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Re: [ox] Re: Warum Herrschaftsdebatte?



Hi ThomasB und alle!

3 weeks (21 days) ago Thomas Berker wrote:
Tuesday, February 11, 2003, 10:20:27 PM, you wrote:
[Adorno: ] Formalistisch wäre es, ein paar Merkmale herauszugreifen
und willkürlich den Umfang dessen, was diesen Merkmalen entspricht,
für die Sache selbst zu unterschieben.

[SMn:] Klar. Merkmale eines Begriffs sind nie der Begriff selbst.

Hier sehe ich den Seitenhieb: Was m.E. in den Stellen des
systematischen Soziologen, die du zitiert hast, gemacht wird, kann
auch so genannt werden: Systematisierung von ein paar Merkmalen, die
der Sache selbst unterschoben werden.

Siehst du, hier liegt ein fundamental unterschiedliches Verständnis.
Nachdem ich die entsprechende Textstelle gelesen hatte, hatte ich
*gerade* das Gefühl, den Begriff *hinter* den Merkmalen zu erkennen.
Um den ging es m.E. dem sysSoz. Vielleicht ist das ja gerade das
systematische daran? Keine Ahnung - ich kenne mich mit der
Klassifizierung der Unterabteilungen nicht aus.

Gerade das hatte mich damals jedenfalls so elektrisiert, weil ich
einen solchen Begriff bisher einfach nicht hatte. Und BTW kann ich
solches auch nicht bei dir, StefanMz oder einigen anderen
KritikerInnen erkennen - würde mich aber sehr interessieren.

Leider ist es wohl unmöglich, diese Begriffsbildung, die ich da zu
erkennen glaube, sprachlich zu vermitteln. Begriffe kann wohl nur
jedeR selbst für sich begreifen. Sprache kann da wohl höchstens
Hinweise geben.

[A: ] Immerhin sei zur Orientierung daran erinnert, daß
Organisation ein bewußt geschaffener und gesteuerter Zweckverband
ist. Als solcher unterscheidet er sich ebenso von naturwüchsigen
Gruppen, etwa dem Stamm oder der Familie,

[SMn: ] Na, ob ihm das heute noch so durchgehen würde? Heute würden
wohl eher auch Stamm und Familie als (kulturelle) Konstrukte und
somit eben nicht als naturwüchsig angesehen. Aber das scheint mir
nicht so entscheidend.
[...]

In der Tat. Und da gibts bei Adorno noch wuestere Stellen. Wichtig
fuer unseren Zusammenhang ist hier allerdings erstmal nur, dass die
Organisation, von der er hier spricht, ein modernes Phaenomen ist.

Ich möchte nur nochmal auf die Ambivalenz des Wortes Organisation im
Sinne planenden Handelns einerseits und Institution andererseits
hinweisen. Aber wir meinen wohl beide Ersteres.

Aber hier wird's wirklich spannend:

[SMn:] Hier ist aber auch schon drin, worum es mir bei der
Frage nach H. geht. Ich würde nämlich argumentieren, dass
ausschließlich diese Zweckrationalität die Legitimation oder auch
Begründung für eine Organisation liefert. Damit liefert einzig diese
Zweckrationalität auch die Begründung für das (machtvolle) Handeln
im Rahmen der Organisation. Wo da jetzt genau der Unterschied zur
Legitimation durch das Gruppeninteresse liegt würde mich zwar
interessieren, aber ich wage diese Frage ja schon nicht mehr zu
stellen :-( ...

Nein, ein Gruppeninteresse (einen Gruppenzweck, sei er definiert oder
eine Wolke oder was auch immer) anzunehmen, das logisch als Aggregat
losgeloest von den je einzelnen Gruppenmitgliedern existiert

Wir sind uns sicher einig, dass in der Loslösung ein Problempotential
liegt. Hier droht Entfremdung, worüber wir uns sicher auch schnell
einigen können, dass diese für jedes bedürfnisorientierte Handeln
hochproblematisch ist.

Was ich nicht verstehe: Warum ist die Zweckrationalität nicht
losgelöst, ein Gruppeninteresse ist es aber? Für mich ist ein
Gruppeninteresse nichts anderes als sagen wir ein Aggregatzustand der
Zweckrationalität. Der ist genauso wenig oder genauso viel abgelöst
wie die Zweckrationalität. Wo siehst du da den fundamentalen
Unterschied? (Wobei wir m.E. hier auch schon auf der Ebene der genauen
Bedeutung einzelner Worte angekommen sind. In der Sache scheinen wir
aber nicht mehr so schrecklich weit auseinander zu liegen.)

und daher
repraesentiert werden kann von jemand, der oder die im Namen dieses
Interesses handelt,

Mal jenseits des Losgelöstseins ist das immer notwendig. Da halt immer
Einzelne in der Gruppe handeln und die Gruppe *als solche* ja nicht
handeln kann (oder?) gibt es nur noch zwei Denkmöglichkeiten:

Die eine ist die, die mir StefanMz zu vertreten scheint: Das Handeln
der Einzelnen sollte im emanzipatorischen Interesse immer als völlig
losgelöst betrachtet werden. Deswegen brauchen wir Gruppe als Konzept
auch nicht. Was dann noch als interindividuelle Regulation stattfindet
lohnt sich nicht gesondert zu betrachten. Um es zu wiederholen: Mich
interessiert gerade diese interindividuelle Regulation. Und dich,
ThomasB, ja auch, wenn du dir anschaust, wie die MaintainerInnenschaft
denn nun eigentlich funktioniert.

Die andere ist eben die, dass die Mitglieder einer Gruppe bei ihrem
Handeln einen irgendwie gearteten Bezug auf diese Gruppe haben.
Zumindest in einem schwachen Sinne repräsentiert dieser Bezug auch die
Gruppe immer irgendwie. (Ob geeignet oder nicht oder was das sein soll
oder wie es festgestellt werden kann steht auf einem anderen Blatt.)
Der Bezug ist quasi Ausdruck der Gruppe und in diesem Sinne entsteht
hier Repräsentanz. Ist dieser Bezug gegeben, so handelt die Person als
Mitglied der Gruppe.

Dieser Bezug auf die Gruppe hat zumindest bei Interessengruppen, die
sich ja gerade zur Um-/Durchsetzung ihrer Interessen organisieren,
immer etwas mit der Zweckrationalität zu tun. Ist die Beziehung zur
Zweckrationalität verloren, hat die Entfremdung eingesetzt.

Um's mal als Frage zu formulieren: Wie würdest du das denn bezeichnen,
wenn eine Person im Interesse einer Zweckrationalität handelt, die sie
als Mitglied einer Gruppe verfolgt? Simpel individuelles Handeln kann
es ja nicht sein, da das immer eine *völlige* Übereinstimmung
individueller und kollektiver Zweckrationalität bedeuten würde.

ist genau Organisation, die ihren Zweck
vergegenstaendlicht.

Mir scheint, du sagst: Zweckrationalität ist (per se) nicht
entfremdet, Gruppeninteresse ist es (ebenso per se). Sicher ein
stimmiges Sprachspiel. Aber die Inhalte unterscheiden sich eigentlich
nicht von meinem momentanen Sprachspiel. Hier wunderst du dich auch
selbst drüber:

Weiter unten in Adonos Text bist du doch damit
einig:

[SMn: ] Adorno sagt es selbst: Die Organisation überschreitet hier
letztlich ihren eigenen Zweck und verliert dementsprechend an
Legitimation. *Das* würde ich als Entfremdung von ihrem Zweck
beschreiben. Das ist selbstredend hochproblematisch.

Genau, das ist genau der Unterschied zwischen Organisation, die im
Namen eines Zweckes Menschen verdinglicht und Organisation, die
Menschen ermoeglicht, gemeinsam Zwecke zu erreichen.

Sage ich ja: Entfremdung ist das Problem. Und es tut mir leid, aber
das ist es, was ich bei dem Schnipsel sysSoz auch gelesen hatte. Auch
wenn er reichlich andere Sprachspiele benutzt.

Unmittelbar
folgert daraus impersonale/strukturelle Herrschaft. Wenn sich dann im
weiteren Menschen zu RepraesentantInnen dieses den Mitgliedern mehr
oder minder aeusserlichen Zweckes erklaeren, dann haben wir es
zusaetzlich mit einer bestimmten heutzutage weit verbreiteten Form von
personaler Herrschaft zu tun (z.B. Staat).

Ja. Das ist das Problem wovon ich ja auch weg will. Die Frage also:
Wie geht das? Und speziell für diese Thread-Familie: Welche Begriffe
sind sinnvoll zu benutzen, um sich einer Antwort auf diese Frage zu
nähern. Ausgelöst alles durch deine Beobachtung, dass in der Freien
Software nach deiner Ansicht Meritokratie - also eine bestimmte
H.-Form - statt findet.

Wogegen ich mich ja zuerst heftig verwehrt habe - weil ich unter
Herrschaft bis dahin eben auch ausschließlich die entfremdete Variante
verstanden habe. Und ich hatte auch argumentiert: Es kann nicht sein,
was nicht sein darf! Heute sehe ich das m.E. etwas differenzierter.
Und für mich sind eine Menge neuer, durchaus schwieriger Fragen
entstanden. Wenn wir Freie Software als Keimform betrachten wollen,
dann sollten wir aber m.E. zumindest diese Fragen in den begrifflichen
Blick nehmen, die dort ja auch zu Tage treten.

[SMn: ] Aber auch hier meine Kritik: Das machtvolle Handeln, dass
sich eben auch gegen Menschen richten kann, verschwindet hier in der
Zweckrationalität. Das finde ich gefährlich weswegen ich
Organisation für einen Euphemismus für H. halte.

Das machtvolle Handeln, das sich gegen Menschen richten kann,
existiert genau dann nicht in Organisation, wenn sie mit den Zwecken
der je einzelnen Mitglieder identisch ist.

Wahrscheinlich ist genau hier die Fuge in unseren Denkgefügen, wo es
knallt. So wie du sie verfugst, ist es natürlich richtig: Sind
individuelle Zweckrationalität und kollektive Zweckrationalität
identisch gibt es kein Problem. Auf der Ebene der Form würde ich das
mit Einstimmigkeit, d.h. aktiver Zustimmung aller bezeichnen.

Machtvolles Handeln, das sich gegen Menschen richten kann, ist dann
zumindest im Innenverhältnis nicht mehr notwendig, da Individuen
höchstens aus Versehen von der allseitigen Zweckrationalität
abweichen. Machtvolles Handeln, das sich gegen ein Versehen richtet,
müssen wir glaube ich aber nicht als gegen die entsprechende Person
gerichtet sehen.

Ok. Was ist aber, wenn diese 100%-Übereinstimmung nicht gegeben ist?
Dann klafft die Fuge da eben mehr oder weniger weit auf. Dann stimmt
die Zweckrationalität der Individuen nicht mehr 100% überein. Dann
kann es Situationen geben, in denen sich machtvolles Handeln gegen
Menschen richtet - was wir ja vermeiden wollen. Wie kann machtvolles
Handeln dann begründet werden? Oder noch einen Schritt vorher: Kann
ich überhaupt in jedem Moment wissen, ob mein je konkretes Handeln
noch mit einer 100%-Übereinstimmung übereinstimmt? Was ich sagen will:
Weder ist in der Realität eine 100%-Übereinstimmung jederzeit gegeben
noch ist sie a priori feststellbar - oft bestenfalls a posteriori. Das
Ideal, das du oben voraussetzt ist zwar schön, aber m.E. bestenfalls
asymptotisch zu erreichen.

Wenn ich jetzt mit Bezug auf eine Gruppe handeln will, was mache ich
dann? Wenn mir emanzipatorisches Handeln was bedeutet, dann kann ich
nur noch feststellen: Das Ideal ist nicht erfüllt, ich befinde mich
also auf der sicheren Seite, wenn ich gar nicht handele (wobei das
auch eine Handlungsweise ist und die damit auch letztlich nicht sicher
ist...).

Ich erkenne, dass dieser (innere) Konflikt, dieses Dilemma schnell
dazu führen kann, das ganze Konzept abzulehnen und am besten gar nicht
mehr drüber nachzudenken. Das geht aber m.E. nicht, weil m.E. Menschen
nicht ohne Bezug auf Gesellschaft gedacht werden können und dieser
Bezug buchstabiert sich in der Praxis in Gruppenbezüge aus - oder? Wer
es trotzdem versucht, der verbirgt m.E. einen wichtigen
Handlungsrahmen und kann sich dann hinterher nur noch wundern, wie
sich die Dinge hinter dem Rücken der Menschen durchsetzen.

Da ich das nicht möchte, akzeptiere ich diese grundsätzliche
Schwierigkeit lieber und versuche damit in emanzipatorischer
Perspektive umzugehen. Das führt mich dann unmittelbar zu der Frage,
welche Formen gewährleisten können, dass sowohl der Bezug auf die
kollektive wie auf die individuelle Zweckrationalität nicht abreißt.
Mit anderen Worten: Wie Entfremdung vermieden werden kann. Aber
netterweise suchst du ja ebenfalls nach Formen, die dieses
begünstigen. Die gegenseitige Selbstentfaltung, wie wir sie in der
Freien Software analysieren, scheint mir ein wichtiger Schlüssel für
ein Verständnis dessen zu sein, warum solche Formen dann
funktionieren.

Zum Außenverhältnis einer Gruppe ist mit all dem übrigens noch gar
nichts gesagt. Wie unentfremdet die Gruppe nach Innen auch ist: Das
machtvolle Handeln nach Außen kann sich davon völlig unbeeindruckt
gegen Menschen richten. Wenn wir hier eine emanzipatorische
Perspektive einnehmen wollen, dann müssen wir auch dieses Problem
irgendwie in den Blick nehmen. Wie das gehen soll, da bin ich momentan
noch etwas ratlos. Ein Element scheint mir aber auf jeden Fall, dass
es hier Gruppen von Gruppen oder auch Einzelnen gibt, um deren
Interaktion es geht. Einfach wäre es, wenn diese Gruppen ihrerseits
als eine Gruppe betrachtet würden - na, das ist wohl der Beginn des
Weges, der zum Staat führen kann :-( . Wo kann er noch hinführen?
Jedenfalls aber: Wie gehen wir (damit um)?

Beim zweiten Nachlesen fällt mir auf: Vielleicht sollten wir nochmal
genauer klären, was "machtvolles Handeln, das sich gegen Menschen
richtet" eigentlich genau heißt. Aus einer Debatte, die ich vor
langer, langer Zeit mal zur Frage der Gewalt und wann diese vorliegt
geführt habe, ist meine Definition: Wann Gewalt vorliegt, kann nur das
Opfer entscheiden. Aber das haut denke ich ganz gut mit dem
Unterdrückungsbegriff hin. Unterdrückung ist dann eine spezifische
Form von Gewalt. So würde ich aber auch "machtvolles Handeln, das sich
gegen Menschen richtet" verstehen. Das liegt dann vor, wenn Handeln
als Gewalt empfunden wird.

Organisation soll nicht
Herrschaft oder Macht als Begriff ersetzen (und wuerde damit in der
Tat ein Euphemismus), sondern die Perspektive auf Phaenomene
eroeffnen, die du und der systematische Soziologe mit "Aber Herrschaft
ist noetig sonst wirds doch Chaos (das Gegenteil von Anarchie)"
beschreiben wollen.

S.o.

In der Praxis denke ich, dass machtvolles Handeln, das sich gegen
Menschen richtet, schlicht nicht auszuschließen ist - so sehr wir uns
auch darum bemühen. Sogar ganz im Gegenteil: Wenn keine
100%-Übereinstimmung zwischen den verschiedenen Zweckrationalitäten
besteht, dann ist sogar jedes Handeln, das dem nicht-übereinstimmenden
Anteil entspricht, machtvolles Handeln, das sich zumindest potentiell
gegen Menschen richtet. Aus dieser Perspektive unterscheiden sich dann
"StörerInnen" nicht mehr von "entfremdeten HerrscherInnen".

Dass diese idealisierte 100%-Übereinstimmung nicht zu haben,
jedenfalls in vielen Situationen aber nicht feststellbar ist, ist m.E.
auch kein Betriebsunfall der Geschichte, sondern *gerade* ein Ausdruck
der Unterschiedlichkeit von Menschen. *Gerade* wenn wir also über eine
allseitige Emanzipation reden, dann müssen wir uns überlegen, wie wir
damit auch in dieser Hinsicht umgehen wollen.

Der Punkt, den ich mit Adornos Begriff von Organisation einfuehren
wollte ist also, dass Herrschaft _nicht_ noetig ist. Noetig und
wuenschenswert aber ist Organisation, weil sie gemeinsames Handeln
ermoeglicht. Und Adorno beschreibt, wann Organisation in Herrschaft
umkippt.

Ok, du verstehst also unter Herrschaft auch die entfremdete Variante.
Meinetwegen. Darum streite ich mich nicht.

Ich bin gespannt auf deine Antworten oder auch Nachfragen.


						Mit Freien Grüßen

						Stefan

________________________________
Web-Site: http://www.oekonux.de/
Organisation: projekt oekonux.de



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