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Herrschaft in den Protokollen (was: [ox] Panoptikum der Kontrollgesellschaft)



Hi Liste!

3 weeks (22 days) ago Benni Baermann wrote:
Folgender Text ist interessant, wenn auch teilweise etwas ärgerlich.
Anschliessend an die "Empire"-Debatte macht sich da jemand auf die
Suche nach der Herrschaft in den Netzen:

http://www.jungle-world.com/_2002/50/sub04a.htm

Sogar ein sehr interessanter Text. Den Aspekt die von Computern
verwendeten technischen Protokolle z.B. im Internet als
Herrschaftselement zu sehen, hat ja wohl auch Lessig aufgegriffen. Auf
der 1. WOS habe ich da einen Eindruck bekommen
[http://www.mikro.org/Events/OS/ref-texte/lutterbeck-ishii.html].
Stichwort: Lex Informatica. Leider habe ich es weder für unsere 1.
noch für die 2. Konferenz geschafft, dazu jemensch zu bekommen :-( .

Allerdings habe ich - mal wieder - ein Problem mit dem
Herrschaftsbegriff, der in dem Text von Alex Galloway verwendet wird.
Kurz gesagt ist mir die Perspektive mal wieder zu einseitig. Diese
einseitige Perspektive, die quasi nur immer "das Böse" betrachtet,
verhindert m.E. einen neutraleren Blick auf die Verhältnisse und
erschwert daher einerseits sowohl das Verständnis der Vorgänge und
andererseits verunmöglicht diese Perspektive geradezu den Umgang mit
den Phänomenen im Sinne einer emanzipatorischen Perspektive. Wenn
ich's polemisch formulieren will, würde ich sagen: Die Inquisition
sucht mal wieder nach dem Teufel. Leider kommt bei diesem Ansatz aber
auch nur Exorzismus raus :-( . Seufz...

Ich zitiere mal einige Passagen und kommentiere sie. Vielleicht wird
ja diesmal und/oder wieder ein bisschen klarer worum es mir geht.

Wie funktioniert Herrschaft in der Kontrollgesellschaft? Bis zum
Beginn der Moderne war die Antwort auf diese Frage offensichtlich.
Was Michel Foucault als die souveränen Gesellschaften des
Abendlandes bezeichnete, ist charakterisiert durch zentralisierte
Machtausübung und uneingeschränkte Befehlsgewalt. Herrschaft war
allein eine Verlängerung der Worte und Taten des jeweiligen
Herrschers, ausgeübt wurde die Herrschaft durch Gewalt und andere
Zwangsmaßnahmen. Im 19.Jahrhundert, als sich die
Disziplinargesellschaften der Moderne bildeten, wurde Gewalt durch
eine bürokratischere Form von Befehl und Gehorsam ersetzt. Der
französische Philosoph Gilles Deleuze dehnte diese Periodisierung
bis in unsere Gegenwart aus und nahm an, dass nach der
Herrschaftsform der Disziplinargesellschaft die der
Kontrollgesellschaft folgen würde. Michael Hardt und Toni Negri
stimmen mit seiner Einteilung vollständig überein, nennen die
Wachablösung der modernen Disziplinargesellschaft aber Gesellschaft
der imperialen Kontrolle.

Hier ist wenigstens mal klar, dass alle zusammen den iSdsS verkürzten
Herrschaftsbegriff verwenden. Herrschaft beschränkt sich in diesem
verkürzten Begriff auf Gewalt, Zwangsmaßnahmen, Kontrolle. In dem
verkürzten Begriff von Herrschaft können sie nur vom Himmel fallen und
haben keinerlei innere Begründung in dem je vorfindlichen sozialen
System oder im Sozialen an sich.

Es hat danach schon eine innere Logik, wenn mensch dann messerscharf
schließt, dass es genügt, dieses Böse lediglich auszutreiben. Ist das
Böse dann erst ausgetrieben, ist alles gut und wir sind einfach alle
lieb zueinander. Vielleicht genügt es ja, die Bösen einfach an die
Wand zu stellen? Ja, so einfach wird's sein...

Das ich dieses simple Modell nicht (mehr) teile, habe ich nun oft
genug betont. Ich bin vielmehr (heute) der Ansicht, dass Herrschaft
tatsächlich tief in das Soziale an sich eingebettet ist, ja immer
mehr, dass der Begriff des Sozialen ohne den Begriff der Herrschaft
iSdsS wirklich nur schwer denkbar ist. Die Alternative ist nämlich das
Chaos und das ist weder sozial noch emanzipatorisch.

Immer mehr bin ich der Überzeugung, dass es gar nicht darum gehen
*kann* Herrschaft iSdsS abzuschaffen. Vielmehr muss es darum gehen,
die Machtmissbräuche, die die oben versammelten Herrschaften zur
Herrschaft umdeuten, in einer Herrschaftsform strukturell zu
verhindern.

An dem Aspekt der von Computern exeketuierten Protokolle lassen sich
die Verhältnisse nochmal ganz gut aufdröseln.

BTW: Der Autor kennt sich erfreulich gut aus bei Computer-Protokollen
:-) .

*Ordnung im Netz.* Zentral für die Netzcomputertechnologien ist das
Konzept des Referenzprotokolls. Ein Protokoll ist eine Sammlung von
Verfahren, die die mannigfaltigen Netzwerkbeziehungen regeln.
Protokolle, die beispielsweise das Internet regeln, sind in dem
enthalten, was sich Request-For-Comment-Dokument (RFC) nennt. Es
handelt sich hierbei um Definitionen der Protokolle und Maßregeln
des Internets.

Ja, aber Protokolle, Konventionen, Standards gibt es eigentlich auf
allen Ebenen des Computers.

Dass ein Byte 8 Bit lang ist, ist z.B. eine Setzung, die sich
historisch durchgesetzt hat. Es gab auch Computer, die mit 6-bittigen
Bytes gearbeitet haben. Ein Wort war dann 36 Bit lang und nicht 32. Es
könnte also auch anders sein.

Dass das Stack-Layout im Rahmen eines Calling-Scheme so und so und
nicht anders ist, ist eine Konvention, an die sich eine Library halten
muss, wenn sie mit anderem Programm-Code zusammen laufen soll. Es
könnte aber von der Flexibilität der Technik her auch ein anderes
Stack-Layout sein.

Ja, dass Programme in einer Programmiersprache bestimmten
syntaktischen Regeln gehorchen müssen um überhaupt einen Sinn zu
ergeben, ist eine Ausgeburt irgendwelcher
ProgrammiersprachenentwicklerInnen. Allein die Anzahl der bestehenden
Programmiersprachen zeigt, dass es hier viele Variationsmöglichkeiten
bis hin zu völlig unterschiedlichen Herangehensweisen gibt.

Dass einige Zugänge zu einem öffentlich erreichbaren Computer mit
einem Passwort vor unbefugtem Zugriff geschützt werden, ist ein
Protokoll, das auch nicht gerade neu ist. Auch dies müsste nicht so
sein.

Ja, selbst dass Tastaturen so und nicht anders belegt sind, ist
reichlich willkürlich (und unergonomisch zudem).

Alle diese Protokolle, Konventionen, Standards sind aber ganz klar
Herrschaftselemente: Sie setzen bestimmte Regeln im Interesse ihrer
AnwenderInnen durch. Ein Passwort zieht von der Idee her eine scharfe
Grenze zwischen denen, die das Passwort kennen, und allen anderen. Es
schließt die aus, die nach Meinung der Passwort-VergeberIn nicht
befugt sind, etwas mit den geschützten Dingen anzufangen. Ob es sich
um einen Shell-Zugang, einen POP3-Zugang oder das Passwort zu den
ReferentInnen-Daten der Oekonux-Konferenz-Datenbank handelt ist dabei
völlig unerheblich.

Ich würde also vertreten, dass alle diese Regularien
Herrschaftselemente sind. Wer sie einsetzt übt dementsprechend
Herrschaft aus.

Nach der verkürzten Sicht auf Herrschaft, die ich oben nochmal kurz
angedeutet habe, ist das aber gar nicht entscheidend. Vielmehr ist
entscheidend, *wer* diese Herrschaftselemente einsetzt - als ob sie
damit ihre Eigenschaft verlieren würde.

Folgerichtig wird gleich wird munter aufgezählt:

Die Handhabung der RFCs wird von der
Networking-Abteilung im Informatikinstitut an der Universität von
Südkalifornien (ISI) verwaltet. Sie ist offen einsehbar für jeden,
der, um Hardware oder Software zu entwickeln, Know-How der
Spezifizierungen braucht. Das ISI selbst steht unter der Verwaltung
der Internet Engineering Task Force, einer international
operierenden, technokratischen Gemeinschaft von
Netzwissenschaftlern, und der Internet-Society, einer
altruistischen, aber gleichwohl technokratischen Organisation. Der
Öffentlichkeit gegenüber vertritt sie die Ansicht, dafür zu
garantieren, dass » eine offene Entwicklung und Evolution der
Internetnutzung zum Wohle aller Menschen auf der ganzen Welt«
möglich ist. Einige wenige Netzprotokolle, die der besseren
Kommunkation im World Wide Web (einem Netzwerk innerhalb des
Internet) dienen, werden vom World Wide Web Consortium geregelt.
Dieses internationale Konsortium wurde im Oktober 1994 ins Leben
gerufen, um gemeinsame Protokolle zu entwickeln, wie etwa Hypertext
Markup Language (HTML) und Cascading Style Sheets. Anwendungen von
anderen Netzprotollen wurden für andere Nutzer entwickelt.

Und schwupps ist der Trick geschafft: Es sind gar nicht die
Herrschaftselemente selbst, die Herrschaft konstituieren, nein, es ist
die "international operierende, technokratische Gemeinschaft". Kurz
geschlossen: Weg mit der bösen technokratischen Gemeinschaft.

Und dann? Irgendwer wird sich auch dann um die Weiterentwicklung von
Regularien kümmern müssen, die bestimmte Dinge vorschreiben und andere
verbieten. Irgendwer wird auch dann mit den Herrschaftselementen
umgehen müssen, wenn wir die Interoperabilität verschiedenster
Computer-Systeme nicht aufgeben wollen. Diese Interoperabilität trägt
indirekt übrigens nicht unerheblich zum Selbstentfaltungspotenzial
ihrer NutzerInnen bei.

*Hier* liegt aber das wirkliche Problem, dass durch die verkürzte
Sicht auf Herrschaft schlicht vernebelt wird. Auch eine Einrichtung
jenseits der bösen technokratischen Gemeinschaft wird mit den gleichen
Fragen umgehen müssen wie die heutigen. Sie wird im gleichen Sinne
herrschen müssen wie es die heutigen tun: Regularien schaffen, die
tendenziell allen NutzerInnen zu Gute kommen.

Entscheidend ist m.E. die Herrschaftsform. Unterschiedliche
Herrschaftsformen sind unterschiedlich schwer zu missbrauchen - aka in
Machtmissbrauch zu verwandeln. Die Herrschaftsformen, die sich z.B.
auch rund um die Internet-Standards entwickelt haben und die m.E. mit
dem MaintainerInnen-Modell verwandt sind, hatte ich vor langer Zeit
schon mal grundsätzlich positiv kommentiert. Das drohende Problem der
Patente in W3C-Standards ist m.E. eine Fehlentwicklung und ich würde
es durchaus als Machtmissbrauch sehen. Schauen wir mal, ob die
Beherrschten den HerrscherInnen diesen Machtmissbrauch durchgehen
lassen oder sich neue HerrscherInnen suchen.

BTW: Dass das Obige eine etwas verkürzte Darstellung vor allem bei den
RFCs ist, lasse ich hier mal beiseite.

Um das Konzept dieser Computerprotokolle besser zu verstehen, muss
man sich das Netz in Analogie zum Autobahnsystem vorstellen. Es gibt
viele verschiedenen Wege, die es jedem von uns ermöglichen, von A
nach B zu fahren. Dabei gelten konventionelle
»Straßenverkehrsordnungen«, die eine Fülle von Verhaltensmaßregeln
innerhalb eines heterogenen Netzwerks regeln.

Genau. Diese Verhaltensmaßregeln in den Straßenverkehrsordnungen
regeln Verhalten. Sie werden gelegentlich notfalls mit Gewalt
durchgesetzt bzw. entsprechende Verstöße mit Strafen sanktioniert.
Diese Analogie zeigt es nochmal sehr deutlich, wie eng Regeln, die die
unendlichen Möglichkeiten einschränken, mit Herrschaft sowohl in der
verkürzten Version als auch iSdsS verwandt sind. Dass diese Regeln
und damit eben auch der Umgang mit ihnen aber etwas anderes als
einfache Unterdrückung sein kann, kann ich in dem verkürzten
Verständnis einfach nicht erkennen. Sind sie aber.

Aber auch der Straßenbau ist ja schon herrschaftliches Wirken. Die
Straßen werden ja nicht aus Jux gebaut, sondern sollen dem
Sozialsystem dienen, für das sie gabaut werden. Und zuweilen werden
Machtmittel auch gegen Menschen (z.B. Enteignung) für deren
Durchsetzung eingesetzt. Um Missverständnissen vorzubeugen: Das
verteidigt jetzt nicht irgendeinen konkreten oder ganz allgemein
Straßenbau. Es stellt nur dar, dass am Straßenbau eben mehr ist als
Unterdrückung.

Sie werden von
Informatikern Protokoll genannt. Protokolle sind somit
voluntaristische Regulierungen in einer pfadabhängigen Umwelt.

Ganz genau. Und jede Regulierung hat auch etwas mit Herrschaft zu tun.

Protokolle arbeiten auf einem Code-Level. Ihnen sind
Informationspakete beigefügt, damit man sie transportieren kann. Sie
kodieren Dokumente, damit man sie effektiv zergliedern kann, und sie
kodieren Kommunikationen, damit Geräte an verschiedenen Orten
effektiv kommunizieren können. Protokolle sind rein formeller Natur,
das heißt, sie bleiben dem Inhalt der Informationen gegenüber
relativ indifferent. Das Protokoll ist dabei nicht synonym mit der
Informatisierung oder der Digitalisierung. Während Kenntnisse der
Informatisierung grundlegend für ein Verständnis der New Economy
sind, bedeutet der Begriff Protokoll etwas völlig anderes. Es ist
ein zergliedertes Managementsystem, welches der Kontrolle innerhalb
materieller Beziehungen dient.

Eben nicht nur der Kontrolle! Hier schlägt wieder der verkürzte
Begriff durch.

Vielmehr empowern Protokolle die Menschen überhaupt erstmal mit
Computern umzugehen. Sie ermöglichen es, dass Millionen
feinstrukturierte Siliziumstrukturen Elektronen in einer Weise fließen
lassen, die wir als sinnhaft begreifen können. Das ist aber nur
möglich, *weil* die Protokolle existieren, *weil* sie falsche Daten
mit Fehlermeldungen "bestrafen".

Der Ausschluss des x-Beliebigen ist aber wohl ganz klar Herrschaft -
sowohl iSdsS als auch in dem verkürzten Sinne der o.g. Herrschaften.
Dieser Ausschluss des x-Beliebigen fällt aber eben nicht vom Himmel,
sondern ist tatsächlich wichtiger Bestandteil des Sozialen
schlechthin.

*Zergliederung und Fokus*

Eine dezentralisierte Architektur ist dazu bestimmt, imperiale, d.h.
protokollarische Kontrolle über das Netz zu vereinfachen.

Vielleicht ist wenigstens andeutungsweise klar, dass genau diese
In-Eins-Setzung von imperial (d.h. Machtmissbrauch) und Protokollen
(oder auch anderen Herrschaftselementen) einfach nicht haltbar ist,
soll das Phänomen umfassend verstanden werden.

Tatsächlich ermöglichen die unterschiedlichen Internetprotokolle,
dass Kontrolle ausschließlich von solch einer untergliederten
Architektur abgeleitet werden kann. Diese Ansicht bestätigen Hardt
und Negri, wenn sie schreiben: »Der Übergang zur
Kontrollgesellschaft bedeutet keineswegs das Ende der Disziplin.
Tatsächlich dehnt sich der immanente Disziplinargebrauch in der
Kontrollgesellschaft immer umfassender aus.«

Hupps, was macht denn das "immanent" hier? Na, irgendeine der tausend
Lesarten von Immanenz haut wohl nicht hin. Oder kommen H/N schon dazu,
dass diese Disziplin auch für die von den BlutsaugerInnen befreite
Multitude notwendig ist, dass die Disziplin auch eine Form von
Empowerment darstellt, ohne die manches gar nicht möglich wäre?

Tatsächlich wäre heute sogar immer mehr gar nicht ohne die
entsprechende Disziplin möglich, auch weil die technischen
Freiheitsgrade immer stärker steigen. Diese Freiheitsgrade können aber
nur unter Anwendung von Disziplin / Regulierung zu einem sinnvollen
Miteinander gebracht werden. Wenn die Natur das Verhalten diktiert -
wie in den Brötchengesellschaften - ist Regulierung dagegen nicht
notwendig. Das regelt dann schon die existentielle Not.

Warum sollte das auf diesem technologischen Level überhaupt der Fall
sein? Das Protokoll basiert auf einem Widerspruch zwischen zwei
gegensätzlichen Technologieformen: Eine zergliedert die Kontrolle
radikal auf autonome Schauplätze, die andere fokussiert sie in klar
definierte Hierarchien. Ich behaupte nun, dass die Spannung zwischen
diesen beiden Technologiefeldern erst die Bedingungen für die
Existenz der protokollarischen Kontrolle schafft.

Die erstgenannte Technologie, die dem Internet sein Image als
unkontrollierbares Netzwerk gibt, leitet sich vor allem aus der
Familie der Protokolle ab, die unter dem Begriff TCP/IP bekannt
sind. Transmission Control Protocol (TCP) und Internet Protocol (IP)
sind die wichtigsten Protokolle für die eigentliche Übersendung von
Daten von einem Computer auf einen anderen im Netzwerk. TCP und IP
arbeiten zusammen, um Verbindungen zum Netzwerk einzurichten und
Dateien effektiv durch solche Verbindungen zu schicken. Durch den
besonderen Aufbau von TCP/IP kann jedes Gerät des Netzwerks mit
jedem anderen »sprechen«. Daraus ergibt sich wiederum ihre
antihierarchische, unübersichtliche Struktur. Oder wie es ein
Bedienungshandbuch formuliert: »IP benutzt ein anarchisches und
äußerst zergliedertes Modell, mit dem jedes Gerät gleichwertig zu
jedem anderen Gerät im globalen Internet ist.«

Die zweite Technologie, die sich auf die Kontrolle durch klar
definierte Hierarchien stützt, wird Domain Name System (DNS)
genannt. Die DNS ist eine riesige, dezentralisierte Datenbank. Sie
enthält Informationen, wie man eine Netzwerkadresse mit einem
Netzwerknamen erfasst. Diese Erfassung wird für jede Transaktion im
Netzwerk benötigt. Um beispielsweise die Seite »www.rhizome.org
<http://www.rhizome.org/>« im Internet zu besuchen, muss uns der
Computer erst den Namen »www.rhizome.org« , der ja selbst
geografisch ungenau ist, in eine spezifische Adresse beim Netzwerk
übersetzen. Diese spezifischen Adressen werden IP-Adressen genannt.
Sie sind als eine Serie von vier Ziffernkombinationen geschrieben:
etwa 206.252.131.211 <http://206.252.131.211/>. Jede DNS-Information
wird kontrolliert wie eine hierarchische, umgekehrt wuchernde
Baumstruktur. An der Spitze dieser baumartigen hierarchischen
Struktur sind einige wenige sogenannte Root Server, die die
Oberkontrolle haben und untergeordnete Kontrolle an niedriger
gestellte Abteilungen in der Hierarchie delegieren. Die Adresse
www.rhizome.org wird umgekehrt zergliedert, man beginnt mit dem
»org«. Theoretisch erhält der Root Server ein Ersuchen des Users und
leitet den User zu einer anderen Maschine, die Einfluss auf die
»rhizome« Unterabteilung hat, welche nun wiederum die IP-Adresse für
die spezifische Maschine namens »www« zurückgibt. Diesen Prozess der
Ableitung einer IP-Adresse von einem Domain wird Resolution genannt.

Wenn eine kontrollierende Instanz die Verbannung aller Webpages im
Netz mit der Endung »org« wünschen würde, könnte sie dies im
Handumdrehen durch eine einfache Modifikation der Information tun,
die in dem Dutzend Root Server stecken, welche rings um den Erdball
verteilt sind. Ohne grundlegende Unterstützung der Root Server
würden alle untergebenen Abteilungen des DNS-Netzwerks unbenutzbar.
Diese Realität sollte unser Bild vom Internet als unkontrollierbares
Rhizom gerade rücken.

Zwar stimmt es, dass das DNS wie es heute existiert eine
zentralisierte Einrichtung ist - jedenfalls was die erwähnten
Root-Server betrifft. Aber dieses DNS ist historisch gewachsen, als es
immer weniger leistbar war, die sich ständig vergrößernden
Routing-Tabellen zu pflegen. Das DNS als solches ist also wiederum ein
Stück Empowerment, denn es ermöglicht, dass alle Menschen dieses
Planeten in einem einheitlichen Namensraum operieren, der sich quasi
von selbst, jedenfalls aber ohne eine einzelne Zentrale pflegt. Den
Namensraum in meinem Haus-LAN pflege ich nämlich z.B. höchst selbst
:-) .

Die Alternative in Form einer Autonomie wäre eine Zerstückelung der
Namensräume, so dass `rhizome.org' z.B. in Deutschland nicht aufgelöst
werden könnte, weil der deutsche autonome DNS-Dienst nichts mit `.org'
anfangen kann. Die Abkopplung vom zentralen DNS hat also erstmal die
gleichen Folgen wie der Machtmissbrauch, der an der zentralen Stelle
ansetzt und den der Autor hier an die Wand malt.

Kann noch deutlicher werden, dass dieses Herrschaftselement DNS den
Interessen der Internet-Gemeinde dient? Sowohl machtmissbräuchlicher
Zugriff als auch eine Autonomie vom Zentralsystem haben die gleiche
aus- bzw. einsperrende Wirkung.

Das eigentliche Problem der zentralen Root-Server - was ja nicht
völlig unreal ist - ist aber wieder keins der Herrschaft an sich. Dann
wäre eine sofortige Abschaffung des DNS nämlich die naheliegende
Forderung - was aber auch keinE noch so flammende Empire-AnhängerIn
wollen kann. Das eigentliche Problem ist die Verhinderung eines
Machtmissbrauchs wie die Abschaltung von `.org', vermutlich aber eher
so etwas wie `.am' (Warez-Paradies) oder `.iq' (nächster
Kriegs"gegner" der USA).

Hier gilt es m.E. zweierlei genauer herauszuarbeiten:

* Welche Eigenschaften von Herrschaftselementen können einen
  Machtmissbrauch erschweren?

  Dezentralisierung ist sicher ein Faktor. Eine Zentralisierung von
  Herrschaftselementen führt dazu, dass ein missbräuchlicher Eingriff
  wie der geschilderte sehr weitgehende Auswirkungen hat. Das ist
  natürlich schlimmer, als wenn die Auswirkungen begrenzt bleiben.

* Welche gesellschaftlichen Strukturen, welche Herrschaftsformen
  können einen Machtmissbrauch erschweren?

  Hier liefern die Strukturen, die im technischen Kernbereich des
  Internet gewachsen sind und die eine deutliche Ähnlichkeit mit den
  Strukturen Freier Software haben, wichtige Hinweise.

  M.E. ist ein wichtiger Kernbegriff die Entfremdung von den
  Bedürfnissen der Menschen - z.B. als Profitinteresse.

Das Protokoll als solches ist materiell und immanent. Das heißt, es
folgt keinem Modell von Befehl und Kontrolle, das den Befehlshaber
außerhalb der Befehlssphäre platziert.

Das ist ja nochmal eine andere Lesart von immanent. Die gefällt mir
ganz gut und die ist m.E. auch kompatibel mit dem, was ich als
Gruppenstandpunktswolke und interindividuell vs. überindividuell
versucht hatte zu verdeutlichen. Schillerndes Wort...



Auf den praktischen Aspekt der Protokolle kommt der Autor aber auch
noch.

Das zergliederte Netzwerk funktioniert vollkommen anders: »Das
Empire hat kein Rom«. Zergliederte Netzwerke haben im Empire
überhaupt ihren angestammten Platz. Ein Punkt in einem zergliederten
Netzwerk ist weder ein Dreh- und Angelpunkt noch ein
Satellitenknotenpunkt. Im Netzwerk ist nichts enthalten, außer
intelligenten Endpunktsystemen, die sich selbst determinieren. Wie
ein Rhizom baut jeder Knotenpunkt in einem zergliederten Netzwerk
direkte Kommunikation mit einem anderen Knoten auf, ohne sich auf
hierarchische Vermittlung zu berufen. Um die Kommunkation zu
initialisieren, müssen die beiden Knotenpunkte dieselbe Sprache
sprechen.

Eben. Die Protokolle empowern hier.

Und deshalb definieren sich zergliederte Netzwerke durch
die gleichen Sprachen, die gemeinsamen Protokolle. Ein gemeinsames
Protokoll führt zu einer Netzwerkverständlichkeit, während
nonkompatible Protokolle zu Netzwerkmissverständnissen führen. Wenn
auf zwei Computern beispielsweise das DNS-Protokoll läuft, wird es
ihnen möglich sein, effektiv miteinander zu kommunizieren. Aber den
gleichen Computern ist es nicht möglich, mit einer Maschine fremder
Bauart zu kommunizieren, auf der das NIS-Protokoll von Sun
Microsystems oder das WINS-Protokoll von Microsoft läuft.

Aber auch umgekehrt lässt sich genau hier schön zeigen, wie sehr
Protokolle eben auch Herrschaftselemente sind: M$ hat gute Gründe, bei
allem und jedem *eben nicht* den allgemein anerkannten
Herrschaftselementen / Protokollen zu folgen, sondern - mit
wechselndem Erfolg - eigene einzusetzen.

Wenn aber das W3C auf die Einhaltung des HTML-Standards drängt und die
Freie-Software-Gemeinde ihm hier wohl ganz überwiegend folgt, so ist
das im Grunde kein anderer Vorgang. Auch hier wird ein Standard gegen
einen anderen gestellt und mit (Implementierungs)macht versucht
durchzusetzen.

Warum ist es jetzt aber bei M$ Machtmissbrauch und beim W3C
Herrschaft? Ganz einfach: Bei M$ ist - auch aus Erfahrung - klar, dass
M$ sich eben einen Teufel um die Interessen irgendjemensches
ausserhalb von M$ schert. Beim W3C ist dagegen - auch aus Erfahrung
aber auch qua Konstruktion - zu vermuten, dass die Interessen
zumindest sehr vieler Menschen tendenziell bedient werden. Ändert sich
dies - wie in der Patentfrage beim W3C denkbar - dann beginnt auch das
W3C Macht zu missbrauchen.


Soweit mal wieder zu diesem Komplex. Für Kommentare,
Richtigstellungen, Erweiterungen, Falsifizierungen, Verifizierungen
etc. bin ich im Interesse einer Weiterentwicklung des Ausgebreiteten
wie immer dankbar.


						Mit Freien Grüßen

						Stefan

PS: Weil ich privat gefragt worden bin hier nochmal für alle. "iSdsS"
steht für "im Sinne des systematischen Soziologen" und bezieht sich
auf

	http://www.oekonux.de/liste/archive/msg04726.html
	http://www.oekonux.de/liste/archive/msg04988.html
	http://www.oekonux.de/liste/archive/msg05029.html

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Web-Site: http://www.oekonux.de/
Organisation: projekt oekonux.de


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