppenstandpunkt geben.

Ich sage ja nicht, dass es ihn in irgendeinem konkreten Fall geben
*muss*. Ich sage lediglich, dass dies eine Begriffsbildung ist, die
uns hilft die Welt - hier das Phänomen Gruppe - zu verstehen. Insofern
würde ich den Begriff Gruppe so definieren, dass er mit einer
Gruppenstandpunktswolke verbunden ist. Wo es diese nicht gibt, gibt es
keine Gruppe. Na und? Vielleicht ist die `Multitude' in diesem Sinne
keine Gruppe sondern die Gesellschaft. Na und?

Gerade die im "Empire" (wenn ich nur mal das
nehme) dargelegte Sicht ist in der Lage die Menschen in ihrer Vielheit
wahrzunehmen.

Ich kann nicht erkennen, wo der Begriff der Gruppenstandpunktswolke
diese Vielheit auch nur annähernd negiert. Das ist für mich einfach
kein Widerspruch.

Gerade dort wird dargelegt, das alle
Unterdrückungsstrategien darauf hinausliefen, transzendente Standpunkte
mit repräsentativen Instanzen zu versehen, die dann im vorgeblich
*gemeinsamen Interesse* die Partialinteressen der Herrschenden
durchsetzen. So funktioniert bürgerliche Demokratie, und das ist die
Rolle von NGOs.

Im "vorgeblich" steckt der Missbrauch / die Entfremdung. Ansonsten
siehe meine Bemerkungen zur falschen Schlussrichtung.

Ich tendiere immer mehr dazu, dass dieser Schritt zur Entfremdung der
entscheidende Punkt ist. Und du zählst auch zwei Beispiele auf, die
wir sicher alle hier als entfremdet verstehen können. Hast du auch
Beispiele, bei denen keine Entfremdung vorliegt?

Ja, meine Aktivität im Oekonux-Kontext.

Auch hier gibt es die Gruppenstandpunktswolke. In vielen Fällen ist
die ziemlich diffus, aber mindestens in der Frage der Spam-Filter
gegen kommerziellen Spam von Außen sind sich wohl hier alle einig. Und
damit konstituiert sich zumindest ein Gruppenstandpunkt sogar ziemlich
deutlich.

Auch die pure Anwesenheit auf der Liste zeigt schon ein gemeinsames
Interesse, das - in sehr weiten Grenzen - eine Gruppenstandpunktswolke
konstituiert.

Immanenz pur - aber dennoch als (überindividueller)
Gruppenstandpunkt formulierbar.

Nein. Du kannst deine Sicht haben, du kannst behaupten, es gäbe den GS, du
kannst ihn dir wünschen, du kannst darum kämpfen. Aber niemand und nichts
entscheidet: Es gibt einen Gruppenstandpunkt und das issa.

Doch: Alle zusammen.

Jeder Versuch
müsste sich aus der Immanenz begeben, und den GS an überindividuelle
Gegebenheiten binden: so ist es nun mal, das ist die Mehrheitsmeinung,
die praktische Erfahrung zeigt es doch, es funktioniert doch so usw. Das
sind Bindungen an transzendente "Instanzen", nur das nicht mehr "Gott"
oder die "Wahrheit" ist.

Quark. Es ist eine Einigung möglich und im Falle der Einstimmigkeit
ist sie sogar völlig fraglos. Das hat nichts, aber auch gar nichts mir
Transzendenz zu tun.

Oder, wenn der Gruppenstandpunkt nicht
sein darf, anders herum: Wie würdest du diese überindividuelle
Konstruktion namens Gruppe theoretisch fassen?

Oben habe ich dazu was geschrieben. Ich würde erstmal zurückfragen: Wozu
brauchst du eine theoretische Begründung für eine überindividuelle
Konstruktion namens Gruppe?

Um die Welt besser zu verstehen? Der Begriff des Kapitals hilft mir
den Sektor der Welt "Ökonomie in Geldgesellschaften" besser zu
verstehen. Der der Gruppe hilft mir den Sektor "Soziales" besser zu
verstehen.

Eine Anrufung eines "Muss"
ist schlicht unmöglich, denn es wäre immer ein transzendentes "Muss".
Immanenz ist mit Normativen unvereinbar).

Wenn das Normative hilft, die individuelle (und kollektive?)
Selbstentfaltung zu befördern, dann ist es nicht unvereinbar sondern
die Voraussetzung für die Entfaltung der Immanenz.

Normative sind immer transzendent und damit strukturell gegen
Selbstentfaltung gerichtet. Sich selbst zu entfalten bedeutet gerade und
immer mehr, genau sich nicht normkompatibel zu verhalten.

Was Unfug ist, wenn du die Norm für dich selbst gesetzt hast.

Oder mit
"Empire": Genau das Nichtnormative und das Nicht-Normierbare ist die
Grundlage der Produktivität der Multitude. Finde ich, passt gut zur FS.

Und wieder wechselst du die Ebene vom konkreten in die `Multitude'.
Hier scheint mir immer mehr der Grund für das zu liegen, was ich auch
als Aneinander-Vorbei-Reden erlebe.


						Mit Freien Grüßen

						Stefan

________________________________
Web-Site: http://www.oekonux.de/
Organisation: projekt oekonux.de


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