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Re: Re: [ox] Gibs Gruppen?



Weiter mit Gruppen:

On Monday 21 April 2003 13:49, Stefan Merten wrote:
Analytisch: Keine Ahnung. Was soll das sein?

Ich versuch's mal.

Gruppe bezeichnet für mich erstmal ein über einen gewissen Zeitraum
fortdauerndes Beziehungsgeflecht konkreter Menschen (das ist jetzt wie
andernmails bemerkt vor allem die Interessengruppe). Das kann explizit
konstituiert sein - durch eine entsprechende Erklärung. Oder es gibt
implizit entstehende Beziehungsgeflechte, die durch das mehr oder
weniger zufällige Aufeinandertreffen von Menschen entstehen können
(z.B. die Wartenden an einer Bushaltestelle). Kann spontan und
temporär sein oder auch fortdauernd.

So weit, so deskriptiv ok.

Wichtig hier: Das Beziehungsgeflecht hat einen Grund. Bei der
Interessengruppe ist es das gemeinsame Interesse, das alle verbindet.
Gibt es einen solchen Grund nicht, gibt es auch kein
Beziehungsgeflecht.

Hier möchte ich "Grund" und "Interesse" unterscheiden. Der Grund liegt bei 
der Person, er ist "erster Person". Das persönliche Interesse liegt auch 
bei der Person, es ist jedoch "dritter Person" - es wird von anderen 
festgestellt (Ich klammere mal das "Ich habe das Interesse, dass..." aus, 
denn es ist für mich die mit dem Wort "Interesse" formulierte Angabe 
meines Handlungsgrundes). Dies wird insbesondere deutlich, wenn es darum 
geht, "gemeinsame Interessen" festzustellen, die z.B. Gruppen 
konstituieren.

Das alles ist kein Problem, wenn man das konstatiert: Aha, die wollen wohl 
mit dem Bus fahren, es scheint ein gemeinsames Interesse zu sein. Es wird 
zum Problem, wenn "man" - irgendwer - darauf etwas aufsetzt. Denn der 
Anschein kann trügen. Es kann sich um eine Kunstaktion handeln, oder die 
scheinbar Wartenden haben nur Schutz vor einem Platzregen im 
Wartehäuschen gesucht usw.

Bei "gemeinsamen Interessen" muss es sich also um eine "objektive" 
Konstruktion handeln, deren Bezug solange transzendent ist, wie keine 
Handlung erfolgte. Wenn die Leute in den Bus steigen, ist die Sache 
aufgelöst. Ich gehe also auch von "gemeinsamen Interessen" aus, aber erst 
in der Handlung zeigen sie sich. "Davor" ist es Mutmaßung. Ich kann zwar 
annehmen, dass "Frieden" ein gemeinsames Interesse ist, oder "Freiheit", 
aber was ist das schon - konkret?

Dieses Beziehungsgeflecht und die in ihm sich bewegenden Individuen
wechselwirken miteinander.

Das Beziehungsgeflecht tut gar nichts. Die Individuen mögen wechselwirken, 
und die resultierende Gemengelage mag man Beziehungsgeflecht nennen.

Menschen nehmen Einfluß auf das Beziehungsgeflecht, sie agieren darin
und "es macht" auch etwas mit ihnen.

"Es macht" gar nichts. "Beziehungsgeflecht" ist doch nur ein Begriff, eine 
Metapher, um die Vielfalt der je konkreten Beziehungen zu beschreiben. 
"Beziehungsgeflecht" ist wie "Gruppe" kein handlungsfähiges "etwas". Ich 
verhalte mich nicht zu Geflechten, sondern zu den konkreten Menschen.

Kurz: Das Beziehungsgeflecht ist der Handlungsrahmen, in dem
sich Menschen immer bewegen. Und genau da wird der Begriff für mich
*absolut* spannend: Es ist der Rahmen, in dem Menschen handeln!

Die Beziehungen mögen spannend sein, und ich finde es sehr problematisch 
darüber eine vereinheitlichende Maske zu legen. Dann nötige ich mich 
selbst, dem "Beziehungsgeflecht" ein Wesen zuzuschreiben, dass nur einen 
transzendenten Bezug haben _kann_. Es gibt keine Gesetzmäßigkeiten der 
Beziehungsgeflechte.

Und wenn ich was über menschliches Handeln wissen will - und das will
ich, wenn ich über Emanzipation nachdenke ja - dann wäre es töricht,
diesen Aspekt einfach unter den Tisch fallen zu lassen.

Wenn du wirklich etwas über den Aspekt der Beziehungen der Menschen 
zueinander wissen willst, dann beschäftge dich mit den Beziehungen und 
nicht mit transzendenten Meta-Geflechten.

Genau so töricht wäre
es selbstredend, den Begriff der Gesellschaft unter den Tisch fallen
zu lassen. Und es hängt auch zusammen - bestreite ich nicht.

Aus meiner Sicht geht nicht nur nichts "verloren", wenn man es unterlässt, 
den Begriff Gruppe aufzuladen mit transzendenten Bezügen (wie dem 
Beziehungsgeflecht oder der Standpunktwolke etc.). Sondern es ist 
umgekehrt eher verdunkelnd, wenn man solche "zudeckenden" Konstrukte in 
Anschlag bringt. Ich sehe nichts, was dadurch aufgedeckt würde, sehe aber 
viel an Konkretem, was zugedeckt würde.

Was mich konkret im H.-Thread interessiert: Wie funktioniert diese
Wechselwirkung?

Guck auf die Beziehungen.

Welche Einflüsse gibt es da?

Frag die Leute.

Und warum ist es bei Freier Software so wie es ist?

Da wird es wohl keine vereinheitlichende Antwort geben können.

Können wir Kriterien angeben, die zu
der einen oder anderen Sorte Einflüsse führen?

Ich glaube nicht. Aber um es konstruktiv zu wenden: Eine sinnvolle Frage 
finde ich die nach Handlungsmöglichkeiten, mit denen sich ich und andere 
selbst Einfluss und Handlungsspielraum verschaffen können. Das führt weg 
von Spekulationen über Einflüsse _auf_ die Leute und ihren Reaktionen.

Ist der Unterschied deutlich geworden? Wenn es wirklich um 
Selbstentfaltung geht, dann um jene Möglichkeiten, die je meine und so 
auch die aller Entfaltung begünstigen. Das ist eine Frage "erster 
Person", aus eben je meiner Perspektive. Im Unterschied dazu guckt die 
Frage "dritter Person" nach Bedingungen und Kriterien, ob diese dies oder 
jenes Verhalten (z.B. für Freie Software) günstig beeinflusst. Etc. So 
"funktionieren" Menschen aber nicht, und wenn sie es doch tun, ist jede 
Emanzipation am Ende. Das ist für mich der Knackpunkt: Drittstandpunkt 
(Aussenstandpunkt) und Emanzipation gehen nicht zusammen.

Ah, noch ein Versuch deine Position zu verstehen: Subsummierst du
vielleicht einfach konkrete Beziehungsgeflechte irgendwie unter dem
Gesellschaftsbegriff?

Nein, was deutlich geworden sein sollte.

Alle Versuche in diese
Richtung nenne ich bis zum plausiblen Nachweis "metaphysisch". Den
Nachweis konnte ich bislang nicht wahrnehmen.

Dass Beziehungsgeflechte einen Handlungsrahmen für Menschen bilden ist
metaphysisch?

So subjektivierend formuliert: ja.

Ein analytischer Begriff
"Gruppe" macht für mich keinen Sinn - was soll der Inhalt sein, was
seine Qualität?

Die Frage verstehe ich nicht, weil ich die Begriffe nicht verstehe so
wie du sie verwendest.

Ein analytischer Begriff (=Kategorie) hat für mich inhaltliche 
Bestimmungen, die eine bestimmte Qualität des so gefaßten Gegenstands 
(das Wesentliche an ihm) fundieren.

Ein deskriptiver Begriff vermag hingegen direkt Phänomene zu benennen, was 
eine Kategorie nicht kann.

Vereinfacht zielt ein analytischer Begriff auf das Wesen und ein 
deskriptiver Begriff auf die Beschreibung einer Sache. Perfekt verwirrend 
wird es dann, wenn dies mit ein und demselben Wort geschieht (was nämlich 
möglich ist).

Ich fühle mich hier auch gar nicht in der "Beweispflicht", denn
etwas nicht Existentes nachzuweisen, fällt bekanntlich schwer. Es
sollen also doch besser die, die einen analytischen Begriff der
"Gruppe" betreiben wollen, diesen fundieren. Deine Frage ist also
umzudrehen: Warum wäre ein (analytischer) Begriff von Gruppe nötig?

Um das Handeln von Menschen besser zu verstehen. Finde ich wichtig.

Um das Handeln von Menschen zu verstehen wäre doch aber ein Begriff vom 
Menschen (und seinen Beziehungen) sinnvoll. Anyway, nehmen wir an, es 
gibt da "noch was": Was ist das, was fehlt da, warum ist zusätzlich eine 
Kategorie "Gruppe" nötig?

Dein Ansatz mit der Bindung an "Interesse" hat mich nicht überzeugt. Und 
auch schon die Bindung an wieder etwas Drittes (auch ungeklärtes) macht 
mich stutzig. - Was ist das Wesen von "Gruppe"?

Kurz: Ich bin "nur" gegen eine metaphysische Aufladung eines an sich
harmlosen deskriptiven Begriffes. Eine Anzahl von Menschen >1 nenne
von mir aus Gruppe, Horde, Haufen, Versammlung, Clan, Bande etc.

Nun, die Frage ist doch die: Haben alle diese Gruppen eine besondere
Qualität, die über ihre Verschiedenheiten hinaus Sinn macht zu
betrchten?

Ich glaube in Bezug auf ein vermutetes "Wesen der Gruppe": nein.

Auf das Moluekülbeispiel gewandt: Haben alle möglichen
Gruppen unterschiedlicher Atome etwas gemeinsam, was dem Begriff des
Moleküls Sinn gibt? Oder ist diese Anzahl von Menschen / Atomen exakt
die Gleiche und durch nichts unterscheidbar, wenn sie völlig
beziehungslos in äquidistanten Abständen auf diesem Globus verteilt
sind?

Wie schon dargestellt: Atome und Menschen sind nicht vergleichbar. Und 
Menschen wären keine Menschen, wären sie äquidistant über den Globus 
verteilt - wie sollten sie dann z.B. kooperieren?

Wenn die Beziehungsgeflechte, die wir Gruppe, Horde, Haufen,
Versammlung, Clan, Bande, etc. nennen gegenüber solchen Wesen, die
nicht miteinander in Beziehung stehen, keine eigene Qualität haben,
dann hast du Recht: Dann ist Gruppe eine metaphysische Erfindung.

Gut, dann wären wir uns einig.

Wenn aber diese Gruppe, Horde, Haufen, Versammlung, Clan, Bande, etc.
den Handlungsrahmen für ihre Mitglieder bilden - was ich nachdrücklich
vertreten würde -, dann ist das nichts Metaphysisches, sondern etwas
reichlich Konkretes. Dann macht es m.E. definitiv Sinn, den Begriff
Gruppe sinnvoll zu füllen und mit ihm zu hantieren.

Auf der Ebene der je konkreten Beziehungen: ja, auf der Ebene 
zusammenfassender nivellierender (das Konkrete zum Verschwinden 
bringender) Begriffe: nein.

Ciao,
Stefan

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