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Re: [ox] Konkreteres zur Freien Gesellschaft?



Hallo Benjamin, hallo alle,

Benjamin Teuber wrote:
Andererseits aber ist so eine eine graduelle Entwertung, eine anmähliche
"Verschiebung der Übergangszone" natürlich mit ganz praktischen Problemen
verbunden, insbesondere für Leute deren Lieblingsbeschäftigungen/Stärken schon
entwertet wurden, während sie ihrerseits aber noch Geld zum Überleben brauche.

Damit kommen wir vielleicht wieder zur Grundfrage nach der Einbettung richtiger Ideen ins
falsche System, also "Abschottung oder Integration" oder "FSF vs. OSI".
Ich für meinen Teil kann mir sehr gut "semikapitalistische" Mischformen vorstellen, da ich der Meinung bin,
dass das Freie System einfach das stärkere ist und wir somit nur die Keimformentwicklung beschleunigen.

Ja, kann ich auch -- Entwicklung und Ausbau solcher Übergangsformen, die
einerseits Freiräume für die eigene Selbstentfaltung und das Erproben neuen
Arbeits- und Lebensformen schaffen (Stichwort Existenzsicherung), andererseits
die angestrebten Ziele nicht verraten (keine künstliche Knappheit etc.),
dürfte eine der wichtigsten und reizvollsten Aufgaben für die nächste Zeit
sein. Heute findet die Entwicklung Freier Software und Freier Inhalte ja meist
in der "Freizeit" neben einem regulären Job (oder Studium o.ä.) ab, das ist
noch ein recht kleiner Freiraum, und durch die Verschärfung kapitalistischer
Anforderungen (längere Arbeitszeiten u./o. -intensität etc.) wird die Luft
immer dünner...

Der Konflikt "FSF vs. OSI" besteht IMHO übrigens nicht in der Form wie du in
beschreibst: beide sind offen für Mischformen (z.B. Verkauf von
Software-CDs/Büchern etc., Softwareentwicklung gegen Bezahlung nach den
Wunschen der Auftraggeber, kommerzieller Support); der Unterschied ist, dass
die FSF/Stallman nicht will, dass dabei die FS-Prinzipien (wie freie
Lizenzierung aller Software/Inhalte) aufgegeben werden, während dies dem
OSI/Raymond eher egal ist. Aber das nur am Rande.


Eine meiner (vielen) Schnapsideen wäre beispielsweise eine "offene Softwarefirma", bei der jeder
sich als Programmierer anmelden darf. Jedes Unternehmen könnte dann Programmieraufträge
einreichen und sagen, was es dafür bereit wäre zu bezahlen. Die Programmierer arbeiten dann, woran sie
Lust haben, soviel sie wollen. Sobald ein Projekt abgeschlossen ist, wird das Geld dann gemäß den "Arbeitsanteilen"
(ja, wie genau man die definieren und messen kann weiß ich leider auch noch nicht...) aufgeteilt, und die Software
bekommt eine Tripellizenz - kommerziell für den Auftragsgeber, GPL oder noch restriktiver (z.B. "die Software darf in keinem
Unternehmen eingesetzt werden") für die Community und etwas dazwischen für die "offene Firma" selbst. Über die Zeit
könnte so eine gewaltige Bibliothek anwachsen, die aber im Vergleich zu SF und co. deutlich besser integriert wäre, also
keine 100.00 Einzelprojekte, die immer wieder das Rad neu erfinden, sondern ein sich ständig verbessernder gemeinsamer Kern, der auf Dauer ein Höchstmaß an Effizenz bewirkt.

Ja, Projekte in diese Richtung sind spannend. Übrigens hat Stallman m.W. schon
vor langem Emacs-Erweiterungen auf eine derartige Weise programmiert -- der
zahlende Auftraggeber bestimmt, was gemacht wird, aber das Ergebnis stand dann
allen zur Verfügung. Stallman als Purist verwendet dann natürlich für alle die
GPL, aber ich hätte auch keine Probleme damit, dem Auftraggeber exklusiv
weitergehende Rechte (z.B. BSD-artige Lizenz die beliebige Nutzung erlaubt)
einzuräumen, wie du vorschlägst. Allerdings würde ich wie FranzN dazu
plädieren, für die Allgemeinheit einen zwar restriktiveren, aber immer noch
der FS-Definition entsprechenden Mechanismus zu finden (wie die GPL, mit oder
ohne Zeitverzögerung). Allein schon aus pragmatischen Erwägungen: FS/OS ist
einfach ein zu wohletabliertes und positiv besetztes Konzept, als dass man
sich da ohne Not ausklinken sollte.

Ähnliche Geschichten kann man sich sicher auch für alle anderen Bereiche einfallen lassen, z.B. Musik-Organisationen, die
sowohl Tauschbörsen als auch Viva (inklusive Jamba-Klingeltöne und den ganzen Dreck) bedienen, und somit etwas nicht-entfremdeter werkeln und trotzdem dabei Geld verdienen.

Vielleicht lässt sich mit solchen Kniffen ein stufenloser Übergang in die Wege leiten?

Ja, es sind ja schon entsprechende Tendenzen feststellbar:

Frei sind Inhalte und Informationen (Software, Musik, Filme etc.), entweder
offiziell (Freie Software, Wikipedia, kostenlose Online-Magazine) oder de
facto (Tauschbörsen). Sprich alles wo die Grenzkosten null sind.

Bezahlt wird dagegen da, wo im Einzelfall Kosten entstehen:

- Zugang (Internet-Zugang z.B. per DSL)
- Events (Konzerte, Kinobesuche)
- Packaging (Linux-Distros o.ä. auf CD sind bequemer als ein großer Download,
Bücher lesen sich gedruckt besser als am Bildschirm)
- Produktion (wie im oben diskutierten Fall: wer eine bestimmte Software will,
die's noch nicht gibt, und sie nicht selbst entwickeln will oder kann, muss
eben jemand dafür bezahlen)

Wer diese Trends aufgreift, wird daraus wahrscheinlich einiges machen können.
Cory Doctorow <http://www.craphound.com/> lebt z.B. wohl ganz gut vom Verkauf
seiner Bücher, obwohl -- oder weil -- sie's auch alle unter freien CC-Lizenzen
gibt.

Die andere Entwicklung, die sich heute noch weitgehend ignoriert wird, aber
letztlich unvermeidlich sein dürfte, ist dass "Geld verdienen" letztlich
sowieso nicht mehr die notwendige Voraussetzung für "ein gutes Leben führen"
sein kann, jedenfalls nicht wenn damit ein Vollzeitjob (~40h/Woche) gemeint
ist. Es ist ja längst nicht mehr genug bezahlte Arbeit für alle da, und das
dürfte sich in Zukunft kaum ändern. Auch die Politiker glauben das ja
offensichtlich nicht, das ganze Gerede von "internationaler
Konkurrenzfähigkeit" meint ja letztlich nichts anderes, als dass Jobs ins
Inland geholt und die Arbeitslosigkeit ins Ausland verschoben werden soll. Es
braucht also (Übergangs-?)Modelle, die diese notwendig gewordene Abkoppelung
von Lohnarbeit und Lebensqualität realisieren (Bürgergeld o.a.) -- damit
würden sich sich dann ganz neue Freiräume für Freie Software/Inhalte/Kunst
eröffnen, weil der Zwang, damit Geld verdienen zu müssen, entfällt.


Dass Musiker, die gehofft haben, mit Albumverkäufen genügend Geld zu verdienen
zu damit einigermaßen über die Runden zu kommen, nicht gerade glücklich sind,
wenn sie ihr Werk in Tauschbörsen wiederfinden, kann ich gut verstehen.

Also ich würde sagen, dass Tauschbörsen ein optimaler Werbeträger gerade für unbekannte
Musiker sind, darum würde ich vermuten, dass unterm Strich wahrscheinlich deutlich mehr Leute
Platten kaufen werden, auch wenn man sich dabei immer bestohlen fühlt.

Zum einen dass, insbesondere wenn die Platten günstig sind und keinen
Kopierschutz haben, sprich die Leute keine Angst haben müssen, sie später beim
Umstieg auf neue Techniken nicht mehr anhören zu können ("Packaging"). Zum
anderen bleiben Konzerte/Live-Ereignisse, für die ein erhöhter
Bekanntheitsgrad natürlich nichts schaden kann ("Events"). Und last not least
dürften die meisten Musiker ja grade die Hoffnung haben, mit ihrer Musik
bekannt und gehört zu werden, von daher ist ein Erfolg in den Tauschbörsen ja
auch schon ein Erfolg an sich (gilt natürlich analog für andere Künstler)!


Das erinnert mich spontan an eine schwedische Studie, die kürzlich ergeben haben soll, dass Sony&co
in Wirklichkeit ebenfalls von Napstar profitiert haben - dieses "Das-kostet-uns-Milliarden-Geheule"
basiert ja schließlich auf der irrigen Annahme, dass jeder der ein Lied zieht sonst die CD gekauft hätte...

Und ich glaube, die Musik- und Filmindustrie käme mit der Situation viel
besser klar, wenn sie kapieren würden, dass sie mit CDs und DVDs nicht
_Inhalte_, sondern _Packaging_ verkaufen, und auf Convenience statt auf
Abschreckung setzen würden. Das würde zum einen ein vernünftiges Preismodell
erfordern, z.B. DVDs die so viel wie eine Kinokarte kosten (erfahrungsgemäß
schaut man sich Filme ja doch meist nur einmal an, und selbst wenn man DVDs
vielleicht zu mehreren anschaut, bieten sie doch keine mit dem
Kino/Großleinwand vergleichbare Erfahrung). Zum anderen natürlich den Verzicht
auf DRM, denn warum sollte ein vernünftiger Mensch Geld zahlen für Dinge, die
einem gar nicht wirklich gehören und von denen man nicht weiß, ob man sie in
Zukunft noch abspielen kann??? Und da es ums Packaging geht, macht es auch
nichts, wenn die Dinger dann mal kopieren werden...


Die allgemeine Frage nach der gegenseitigen Kontrolle in der Verteilung öffentlicher Resourcen sollten wir
vielleicht weiter vertiefen. Einerseits löst die Vorstellung einer Behörde, an die man begründete Anträge
stellen muss, bei mir sofort die Assoziationen "Trabi" und "Hartz IV" aus - so etwas braucht unsere Utopie
nun wirklich nicht!

Ja, mir gings ja genauso. Sowas sollte, denke ich, allerhöchstens eine
Notlösung sein, neben der es aber immer noch andere Möglichkeiten geben sollte.

Andererseits ist mein Vertrauen darin, dass jeder sich von allein nur soviel aus dem Topf nimmt,
dass die anderen auch genug haben, derzeit auch nicht besonders groß...
Eine Hoffnung wäre, dass der Mensch nach und nach in die Umsonstwirtschaft hineinwächst und sich wirklich
vom "Parasiten" zur "Pflanze" entwickelt.

Hmm, allerdings seh ich da immer die Gefahr einer "Schere im Kopf". Vielleicht
trauen sich dann Menschen nicht, sich Dinge zu nehmen, die ihnen wichtig sind,
aus Angst vor der Missbilligung ihrer Nachbarn. Das wäre dann bloß die
Ersetzung eines externen Kontrollmechanismus (man kann sich was nicht leisten)
durch einen internalisierten (man traut sich nicht).

Die Vorstellung behagt mir gar nicht -- da ist es vielleicht besser, an dem
externen Kontrollmechanismus (Geld) festzuhalten, statt den Leuten ein
"schlechtes Gewissen" zu machen. Vielleicht ist ja das eigentliche Problem gar
nicht das Tauschprinzip per se, sondern das Tauschprinzip als Dogma, an dem
auch da festgehalten wird, wo es gar nicht nötig ist, sprich wo keine
Grenzkosten auftreten (siehe auch Sig-Zitat).

Ansonsten muss man wohl doch an einem Tauschmedium wie Geld festhalten. In diesem Fall wäre ich aber für
die Abschaffung der Verzinsung (und auch der Inflation, wenn das möglich ist).

Naja, man kann natürlich versuchen, die Inflation zu kontrollieren, das wird
ja heute schon einigermaßen erfolgreich gemacht. Grundsätzlich würde ich aber
an diesen inhärenten Eigenschaften des Geldes nicht rumspielen -- wenn schon
Geld, denn schon ;-)

Vielleicht würde das Geld dann ja auch nach und absterben, weil man merkt,
dass sich eigentlich sowieso alle nehmen können, was sie wollen, und die
Notwendigkeit für Bezahlung somit entfällt. Vielleicht auch nicht. Wir werden
sehen...

Ciao
	Christian

--
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Für besonders fragwürdig halte ich die Ansicht, dass man selbst dann noch
kapitalistisch wirtschaften sollte, wenn die Voraussetzung
(Ressourcenknappheit) nicht mehr gegeben ist. Das stellt die Grundlage des
Kapitalismus auf den Kopf und macht aus ihm nicht mehr als eine weitere
Wirtschaftsform, die aus lediglich ideologischen Gründen aufrechterhalten
wird.
	-- Thorsten Haude

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Organisation: http://www.oekonux.de/projekt/
Kontakt: projekt oekonux.de



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