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[ox] Potsdamer Denkschrift 2005 (was: Konferenzbericht Wien)



Lieber Rudolf,

Rudolf Sponsel wrote:
Link zu letzterem: http://www.vdw-ev.de/manifest

Interessant, aber doch sehr allgemein und abstrakt gehalten. Mehr
konkrete Beispiele wären nicht schlecht. Die 68iger kommen mir, wenn ich
die kryptischen Umschreibungen richtig deute, viel zu gut weg.

Dann mal ein paar Zitate, allerdings aus der "Denkschrift". Auf die
Frage einer vollkommen neuen philosophischen Fundierung unseres
Weltverständnisses

Sie verlangte eine Revolutionierung der bisherigen klassischen
Weltsicht mit der überraschenden Erkenntnis: Materie ist im Grunde
gar nicht Materie, sondern ein Beziehungsgefüge, eine Art Gestalt
oder in gewisser Weise trägerlose ‚Information’. Die ontische
Grundstruktur der Welt, basierend auf primär existierender Substanz
wird ungültig. Sie muss ersetzt werden durch einen ‚Komos’, in dem
nicht mehr Fragen: „Was ist? Was existiert?“ am Anfang stehen,
sondern nur Fragen der Art: „Was passiert? Was bindet?“.

will ich dabei gar nicht eingehen. Aber das Folgende klingt doch schon
recht "ox-ig" (Richtung OHA, allerdings anders aufgeschnitten als sonst
hier üblich):

Zurecht sprechen wir von der Freiheit des Menschen. Aber wie haben wir diese Freiheit zu
verstehen, wenn sie nicht die törichte Freiheit sein soll, das Falsche zu tun? Wie bewahren wir uns
und die Welt mit uns vor unserer Willkür, nachdem wir ein Stück weit aus dem Bedingungsgefüge
der ‚Ko-evolution’ herausgetreten sind? Eine Antwort heißt zweifellos, dass wir unsere
Erkenntnisfähigkeiten nicht nur dazu benutzen, immer mehr machen zu können, sondern immer
umfassender und aufmerksamer die sehr vielen Bedingungen der Welt, in die wir mit unserem
Machen eingreifen, und die unendlich vielen Wechselbeziehungen zwischen ihnen kennenzulernen.

Und hier findest du ein paar sehr wichtige Gedanken in Richtung Freie
Kooperation, der Konflikthaftigheit der sich darin ausdrückenden
Gestaltungsansprüche und dem, was ich in den Chemnitzer Thesen als 6.
und 7. Sinn bezeichnet habe - insbesondere die auch sinnhaft
wahrnehmbare Kraft des gemeinsamen Schaffens, hier als "Freude am
‚Lebendig-sein’" bezeichnet und mit der Kategorie "Dankbarkeit" ans
Individuum zurückgebunden.

Wo auch die Wissenschaften uns unsere Abhängigkeiten und Gemeinsamkeiten mit den
Bedingungen des Lebensortes Erde erklären, kann Dankbarkeit für die uns tragenden Möglichkeiten
erwachsen und unseren Sinn für das Miteinander ausbilden. Diese Dankbarkeit drückt sich aus in
Freude am ‚Lebendig-sein’ im Leben. Es bedarf also einer weiteren Antwort. Hier gilt es, über den
Verstand hinaus und, um seine Unausgeglichenheiten wieder einzufangen, von dem Vermögen der
Vernunft Gebrauch zu machen. Vernunft ist das geistige Organ des Menschen, Beziehungen
komplex, sich selbst einbeziehend, wahrzunehmen und in Beziehungen setzen zu können. Wenn
der Verstand der Forderung nach Präzision zu genügen sucht, so geht die Vernunft bewertend von
der Forderung nach Relevanz aus. Die Vernunft sagt uns, dass wir eine Freiheit haben und nicht
einfach nur in Bedingungen eingebunden sind. Vernünftigerweise ist aber ebenso klar, dass wir im
Reiche der Freiheit eine eigene Form brauchen, nicht nur die Mitwelt zu benutzen, sondern sie zu
erspüren und auf sie zu antworten. Das ist die Liebe. Mit unseren Eingriffen in die Welt antworten
wir auf unsere Ko-existenz mit allem Anderen einerseits und auf unsere Freiheit andererseits. Aus
menschlicher Freiheit die eigene Existenz als Antwort und als Miteinander zu begreifen, ist das
Gefühl der Liebe und das Engagement zur Verantwortung.

Und das ist für mich Theorie der Freien Kooperation, wenn man sie
konsequent zu Ende denkt - eine klare Fortschreibung des Holzkampschen
"Werkstattpapiers" von 1980:

So wird eine grundlegende Ethik aus den Bedingungen des Menschseins, der „conditio humana“,
selbst begründet. Aus unserem Wissen und unseren je neuen Entscheidungen in sich verändernden
Umständen entwickeln wir daraus verbindliche Regeln. Diese Ethik ist aber nicht in ihrem Ursprung
normativ. Sie ist auch nicht primär negativ eingrenzend, sondern sie versteht sich als die besonderen
menschlichen Antworten auf die Einladungen der Welt. Dies ist auch ursprüngliche Weisheit, der
alle Religionen ihren Ausdruck geben. So ist auch die besondere Weise der Menschen, die Welt
anzuschauen und ihr sich zu verbinden, ein kostbarer, unersetzlicher Beitrag zur Evolution, zum
Weltengang. Ein Weltbewusstsein. Dafür gilt es, auch die Menschheit einer Erde zu bewahren, die
bioökologisch zweifellos auch ohne uns ihre immer neuen Entwicklungen hervorbringt, denen aber
die menschliche Wahrnehmung und Deutung eine neue Dimension, eine eigene, geistig-kulturelle
Sphäre öffnet.

Oder unter der Überschrift "Kooperative Integration im gemeinsamen ‚Spiel’":

Die in Wechselwirkung zum bewegten Lebenskomplex Erde gewachsenen, über Jahrmilliarden
dynamisch angepassten und ‚geprüften’ Organisationsmuster und -formen lebendiger Strukturen
und Biokomplexe zeigen uns Zugänge und Umgangsformen, um ein dezentral-dynamisches,
vielzelliges, nämlich organismisches Zusammenwirken lebendiger Gesamtheit auf der Erde zu
organisieren. Das komplementäre und organismische Zusammenwirken des vielfältigen, sich im
stetigen Wandel bewegenden Differenzierten bietet eine immer wiederkehrende, strategisch
erfolgreiche Grundlage eines kooperativ-aufbauenden Wetteiferns – einer Com-petition (zusammen
nach Lösungen suchend) im Sinne eines Plus-Summen-Spiels.

So was hatten wir auch schon mal, etwa im Text "Zum Verhältnis von
Kooperation und Konkurrenz" von SMz, siehe
http://www.opentheory.org/ko-kurrenz

Wir setzen bewusst den offenen, die Bedingungen und Möglichkeiten in wechselseitigen Schritten
ausgleichenden Begriff ‚Spiel’ an die Stelle von ‚System’, das bei aller kybernetischen Raffinesse
doch weiterhin faktisch starre Strukturen statt fließende Gleichgewichte, eben Lebendigkeit,
voraussetzt. Deshalb muss sich die Heterogenität der Bedürfnisse der Menschen und Kulturen, die
Unterschiedlichkeit ihrer Traditionen und historischen Übereinkünfte, ihrer Rituale und
Spielformen, aber auch ihrer Hierarchien und Machtvorstellungen in unseren Austauschsystemen,
Produktionsmitteln und Strategien wie auch den Regeln von Com-petition und Anerkennung
spiegeln. Denn, sekundär als eine lebensdienliche Konsequenz, je größer der Pool, desto größer die
Anpassungsfähigkeit. Je vielfältiger das Spektrum kultureller Erscheinungen, desto vielfältiger das
Potenzial sich an verändernde Bedingungen anzupassen – desto weiter das Spektrum an
Lösungsperspektiven und Anpassungsmodi.

Und das sind für mich Franz' "Globale Dörfer" in Reinkultur, oder?

Ökologische und kulturelle Diversität fördert die Evolution zukunftsoffener Lebensstile in
zukunftsfähigen Gemeinschaften. Hierzu brauchen wir jedoch dringend die Weiter- aber auch
Neuentwicklung rechtlicher Rahmenbedingungen, die für faire Spielregeln wie auch nachhaltige
Entwicklung sorgen und im ständigen Diskurs zivilgesellschaftlich rückgekoppelt werden. Der
einseitigen Dynamik des Kapitals, die sich in der Abwälzung privater Kosten auf Natur und
Gesellschaft auswirkt, muss über solche Übereinkünfte zum gemeinsamen ‚Spiel’ energisch
ausgleichend gegengesteuert werden. Das Ziel der Zukunftsgerechtigkeit und -verantwortung – das
Nachhaltigkeitsziel – muss strukturtragend und strategiebildend für Kultur-, Sozial- und
Wirtschaftspolitik werden.

Für mich eine Variation aufs Thema "Leben in fairen Regeln" usw.

Ich jedenfalls habe den Text mit viel Genugtuung gelesen, zumal eine
Reihe von Ansätzen bereits in den "Chemnitzer Thesen" zu finden sind und
dort nicht nur normativ, sondern in ihrer historischen Genese ein Stück
weit nachgezeichnet werden.

Viele Grüße, HGG

-- 

  Prof. Dr. Hans-Gert Graebe, Inst. Informatik, Univ. Leipzig
  Augustusplatz, D-04109 Leipzig, Raum 5-53	
  tel. : +49 341 97 32248
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