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Re: [ox] Re: Repraesentation



Hi StefanMn und alle, die noch folgen können,

für alle QuereinsteigerInnen - was bisher geschah: long time ago hat 
StefanMn anhand eines Textes aus der sogenannten "Systematischen 
Soziologie" einen positiven Herrschaftsbegriff entwickelt. Demgemäß ist 
das, was gemeinhin als "Herrschaft" bezeichnet werde, in Wirklichkeit ein 
Herrschaftsmißbrauch, während Herrschaft eigentlich nur eine 
interindividuelle Regulationsform ist. Herrschaft hat zwei Seiten, die 
Repräsentation (=gut) und die Beherrschung (=böse).  Damit gibt es gute 
und böse Herrscher, die einen, die nur den Kollektivwillen 
repräsentieren, und anderen, die dabei auch das Kollektiv mit 
Macht/Gewaltmitteln beherrschen (inkl. des Machtkampfes gegen andere 
Kollektive).

Dem hat (neben anderen) StefanMz, that's me, entgegengehalten, dass 
Repräsentation ein genuines Beherrschungsinstrument ist, dass dazu dient 
andere in ihrer Handlungsmacht einzuschränken. Es gibt demnach keinen 
"Missbrauch" von Herrschaft, dem ein "Gebrauch" gegenübersteht, sondern 
Gebrauch und Missbrauch sind identisch. So etwas wie "Kollektivwillen" 
(Gruppenstandpunkt etc.) gibt es in Wahrheit nicht, sondern ist ein 
ideologisches Konstrukt, um die Beherrschung zu rechtfertigen. Die 
Beherrschung lässt sich nicht aus dem Kollektiv heraus (immanent) 
begründen, sondern braucht diese vorgebliche, das Kollektiv 
überschreitende (transzendente) Instanz eines "Kollektivwillens" etc.

So weit die Pole, wie ich sie verstanden habe. Korrekturen oder 
Präzisierungen erwünscht.

Nun zu:
On Sunday 08 December 2002 21:09, Stefan Merten wrote:
Die wichtigen Hinweise gibt hier nicht die Empirie, sondern das
Empire von Hardt/Negri.

Mal eine Frage: Wie hättest du eigentlich vor dem Genuss dieses
offenbar epochalen Werkes argumentiert? Das ist keine rhetorische
Frage sondern das interessiert mich wirklich.

Ich hätte versucht, es mit den Mitteln der Kritischen Psychologie zu 
denken, sozusagen als Annäherung von der Seite des Individuums. Auf der 
crit-psych-Liste gab es vor ewigen Zeiten eine von einem (so weit ich 
erinnere) Organisationspsychologen, der nun eine Consultingfirma hat, die 
Frage, ob es neben der kritischen Gesellschaftstheorie (Marxismus) und 
der kritischen Individualtheorie (Kritische Psychologie) nicht auch so 
etwas wie eine kritische Gruppentheorie geben müsse. Ich habe damals 
verneint und das mit Argumenten aus der KritPsych-Theorie begründet 
(müsste ich ausbuddeln.

Das argumentiert für mich nachvollziehbar nämlich so:
Herrschaft knüpft ihre eigene Reproduktion an zwei Faktoren:
Transzendenz und Repräsentation. Die humanistische Tradition hat dies
als Gegensatz begriffen, nämlich als Gegensatz von Monarchie und
Demokratie.

Aha. Danke. Ich glaube so langsam ahne ich, wo der ganze Kram
herkommt.

H/N zeigen hingegen, dass es zwei Seiten derselben Medaille sind.

Wichtig: Mir geht es *nicht* um die Auseinandersetzung mit irgendeiner
überkommenen Denktradition. Mir geht es *gerade nicht* darum, mich auf
den Gegenstand zu fixieren, den diese überkommene Denktradition hat -
denn das muss ich letztlich, wenn ich mich damit auseinandersetzen
will...

Das habe ich schon verstanden. Ich habe hingegen versucht zu zeigen, dass 
du dich in dieser Denktradition bewegst, ob du es willst oder nicht. Nur 
du wertest die Elemente um, du wertest sie positiv. Ich sage: Das geht 
nicht.

Mein Verdacht, den ich die ganze Zeit schon hatte bestätigt sich hier:
H/N's Feld ist überhaupt nicht mein Feld. Ich rede die ganze Zeit
nicht vom Staat und ich werde auch sicher nicht die Demokratie
verteidigen - zumindest nicht gegenüber m.E. besseren Varianten wie
Konsensorientierung.

Habe ich auch verstanden. Klar, es geht nicht um den Staat. Aber da kommt 
diese Denkform her. Auch wenn du das nicht gut findest und umwidmen 
möchtest, musst du das zur Kenntnis nehmen.

Was aber hier so en passant auch geschieht ist die Identifikation von
staatlicher (oder staatsähnlicher) Herrschaft mit Herrschaft
überhaupt. Oder genauer: Die Reservierung des Wortes "Herrschaft" auf
diesen Ausschnitt des Begriffs Herrschaft iSdsS.

Ist klar. Da du die gut-böse-Teilung machst, kannst du nun die überkommene 
Denktradition auf die böse-Seite packen. Damit löst du aber nichts, das 
ist halt sehr willkürlich.

Das kann mensch
natürlich machen - letztlich nur eine Sprachregelung. Dennoch wäre
dann ein Wort für den (großen) Rest des Begriffs Herrschaft iSdsS zu
finden. Nochmal: Was könnte das sein? Bisher habe ich das Gefühl, dass
die Antwort heißt: "Gibt es nicht" oder "Ist unwichtig".

Die Frage nach dem "Rest" gibt es überhaupt nur, weil die SysSoz die 
bürgerliche Form der interindividuellen Regulation (ich hab kein besseres 
Wort) naturalisiert. Sie sagt: Das ist immer so. Seht her, da gibt's zwei 
Seiten, eine gute, eine schlechte usw.

Was dich interessiert, ist mit der Frage "Was ist mit dem großen Rest der 
Herrschaft IsdsS" schon in die völlig falsche Richtung gelenkt. Es ist 
die falsche Frage auf die du nur falsch antworten kannst. IMHO müssen wir 
das, was da "mit den Gruppen so abgeht" (um es mal ganz neutral zu sagen) 
anders anpacken.

Und es gibt hier auch einen wertenden Aspekt: Das so beschnittene Wort
Herrschaft ist ziemlich klar negativ besetzt. Wahrscheinlich kann es
mit Unterdrückung (der Multitude) identifiziert werden. Ob staatliche
Herrschaft darauf reduziert werden kann, fragt sich m.E. zwar, aber
darauf kann ich mich meinetwegen einlassen. D.h. (staatliche)
Unterdrückung ist eigentlich worum es H/N geht - leite ich mal so ab.
Passt auch ganz gut zum ganzen Duktus und vor allem: Teile ich ja auch
völlig.

Gut. Die Verallgemeinerung von H/N ist aber auch: Das ist immer so (auch 
wenn es nicht um die Ebene des Staates) geht, und das muss auch so sein. 
Das teile ich.

Weil das wichtig ist, diesen Satz nochmal:
Beide Male
konvergieren die einzelnen Willensäußerungen der Individuen im Willen
des transzendenten Souveräns,

Das war erstmal nur die Beschreibung des historischen Prozesses. Ich will 
das nicht als ontologische Äußerung verstanden wissen im Sinne von: das 
ist halt immer irgendwie so...

Das ist sehr spannend. Nachdem wir festgestellt haben, dass
H/N-Transzendenz antiemanzipatorisch ist - ich übersetze es für mich
ja mit Entfremdung -, stellt sich jetzt die Frage, was denn in einer
emanzipierten Gesellschaft an die Stelle des transzendenten Souveräns
treten soll: Sollen die einzelnen Willensäußerungen der Individuen
entweder

* gar nicht mehr konvergieren - d.h. es gibt keinen Ersatz -, oder

* gibt es eine immanente Weise, wie sie konvergieren könnten.

Das ist für mich eine falsche Alternative, es setzt voraus, dass es einen 
"immanenten" Alternativ-Souverän geben muss, der den transzendenten 
Staats-Souverän ersetzt. Warum denn?

Die Frage ist doch, wie eine Freie Gesellschaft sich organisiert; wie 
Infrastrukturen entstehen, die für Stabilität und Konstanz sorgen, die 
für das Vertrauen wichtig sind; wie die Selbstentfaltung der Einzelnen 
maximal zur Geltung kommen kann; wie Konflikte ausgetragen werden können; 
und so weiter. Warum muss es da einen Souverän (=Herrscher) geben? Oder 
mehrere?

Ausserdem wäre sicher wichtig, in welchem Rahmen eine Antwort auf
diese Frage gemeint ist - Staat/Gesellschaft/Multitude vs. einfache
Gruppe.

Das eben war die Ebene der gesamten Gesellschaft, zumindest hast du es so 
genannt. Ich sehe aber keine anderen Argumente auf der Ebene von Gruppen 
oder Individuen.

Ich vermute, dass die H/N-Antwort lautet: Gar nicht mehr konvergieren.

Nein. Sie weisen auf, wie Beherrschung funktioniert: Konvergenz von 
Einzelwillen zum Allgemeinwillen ("volonte general" etc.), Repräsentation 
durch einen transzendenten Souverän (Gesellschaftsvertrag). Das sind die 
ideologischen Bausteine. Dem steht die Multitude mit ihrer autonomen 
Handlungsmacht insgesamt gegenüber. H/N würden sagen: Sie kommt zu sich, 
wenn sie den ganzen Beherrschungszirkus abwirft. Es geht also nicht um 
"Nicht mehr konvergieren", sondern um "keinen Souverän", um Entfaltung 
der Handlungsmacht (Posse).

Das halte ich für verheerend, da das die perfekte bürgerliche Monade
konstruiert. Die einzelnen Willensäußerungen der Individuen stehen
dann völlig unvermittelt nebeneinander und es gibt außerhalb der
persönlichen Willkür keinerlei intersubjektive Instanz mehr, die
Machtgebrauch legitimieren könnte - oder eben auch nicht. Das ist
letztlich Faustrecht - oder das, was die Libertarians vom Schlage
eines ESR sich wünschen.

Nein, kein bisschen. Dein Argumentationsschema ist: entweder die gute 
Herrschaft, oder Dasein der Einzelnen als bürgerliche Monaden. Die 
"Waren-Monade" ist aber ein Produkt der Warengesellschaft und kein 
ontisches, quasi-naturales Faktum. Und es ist gerade so, dass der 
vereinzelte Einzelne in der Warengesellschaft die transzendente 
Regulationsinstanz des Staates (mit Recht und allem drum und dran) 
_braucht_, um nicht unterzugehen. Du universalisierst und naturalisierst 
ein historisches Produkt, die Warenmonade, zu einer überhistorischen 
Wesenheit des "eigentlich" ungesellschaftlichen Menschen. _Darin_ liegt 
eine Verwandtschaft zu den Libertarians.

Die Frage mal von dieser IMHO falschen Gegenüberstellung Monade vs. 
Souverän befreit, lautet doch: Brauchen wir intersubjektive "Instanzen" 
in einer Freien Gesellschaft? Wenn ja, wie sehen diese aus? Wenn nein, 
wie sehen die intersubjektiven Beziehungen dann aus, wenn sie nicht 
"instanzenvermittelt" sind? - Diese Fragen sind für mich durchaus offen.

Meine Antwort würde dagegen lauten: Transzendenz (d.h. für mich:
Entfremdung was Ideologie beinhaltet) raus und Immanenz (d.h. für mich
Bedürfnisorientierung) rein. Allerdings geht das nicht, wenn...

So kannst du Transzendenz/Immanenz nicht übersetzen.

Wie heisst das für uns? Transzendenz und Repräsentation hängen eng
zusammen. Fehlt eines, ist Herrschaft nicht möglich:
Überindividueller (transzendenter) Gruppenwille verlangt nach
(repräsentativer) Außenvertretung und umgekehrt.

...Transzendenz mit überindividuell - genauer: Immanenz mit
individuell - identifiziert wird. Wenn ausschließlich individuelle
Positionen immanente sein können, dann kann es so etwas wie eine
Konvergenz in der Tat auch nicht geben - mit den eben angedeuteten
Folgen.

Ich würde dagegen halten, was ich schon mal in einer früheren Mail
angedeutet habe: Neben der überindividuellen / ideologischen /
entfremdeten und neben der individuellen / monadischen Position kann

(hier wird nochmal deutlich, dass du setzt: individuell=monadisch)

es noch eine _interindividuelle_ Position geben, die zwar keine
individuelle ist, aber dennoch auch keine überindividuelle a la Gott,
Vaterland oder Wirtschaftsstandort. Ich kann nicht erkennen, was an so
einer interindividuellen Position problematisch sein soll.

Sie ist nur transzendent denkbar. Ich setze dagegen auf die _je_ 
individuelle Position. Ich kopiere mal aus 
http://www.opentheory.org/vergesellschaftung/text.phtml den Absatz 34 und 
den entsprechenden Kommentar von Benni dazu hierhin, weil der das IMHO 
ganz gut darstellt:

(34) Teilhaben am gesellschaftlichen Prozess tun die Menschen auch heute 
schon, jedoch, wie mehrfach festgestellt, vermittelt und zugerichtet 
durch das »dritte Prinzip« der Wertabstraktion. Es geht also darum, das 
»Prinzip vom Standpunkt dritter Person« (den Fetisch) durch 
gesellschaftliches Prinzip vom »Standpunkt erster Person« aufzuheben. 
Dieses gesellschaftliche Prinzip verkörpert die »Assoziation, worin die 
freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung 
aller ist« (Marx/Engels 1948, 482). Diese »freie Entwicklung« oder 
»Selbstentfaltung«, wie es im Oekonux-Projekt genannt wird, ist dabei 
nicht denkbar als Entwicklung des isolierten Einzelnen, auch nicht als 
Summe unmittelbarer Interaktion und Kooperation jenseits 
gesellschaftlicher Vermittlung, sondern nur als unbeschränkte 
individuelle Teilhabe am Prozess der Vermittlung der kollektiven 
Produktion und Reproduktion des gesellschaftlichen Lebens [15].

(34.1) 12.06.2002, 13:38, Benni Bärmann: Moderne, Liberalismus und 
Kapitalismus haben doch den "Standpunkt erster Person" erst erfunden. Die 
gehen darin soweit, dass Ausgangspunkt jeder Erkenntnis das 
ungesellschaftliche Individuum ist (Robinson, Monade). Wenn 
Selbstentfaltung ein Standpunkt erster Person ist, dann nur einer der 
ersten Person plural. Wir statt ich. Doch auch das trifft es ganz und 
garnicht, weil wir immer Identifikation bedeutet, die jedoch bei 
Selbstentfaltung nicht vorhanden sein muss - oder nicht in dem Masse. 
Tatsächlich bietet zumindestens die deutsche Sprache dafür nichts an, 
oder? Das deutet sich ja auch in den Texten zur kritischen Psychologie 
an, wo immer von "je ich" die Rede ist, also sozusagen eine vierte 
grammatikalische Person eingeführt wird!

Vielleicht hier auch nochmal eine kategoriale Anmerkung. Während du
vorwiegend von der Totalität Staat und bestimmten Herrschaftsformen
(z.B. Demokratie) sprichst, geht es mir um ein kategoriales
Verständnis der bei Menschen auftretenden Dimension Gruppe. Will ich
über eine emanzipierte Gesellschaft etwas sagen, dann muss ich diese
Kategorie klar haben. Nur dann ist es insbesondere auch möglich, sich
über Formen klar zu werden, die einer emanzipierten Gesellschaft
möglichst angemessen sind.

Ok, das ist ein Ansatz. Habe ich oben ja auch versucht zu formulieren.

Oh, ja, ja, es ist nicht so einfach, denn IMHO bedeutet ein
Maintainermodell nicht Herrschaft. So haben wir hier bei Ox ein
Maintainermodell mit dir, Stefan, als Maintainer, aber du herrschst
nicht und repräsentierst nicht, weil das nicht geht. Es ginge schon,
aber dann würde ox nicht mehr weiterbestehen, sondern zerfallen (was
natürlich auch Optionen sein können, warum nicht).

Natürlich herrsche ich iSdsS: Ich versuche unablässig im Interesse des
Projekts zu handeln. Aber das tust z.B. du nach meiner Wahrnehmung
ganz genau so :-) .

Ich nicht: Ich handle unablässig in meinem Interesse. Zu diesem Interesse 
gehört u.a. das Projekt Oekonux.

Integrativer Bestandteil der Repräsentation ist die Zusammenfassung
und Vergegenwärtigung der Bestrebungen der Mitglieder der
Sozialeinheit.

Missbrauch liegt also nach diesem Satz vor, wenn Repräsentation "die
Zusammenfassung und Vergegenwärtigung der Bestrebungen der
Mitglieder der Sozialeinheit" nicht mehr leistet.

Das ist notwendig immer der Fall, sobald ein bestimmter Grad an
Spezifik und/oder Kontinuität erreicht wird.

Das wäre ein Argument. Kannst du das beweisen?

Mathematisch, oder was stellst du dir vor? Geht mit bestimmten Annahmen 
sicher. Ich kann es jetzt hier nur plausibilisieren. Spezifik: Je 
allgemeiner das Thema, desto eher konvergieren die Einzelwillen; je 
besonderer das Thema, desto mehr divergieren die Einzelwillen. 
Kontinuität: Je kürzer das Zeitfenster, desto eher ist Konvergenz 
feststellbar; je länger das Zeitfenster, desto häufiger tritt Divergenz 
auf. Beide Dimensionen übereinandergelegt, ergibt eine minimale 
Wahrscheinlichkeit der Willensidentität. Im Normalfall geht es also um so 
etwas wie "Mehrheitswillen", angenommen ("vergegenwärtigt") oder gemessen 
("Zusammenfassung"). Damit sind wir beim Demokratiemodell - das moderne 
transzendente Souveränitätsmodell.

Auch die traditionelle Arbeiterbewegung war (und ist) genau in dieser 
transzendenten Logik befangen: durch Einheitlichkeit und Mehrheitsbildung 
zur Handlungsmacht. Die immanente Logik bricht damit: Handlungsmacht 
durch Vielfalt, Unterschiedlichkeit, viele Wege, Entfaltung usw.

Ich würde dagegen halten, dass es darum gehen muss, Formen zu finden,
in denen dieser Entfremdungsschritt möglichst verhindert wird. Der
Schritt von der Monarchie zur Demokratie ist hier historisch ein
Formwandel in dieser Richtung gewesen. Wie sieht der nächste Schritt
aus? Was wir in der Freien Software sehen können, liefert m.E.
Hinweise.

Ok, deinen Ansatz habe ich verstanden. Bei deinem Versuch, einen Schritt 
weiterzugehen, bewegst du dich nur genau _in_ der Form der Souveränität. 
Und in dieser Form gibt es keinen weiteren Schritt. Alle Versuche wie 
Basisdemokratie usw. sind gescheitert. Deswegen gilt es, diese 
Bewegungsform (und Denkform), die eine bürgerliche ist, und die der 
SysSoz wunderbar aufgeschrieben hat, grundsätzlich zu verlassen. Und IMHO 
tut dies die FS auch partiell - ohne dass sie davon einen Begriff hätte. 
Den Begriff davon haben wir ja auch nicht, aber wenigstens die Idee, dass 
da was grundsätzlich anderes passiert. Unsere Anstrengungen verstehe ich 
als solche, das eben irgendwann man "auf den Begriff" zu bringen.

Ein IMHO völlig anderer Fall liegt eben beim Maintainer vor: Der/die
repräsentiert niemanden (außer "sich") und handelt. Dazu können sich
die anderen dann verhalten. Es gibt überhaupt nicht den Anspruch,
jemanden anderes Wille zu repräsentieren.

Und hier fängt das hinter dem Rücken durchsetzen an. Dein Punkt ist,
dass es diesen repräsentativen *Anspruch* nicht gibt (was ich in der
Freien Software auch anders wahrnehme aber das nur BTW). Das hat aber
nur etwas mit einer Ideologiebildung - oder eben nicht - zu tun, aber
nichts mit dem, was da tatsächlich passiert.

Ich sehe es genau umgekehrt: Ich nehme durchaus solche *Ansprüche" in der 
FS noch wahr, doch was tatsächlich passiert, ist etwas anderes, weil sich 
in der Dynamik der Projekte Repräsentation nicht wirklich praktizieren 
lässt: die Leute lassen sich einfach auch nicht gerne "repräsentieren".

Und hier wird's dann auch tatsächlich magisch: So, wie du es
darstellst, handelt die MaintainerIn so, wie es ihr gerade eben mal so
einfällt. Und wie durch ein Wunder laufen ihr nicht alle davon. Das
ist so etwas wie der "volunte general", der sich aufgrund einer
persönlichen Eigenschaft eben zufällig in ganz bestimmten Personen
manifestiert - nämlich den erfolgreichen MaintainerInnen.

IMHO nimmt die MaintainerIn wahr, was da passiert und handelt entsprechend 
- im eigenen Interesse. Sie braucht da niemanden zu repräsentieren oder 
beherrschen, sie muss sich einzig immer sehr gut ihr Interesse überlegen. 
Und da kommt dann in einer Logik, in der die eigene Entfaltung die 
Entfaltung der Anderen voraussetzt eben was anderes raus, als in einer 
Logik, wo man sich nur auf Kosten anderer durchsetzen kann. Da ist nichts 
magisches dran.

Mein ganzes Bemühen dreht sich letztlich genau darum, diese Magie da
wegzukriegen und rational zu verstehen, was da passiert. Und dann
werfe ich mal einen Blick in den Kopf von so einer MaintainerIn und
stelle fest, was die Handlungsgrundlagen der MaintainerIn sind. Du
sagst jetzt - wenn ich dich richtig verstehe - reiner Zufall.

Nein, kein bisschen, sondern handeln im eigenen Interesse.

Ich sage dagegen: Diese MaintainerIn hat das Interesse am
Gesamtprojekt im Auge.

Ja klar, wenn das Gesamtprojekt genau ihr Interesse ist - was sonst? Das 
spricht aber nicht dagegen, sondern *dafür*.

Deswegen kommuniziert sie mit anderen und
deswegen befragt sie ihre eigene Erfahrung. Die MaintainerIn kann aber
aufgrund ihres Interesses am Projekt *als MaintainerIn* aber auch zu
Standpunkten kommen, die nicht mit ihren *eigenen* Standpunkten
übereinstimmen. Das ist genau der Unterschied zwischen
interindividuell und individuell. Eine überindividuelle Meinung wäre
dann gegeben, wenn die MaintainerIn Meinungen vertritt, die nicht dem
Projekt entspringen - also quasi nicht in seinem Interesse liegen.

Warum sollte sie das tun? Das wäre doch widersinnig, ich mache doch das 
Projekt in meinem Interesse. Warum sollte ich genau das irgendwie 
taktisch "verbergen"??

Beispiel: Die MaintainerIn kann der Meinung sein, dass Person X ein
ausgesprochenes Ar...loch. Vielleicht hat Person X sie mal irgendwann
tödlich beleidigt. *Für sie* es besser wäre, wenn diese Person X das
Projekt verließe. Gleichzeitig kann sie aber in ihrer Rolle als
MaintainerIn wissen, dass diese Person X aufgrund ihres Beitrags *für
das Projekt* unentbehrlich ist. Wenn sie eine gute MaintainerIn ist,
wird sie versuchen, Person X zu ertragen und den Umgang im Rahmen des
Projekts möglichst angenehm zu gestalten. Schmeißt sie dagegen Person
X einfach raus, so ist das Projekt damit zu Ende - sie würde also
nicht im Interesse des Projekts handeln (wozu sein Weiterbestand
logisch erstmal gehört).

Sie würde vor allem gegen ihr eigenes Interesse handeln - das ist das 
Entscheidende. - Dein ganzes Denken über völlig spekulative transzendente 
Standpunkte im fiktiven Meinungsraum, die einzufangen wären, um dann 
taktisch gegen mein Interesse zu handeln usw.: das ist doch ein völlig 
überflüssiger Honk! Das ist vielleicht in der bürgerlichen Gesellschaft, 
in der einer den anderen (potenziell oder wirklich) unterbuttert, 
notwendig, aber nicht in einer Freien Gesellschaft.

Wenn ich dich richtig verstehe, dann ist ein solcher innerer Konflikt
schon nur möglich, wenn du H/N-Transzendenz / Entfremdung annimmst.
Die einzige emanzipatorische Variante besteht dann eben mit dieser
Annahme nur noch darin, dass die MaintainerIn niemals in einen solchen
Konflikt kommt - was für mich nur die Folge eines Wunders sein kann.

Nein, Konflikte sind absolut zentral. Sie können endlich ihre Funktion des 
gegenseitigen Ausbootens verlieren, zugunsten einer (nicht-entfremdeten) 
direkten, interindividuellen Klärung von Interessenunterschieden, 
Meinungen, Ideen usw. Unterschiede und Konflikte werden zur zentralen 
Quelle der Kraft - und eben nicht Einheitlichkeit und Mehrheitsmeinungen.

Ich würde dem entgegen halten, dass die MaintainerIn eben nicht die
H/N-Transzendenz / Entfremdung, sondern die *dem Projekt* immanenten
Interessen, das also, was ich als interindividuell bezeichnet hatte,
zur Leitlinie ihres MaintainerInnen-Handelns macht.

Diese Spielchen - schon drei Schritte gedanklich vorwegzunehmen, was der 
andere denken könnte etc. - sind Spielchen unter unseren entfremdeten 
Bedingungen. Die brauchen wir kein bisschen mehr. Leitlienie meines 
Handelns sind ganz einfach meine Interessen. Die gilt es zu maximal 
selbstentfalterisch umzusetzen. Und dann schaun wir mal, welche Dynamik 
sich ergibt: Ich kann völlig auf die anderen Menschen vertrauen. Da diese 
genauso handeln, ihre Interesse auch selbstentfalterisch umsetzen, kann 
ich mich nur freuen und mich da offen reinbegeben in dem Wissen: Jeder 
Konflikt gibt mehr Kraft.

[ziemlich lange Kürzung mit Beisielen wo nix substanziell anderes drin 
steht]

Puh. Noch eine ziemlich lange Mail. Vielleicht noch ein bisschen
Zusammenfassuzng, was jetzt aus meiner Sicht Stand der Dinge ist.

1. Zum Teil geht es hier um die Bedeutung bestimmter Worte. Vorneweg
   "Herrschaft" und "Repräsentation". Was du für Herrschaft hältst ist
   für mich Machtmissbrauch und was du als Repräsentation bezeichnest
   ist für mich das schiere Gegenteil. Diesen Streit können wir lassen
   - mir geht es nicht darum, bestimmte Labels auf irgendwelche
   Phänomene zu pappen, sondern darum, die Phänomene zu begreifen.
   Folge ich deinen Wortbedeutungen habe ich auch gar keinen Dissens.

Doch wir haben einen Dissenz, und es geht nur zum Teil um unterschiedliche 
Verwendung von Worten.

2. Das, was ich als Herrschaft bezeichne, dafür hast du bisher keinen
   bündigen Begriff genannt. Das Wort Praxis scheint mir eine wichtige
   Rolle zu spielen. Der bündige Begriff wäre aber eines meiner
   Anliegen.

Ich weiss immer noch nicht, _wofür_ du einen bündigen Begriff gerne 
hättest. Mein Verdacht ist: Du suchst nach etwas, was _nur_ mit der 
bürgerlichen Gesellschaft zu tun hat und nicht mit einer freien. Um das 
aufzulösen, müssten wir allgemeiner werden. Auf deiner Konkretionsebene 
habe ich für dein Gedankenkonstrukt einfach kein Äquivalent, was einen 
Begriff bräuchte - einfach was es das IMHO nicht mehr gibt.

3. Wo wir wirklich einen inhaltlichen Dissens haben ist die Frage mit
   den verschiedenen Interessen. Es gibt individuelle und
   transzendente Interessen - da sind wir uns einig. Während für dich
   aber transzendente Interessen alles sind, was nicht individuelle
   sind, würde ich hier noch eine weitere Kategorie von Interessen
   einführen: gruppenimmanente Interessen. Diese sind weder
   individuell noch überindividuell sondern interindividuell. Das
   "inter" transportiert auch schon den Bezug auf eine gruppeninterne
   Kommunikation - was ich explizit für einen wichtigen Aspekt halte,
   der die Entfremdung vermeidet.

Deine interindividuellen Interessen mögen existieren, sie sind jedoch 
keine Instanz, auf die sich Bezug nehmen ließe, denn es sind vor allen 
sehr unterschiedliche Interessen. Was du als (notwendig: transzendente) 
Instanz fixieren willst, ist für mich eine Frage der Praxis, in der 
Repräsentation keine Rolle spielen muss.

4. Nach meiner Wahrnehmung kannst du das Handeln einer MaintainerIn
   nur als Wunder auffassen, da du keine rationale Erklärung dafür
   hast, die über die bloße Phänomenologie (aka Praxis) hinausgeht.

Mit dem "rational" wäre ich sehr vorsichtig. Es ist selbst schon ein 
transzendentaler Begriff: es ist ein erkenntnistheoretischer 
"Drittstandpunkt"-Begriff. "Rational" ist etwas immer nur gemessen an 
äußeren Kriterien. Deswegen ist die Warengesellschaft eine sehr rationale 
Angelegenheit. Von Standpunkt des Individuums, also von Standpunkt erster 
Person, sieht das ganz anders aus. Und in einer Freien Gesellschaft 
müssen diese Standpunkte erster Person, diese je-ich-Standpunkte, zur 
Geltung kommen - und nicht irgendwelche "rational" konstruierten, 
transzendenten Drittstandpunkte.

   Die Phänomenologie erklärt dieses Verhältnis aber nicht - das kann
   nur eine Theorie. Bestandteil dieser Theorie könnte m.E. dieses
   gruppenimmanente Interesse sein - jedenfalls erklärt das Vieles
   ziemlich schlüssig.

Theorie ist nicht bloß Theorie, wenn sie vom Standpunkt dritter Person 
geschieht. Hier ist IMHO eine Theorie vom verallgemeinerten Standpunkt 
erster Person erforderlich, der solche Transzendenzen ausschliesst: Je 
ich habe zur Geltung zu kommen.

5. Der Modus der gegenseitigen Selbstentfaltung schließt für dich
   Herrschaft an sich aus. Für mich schließt er lediglich bestimmte
   Herrschaftsformen aus - z.B. Diktatur, Demokratie, Theokratie,
   Chaos... Das Maintainer-Modell und das m.E. verwandte Konsensmodell
   sind für mich iSdsS Herrschaftsformen, die die gegenseitige
   Selbstentfaltung begünstigen. Es kann weitere geben. Dies zu
   erforschen ist Teil meines Anliegens.

Das Maintainermodell ist für mich eine Keimform eines neuen 
interindividuellen gesellschaftlichen Modells der Selbstorganisation 
jenseits von Herrschaft und Drittstandpunkt - sondern basierend auf dem 
verallgemeinerten Standpunkt erster Person ("je ich"), des sich 
selbstentfaltenden individuellen Menschens.

Ciao,
Stefan

--
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