Message 06447 [Homepage] [Navigation]
Thread: oxdeT06391 Message: 5/12 L2 [In index]
[First in Thread] [Last in Thread] [Date Next] [Date Prev]
[Next in Thread] [Prev in Thread] [Next Thread] [Prev Thread]

Re: [ox] Text Holloway



Hi Uli, ThomasBe, Franz, Liste!

Nehme ich mal alle zusammen in eine Antwort.

Last week (13 days ago) Uli Holz wrote:
At Mittwoch, 5. März 2003 you wrote:
Alle diese Begriffe beziehen sich
auf eine Verhärtung des Lebens, eine Eindämmung des gesellschaftlichen
Handlungsflusses, eine Schließung von Möglichkeiten.

SM> Hier scheint das auf, was wir im H.-Thread ähnlich thematisiert haben.
SM> Dort wurde es dann auch als Organisation oder interindividuelle
SM> Regulation bezeichnet. Auch dies sind "Eindämmungen des
SM> gesellschaftlichen Handlungsflusses", "Schließung von Möglichkeiten".
SM> Das ist ja gerade das Ziel von Organisation, in die unendliche
SM> Vielfalt von Möglichkeiten eine Struktur zu bringen, die diese
SM> Vielfalt handhabbar macht.

SM> Diese Schließung von Möglichkeiten ist sowohl auf individueller Ebene
SM> als auch auf gesellschaftlicher Ebene der Beginn allen sinnvollen
SM> Handelns. Ohne diese Schließung von Möglichkeiten gäbe es gar keine
SM> Grundlage, auf der Handlung aufbauen könnte. Bei der großen
SM> Infrastruktur sind das z.B. Standards. Erst die Schließung der
SM> Möglichkeiten von Spurweiten bei der Eisenbahn macht ein Eisenbahnnetz
SM> überhaupt erst denkbar. Erst TCP/IP hat das Internet ermöglicht. Eine
SM> Schließung von Möglichkeiten gegen andere Standards, die durchaus
SM> existiert haben.

Sorry, wenn ich den Text mal kurzerhand aus dem Zusammenhang reisse,
aber hier liegt irgendwo (IMHO), jedenfalls zum Teil, der Hase im Pfeffer,
in der Schließung von Möglichkeiten.

Ich würde sagen: Hier liegt das Spannungsfeld. Dieses Spannungsfeld
zwischen Chaos und Stasis ist das, wo sich all das abspielt, worüber
es in der Debatte um H. geht.

Und nein, ich bin gerade *nicht* der Meinung, dass eine Ordnung /
Organisation / Regulation irgendwie von Außen an die Menschen
herangetragen werden muss - das ist die Legitimation des bürgerlichen
Staats. Als (früherer?) Anarchist und (heutiger :-) )
Freier-Software-Fan setze ich vielmehr auf die Selbstorganisation.
Dadurch verschwindet aber das Spannungsfeld nicht. Es wird nur anders
gefüllt. Wie das in emanzipatorischer Weise geht, das will ich gerne
anhand Freier Software studieren.

Bis vor kurzem war ich durchaus der Meinung, daß sich Chaos oder das
Nichteinhalten von Standards in gewisser Hinsicht selbst regulieren
kann. Als Beispiel mal nicht Bombay ;-) sondern Neapel. Als ich vor
Jahren mal dort war, hatte ich vorher kein solches Chaos im Verkehr
angetroffen. Ampeln und sonstige Verkehrszeichen wurden schlicht nicht
beachtet, Beulen in den Autos der Normalfall, haben dort
wahrscheinlich nicht den gleichen Prestigecharakter als hier.
Trotz allem funktionierte der Verkehr, da die Leute es nicht anders
gewohnt sind.

Aus dem römischen Verkehr kann ich da auch eine Anekdote beitragen.
Irgendwann habe ich nämlich gelernt, dass am Straßenrand *stehen
bleiben* als Aufforderung zum Weiterfahren verstanden wird - auch an
Zebrastreifen. Beobachtung von Einheimischen hat mir gezeigt, dass
mehr oder weniger einfach *Loslaufen* dagegen prima funktioniert. Da
halten alle. In Deutschland würde ich mich das nie trauen...

Ich würde sagen: Eine andere Ordnung eben. Andere Grundlagen - z.B.
was das Verhältnis zu Beulen betrifft, wohl auch eine andere Kultur,
etc. Dennoch eine Ordnung, an die sich signifikant viele halten -
sonst könnte ich diese Mail hier wohl nicht mehr schreiben - oder
stünde immer noch am Straßenrand ;-) .

Andererseits scheint es mir ohne Grundlagen, also völlig ohne
Symbole und ihrer Bedeutung (Standard) auch nicht zu gehen.

Das Spannungsfeld als solches zu benennen und seine Ausgestaltung (aka
H.) es gelegentlich auf Passsung mit der evt. weiter entwickelten
sozialen Praxis abgleichen scheint mir ein wichtiges Moment. Dynamik
ist wichtig für H. H. ohne Dynamik entfremdet sich schnell von ihren
Grundlagen.

Als Beispiel die Schulschrift bei Grundschülern.
Mittlerweile schreiben 70 % die lateinische Ausgangsschrift, der Rest
vereinfachte Ausgangsschrift und ein paar nur noch Druckschrift.
Das wird von den jeweiligen Schulen einfach als Standard ausgesucht.
Ich habe noch nie so viele Kinder mit Problemen bei der Schrift
gesehen, da die Eltern anders schreiben, die Bücher in verschiedenen
Schreibschriften erscheinen etc.
(Will jetzt nicht im Web nach Beweisen suchen, das sind reale Probleme,
mit denen ich mich auseinanderzusetzen habe)
Haben die Menschen als Ausgangspunkt also keinen Standard, scheint es für
sie unheimlich schwer, sich zu orientieren.

Freiheit ist halt ein zweischneidig Ding: Sie eröffnet
Handlungsmöglichkeiten - aber welche konkret gewählt werden sollen,
ist leider nicht immer so einfach zu entscheiden. Deswegen haben viele
Menschen Angst vor Freiheit. Hängt übrigens auch mit Verantwortung
zusammen.

Gleichzeitig tendiert Standard zu H.
Hat sich erstmal eine genügend große Basis daran gewöhnt, gibt es so
gut wie kein zurück.

Wobei hier auch immer inhaltlich gefragt werden muss: Warum ist dies
oder jenes sinnvoll? In welcher Hinsicht? Für wen?

Hier stellt sich nun die Frage inwieweit reguliert werden sollte und
ab wann der Machtmißbrauch einsetzt, z. B. das gewaltsame Erzwingen
von Standards, Gurtpflicht bei Autofahrern etc.

Ja.

Eine Vereinheitlichung der Schrift ist ja z.B. auch wichtig, um
überhaupt breit miteinander kommunizieren zu können. Stellt sich
natürlich die Frage: Für wen macht das Sinn? Ich z.B. freue mich, dass
ich mit ziemlich wenigen Zeichen mit sehr vielen Menschen auf der Welt
kommunizieren kann. Für mich schafft das enorm Handlungsmöglichkeiten.
Aber für den Menschen, die ihr ganzes Leben lang nie ihren Acker
verlässt, ist das gar keine Größe. Wenn die eine neue Schrift lernen
soll, dann macht das für sie keinen Sinn - ist von Außen erzwungen und
also antiemanzipatorisch. Nehmen wir jetzt noch eine historische
Umbruchsituation hinzu wird's ganz heikel. Es ist eben ein
Spannungsfeld. Und ich würde sogar sagen, dass dieses Spannungsfeld
dem Menschen wesentlich ist.

Hier taucht letztlich auch die Frage der Gewalt auf. Was ist in
solchen Fällen zu tun, wenn der Standard nicht angewandt wird? In
manchen Fällen braucht da gar nichts getan zu werden: Wer sich nicht
an den Standard hält wird eben abgehängt. Aber das ist eben nicht
immer so. Manchmal ist der Schaden durch die StandardverletzerInnen
eben groß - Standardbeispiel SpammerInnen. Wie in diesem Spannungsfeld
bewegen?

Es scheint so ein nebeneinander zwischen Chaos und Struktur durchaus
im Rahmen des Möglichen, je nachdem wo H. hin tendiert und vor allen
Dingen wer den Standard vorgibt, Kultur, Volksvertreter, Kapital, TÜV
oder jeder für sich etc.

Ja. Dynamische Struktur ist gut.

AAAber, sind die Grundlagen oder von mir aus der Kern, unausgegoren, wird
alles andere ebendieses.

Oder: Sich in diesem Spannungsfeld optimal zu bewegen ist eine hohe
Kunst. Kann ich aus verschiedenen Erfahrungswelten nur heftigst
bestätigen...

Es sollte vielleicht überlegt werden, an welchen Orten Standards
sinnvoll sind und wo dem Chaos eine Chance gegeben werden sollte,
spüre ich bei GNU/Linux schöne Tendenzen dazu.

Ja. Um mal ein aktuelles Beispiel aus der Freien Software zu geben,
dass mir gerade über den Weg gelaufen ist:

	http://docutils.sourceforge.net/spec/notes.html#project-policies

Gutes Beispiel für eine sehr pragmatische und dynamische H.-Form würde
ich meinen.

Last week (13 days ago) Thomas Berker wrote:
Wednesday, March 19, 2003, 10:16:46 AM, Uli wrote:
Ich tendiere zu der Meinung, daß elementare Dinge wie Sprache,
Rechnen, das Beschaffen von Nahrungsmitteln, eben Grundlagen,
einheitlich sein sollten, folgendes aber weit gestreut werden
dürfte.

Ich tendiere dazu, nur Bedingungen fuer Standards einzufordern,
naemlich z.B., dass alle Standards vorlaeufig, offen (also auch
ineinander ueberfuehrbar), freiwillig und eindeutig zweckbestimmt
sind.

Also quasi ein Meta-Standard für die Standards. Ja, das ist es wohl,
worüber ich auch gerne nachdenken würde.

Last week (13 days ago) Franz J Nahrada wrote:
liste oekonux.de schreibt:
SM> Hier scheint das auf, was wir im H.-Thread ähnlich thematisiert haben.
SM> Dort wurde es dann auch als Organisation oder interindividuelle
SM> Regulation bezeichnet. Auch dies sind "Eindämmungen des
SM> gesellschaftlichen Handlungsflusses", "Schließung von Möglichkeiten".
SM> Das ist ja gerade das Ziel von Organisation, in die unendliche
SM> Vielfalt von Möglichkeiten eine Struktur zu bringen, die diese
SM> Vielfalt handhabbar macht.

Ist nicht solche Theorie ein Weg, alle sozialen Realitäten und Produkte
herrschaftsförmigen Handelns sowohl inhaltslos zu kritisieren als auch
ebenso inhaltslos zu rechtfertigen....?

Wenn ich schreibe "handhabbar zu machen" dann ist doch ein Bezug zu
Inhalten da - oder? Unter emanzipatorischer Perspektive sind an die
Handhabbarkeit dann noch eine Reihe weiterer Anforderungen zu stellen.

Immerhin: eine "Reduktion von Komplexität" bringt noch jede
Herrschaft oder H  zustande.

Da gibt es aber zahlreiche Gegenbeispiele. H. kann auch eine ungeheure
Komplexität bedeuten, die inhaltlich nicht begründet ist. Das ist vor
allem dann so, wenn sich H. von ihrem Gegenstand und/oder den Menschen
gelöst hat, also entfremdete H. ist. Mangelnde Adaption / Dynamik ist
hier sicher ein wichtiges Stichwort.

Aber nur der Soziologe bemerkt, welche
spezifische Leistung sie da vollbringt! Sonst wäre die ganze Welt
der Meinung gewesen, da hätte sich einfach ein Interesse gegen
ein anderes durchgesetzt.

Soziologie ist seltsam kritisch - antikritisch, zumeist einfach eine
unpraktische, interpretierende Stellung zur Welt. Das sag ich
als einer, der das Zeug studiert hat. Will dennoch niemanden
von der Beschäftigung damit abhalten, mit einem Interessens-
positivismus ist uns ebensowenig gedient. Aber vor einer
Hypostasierung dieser Theorien möcht ich dringend warnen.

Nun kann ich zur Soziologie wenig bis nichts sagen. Ich hatte
eigentlich noch nicht das (scheinbar recht zweifelhafte) Vergnügen.
Aber...

Gute Soziologie, die sich wirklich auf ihren Gegenstand
einläßt, ist äußerst selten!

...diesen Eindruck hatte ich leider auch schon öfter :-( . Oft hatte
ich auch den Verdacht, dass die entfremdeten Auswüchse des
Wissenschaftsbetriebs in diesem Gebiet besonders bunte Blüten treiben
:-( .


						Mit Freien Grüßen

						Stefan

________________________________
Web-Site: http://www.oekonux.de/
Organisation: projekt oekonux.de



[English translation]
Thread: oxdeT06391 Message: 5/12 L2 [In index]
Message 06447 [Homepage] [Navigation]