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Re: [ox] Noch mal zur Freien Gesellschaft



Hi El Casi,

El Casi wrote:
Holloway: Jede(r) ist Warenmonade-und-NichtWarenmonade. Oder genauer:
seine Situation als Warenmonade prägt seine Sicht genauso wie seine
Situation als NichtWarenmonade. In der Unterwerfung unter ein solches
Prinzip ist immer auch der Ausbruch aus diesem Prinzip in der einen oder
anderen Form präsent. Und wenn das die Form der psychologischen
Verdrängung und Projektion ist, die im Untergrund des ICH weiter wühlt.

Jaja, aber was heißt denn ``genauso wie'' genau?  Ich höre da
irgendwie nichts als schwammige Wellnessdialektik raus ... so etwa
wie ``Das Leben ist nicht schwarz, das Leben ist nicht weiß -- das
Leben ist grau.'' 

Nein, eben nicht so eine diffuse Mischung, sondern "das Leben hat seine
schwarzen Seiten" und "das Leben hat seine weißen Seiten", beides ist
immer parallel präsent. Wenn du eines stärker wahrnimmst, dann ist eine
gute Frage "warum?". Auf die kommst du aber nicht, wenn du den Zustand
als "grau" wahrnimmst.

Außerdem nicht "ist" - der zentrale Punkt bei Holloway (und auch im PM):
das Leben nicht als SEIN, sondern als WERDEN wahrzunehmen. An deinem
Beispiel: Es gibt eine schwarze und eine weiße Komponente, die parallel
und interagierend im Alltag präsent sind. Aber sie haben sicher ganz
unterschiedliche Dynamiken, sind unterschiedlich mit anderen Phänomenen
und Entwicklungslinien verbunden etc. Es geht darum, auch die feinen
Nuancen und Differenzen im Heute wahrzunehmen als die Keime, die sich
erst im Morgen entfalten. Das ist wohl Blochs "konkrete Utopie" (habe
ich aber noch nix im Original gelesen). Und dass die (meisten) Dinge -
trotz all dieser Sprengkraft im Inneren - auf wundersame Weise auch im
Morgen zusammenpassen, ist dann wohl sein "Prinzip Hoffnung".

Dialektik ist was ganz Feines, wenn man sie im Marxschen Sinne versteht.
Der pejorative Unterton, den du dazu hier anschlägst, ist ein Produkt
dieser Gesellschaft, um Leute von so gefährlichen "Denk"-Dingen abzuhalten.

Dieses ``genauso wie'' suggeriert Gleichgewicht, Balance -- also
Stabilität! Bestenfalls könnte man die Annahme eines dynamischen
Gleichgewichts in ihm unterbringen. Aber Entwicklung? 

Alles, was wir als Form wahrnehmen ist in irgend einem Sinne
Gleichgewicht. Und es gibt in der Tat statische und dynamische
Gleichgewichte (sog. Fließgleichgewichte) - unter letztere fallen auch
die hochgradig dynamischen, die dissipativen, wie etwa die Benardzellen.
Nur die ersteren sind "tot" und enthalten keine Entwicklungspotenz.
Jedes Fließgleichgewicht dagegen enthält Entwicklungspotenz, da sich
sein Zentrum ja bewegt. Oft ist die Bewegung der Zentren wieder in ein
Fließgleichgewicht eingebunden usw. Kaskadierend sozusagen, aber eben
nicht Teil-Ganzes, weil das Obersystem nicht die Dynamik des
Untersystems, sondern nur die Dynamik von dessen Zentrum erfasst.

Dass die interessanten Teile der Welt aus Fließgleichgewichten gebaut
sind, ist (nach meinem Verständnis) das, was das PM mit "Prä-Lebendigem"
meint.

Woher soll denn aus diesem ``genauso wie'' ein qualitativer Sprung
möglich sein?

Qualitative Sprünge in Fließgleichgewichten sind gut verstanden als
"Umschlag von Quantität in Qualität" (auch mathematisch). Jenseits
gewisser Schwellenwerte "bricht die Symmetrie". Klassisches Beispiel -
Hysterese, die Entmagnetisierung von Eisenmagneten bei Erwärmung. Die
Quantität ändert die Balance zwischen zwei widerstreitenden Komponenten
so, dass auf einmal die andere die Oberhand gewinnt und zu einer
Umstrukturierung führt. Im obigen Beispiel - Entkopplung der
Elementarmagneten durch höhere Eigenenergie, die schließlich die
Kopplungskraft überwindet. Parallelen zum "Fünfschritt" - (natürlich
nicht) rein zufällig :-)

Wenn ich annehme, daß Holloway kein Konservator sein möchte, dann muß
die Zuspitzung dieses Widerspruchs für ihn also irgendwie ``von
außen'' kommen.

Von außen kommt die Anregung (im Beispiel: Zuführung von Wärmeenergie).
Die Dynamik selbst kommt von innen.

Daß man aber bspw. als Gastarbeiter (so wie ich) oder als
Sozialhilfeempfänger usw. [bei der Suche nach einem WG-Platz]
schlechtere Karten hat, liegt auf der Hand.

Das geht aber schon weit über die *unmittelbaren*
Wirkmechanismen der "Warenmonade" hinaus.

Ganz und gar nicht: man wird einfach als finanzielles Risiko
empfunden (und ist es mitunter auch wirklich): - kann er seinen
Anteil zahlen, wie lange? ... und was dann? - wie lange bleibt er,
was hält ihn hier, was treibt ihn weg und wie schnell?  

Ist aber nicht primär eine des "Gastarbeiters", sondern die Wahrnahme
eines (wirklichen oder vermeintlichen) Risikos. Meine Tochter hat in LU
in einem solchen "anrüchigen" Haus Quartier genommen, wo die E-Werke 50
Euro Kaution verlangen, ehe der Strom angeschaltet wird. Auch von
NichtGastarbeitern und NichtStudenten. Es ist schlicht die Adresse das
Kriterium.

Schlichtes ich-zentriertes Kosten-Nutzen-Kalkül mit
Risikoabschätzung, wie bei jedem Kapitalisten auch (nur daß sich das
``Anteil zahlen'' bei ihm in ``Leistung bringen'' übersetzt).

Kannst du es ihnen in DIESER Gesellschaft verdenken? Wenn die Einnahmen
nicht kommen, bleiben sie auf ihren Ausgaben sitzen. Ist aber ein sehr
generelles Problem kooperativen Handelns: Ich verspreche was, das ich
nur erfüllen kann, wenn die anderen ihre Versprechungen einhalten. Davon
gehe ich zwar aus, aber was, wenn nicht? Bin ich dann der Dumme, dessen
Reputation leidet (heute: der zahlen muss)?

Der bürgerliche Schuldvertrag ist eine Art des Versprechens, das du
nicht brechen *kannst* - weil die Konsequenzen des Scheiterns mit
vereinbart werden (müssen): "Ich verspreche regelmäßig Miete zu zahlen,
und wenn nicht, dann darfst du meine Kaution einbehalten." Insofern
schon eine tolle Lösung gegenüber einem "was interessiert mich mein
Geschwätz von gestern". Als Informatiker hätt ich es aber doch lieber
als Exception Handling.

Das ist hier nicht der Punkt. Auch wenn alle unzufrieden sind,
entscheidet sich jede(r) doch zu einem anderen Zeitpunkt für
eine Veränderung. Und ist damit automatisch (progressive - jetzt
gerade veränderungswillige) Minderheit in einer (konservativen -
jetzt gerade veränderungsunwilligen) Mehrheit.

Hehe! Da haben wir sie ja wieder, die Warenmonaden-Argumente.  

Nicht unbedingt. Es könnte auch die selbstbewusste Position des
autonomen Subjekts sein "wann *ich* umziehe entscheide *ich*".

Gleichwohl ist deine folgende Frage natürlich die entscheidende:

Man fragt sich, warum es überhaupt noch einen einzigen 
Volleyballverein gibt, ...

Bloß die Antwort kann nicht eine Dichotomie einzeln - gemeinsam sein.
Das "gemeinsam" ist hochgradig strukturiert: Joggen kann ich alleine,
Volleyball spielen nicht. Zum Volleyballspielen reichen 10 Leute und ein
Platz, für eine Demo kaum.

Und so auch oben - konkrete Wohnungssuche hat eine ganz andere Dynamik,
Eigenzeit und -raum als das Ringen um bessere Bedingungen für eine
solche Suche. Letzteres ist möglicherweise nicht mal mehr allein durch
*direkte* Kommunikation zu behandeln wie die Geschichte mit dem
Volleyballspielen.

Um die Feinheiten solcher Bewegungsgesetze geht es doch aber, wenn wir
über Freie Gesellschaft nachdenken, oder?

Genau: Ich höre von fast allen Leuten, die sich spätestens
nach der Schule direkt im Westen wiederfanden, sie könnten nicht
in einem Zimmer mit jemand anders zusammenleben.  Nicht mal im
Studi-Alter oder so.  Und was mich daran stört ist nicht der
Anspruch auf Privatsphäre, sondern die mechanistische Vorstellung
von Privatsphäre.  Die Warenmonade setzt immer noch ihre eigenen
Erfahrungen als ihre Grenzen.  Aber wie ein bekannter Sänger schon
mal hinlänglich ausgewalzt hat: Hinter dem Horizont geht es
weiter...!  Und dieselben Menschen, die so auf den Schutz der
Privatsphäre bedacht sind, schrecken z.B. mitunter kein bischen
davor zurück ihren (Ex-) Partner (in spe) mit den lächerlichsten
Eifersuchtsausfälligkeiten zu quälen, ... 

Ist das nicht auch ein Ausdruck des Sich-Selbst-Quälens? Warum können
die Leute nicht locker und entspannt mit ihrem Partner umgehen? Geht
alles bis tief in die Persönlichkeitsstruktur hinein: "Diese
Gesellschaft macht krank." (W. Reich) Ich weiß nicht, ob es da nur um
"Faulheit und Feigheit" geht. Und deshalb vielleicht viel mehr Nachsicht
mit anderen und dann vielleicht auch mit sich selbst angebracht wäre.

So wie neulich mit sigi im coforum, wo sich Thomas ja nicht nur
Zustimmung eingehandelt hat.

Zwischen ``Wird ... aufhören'', wie Du paraphrasierst, und
``aufhören kann'', wie ich schrieb, sehe ich noch einen
Unterschied -- nämlich genau den der ganzheitlichen Verflechtung,
oder wie man das nennen will.  Nur scheint mir eben, daß
Reflektionen wie ``Das eine prägt genauso wie das andere'' in
bestimmten Zusammenhängen weder beim theoretischen noch beim
praktischen Aufdröseln hilfreich sind.  Sie helfen höchstens
absurd einseitige Sichtweisen anzukratzen, aber nicht weiter.

Was sind "absurd einseitige Sichtweisen"? Ist das ein objektivierbarer
oder ein subjektiver Tatbestand? Christophs Predator-Überlegungen etwa:
Fanden hier viele "absurd einseitig". Wie ist das da mit dem
"theoretischen oder praktischen Aufdröseln"?

So viel mal eben auf die Schnelle.

Viele Grüße, HGG

-- 

  Prof. Dr. Hans-Gert Graebe, Inst. Informatik, Univ. Leipzig
  Augustusplatz, D-04109 Leipzig, Raum 5-53	
  tel. : +49 341 97 32248
  email: graebe informatik.uni-leipzig.de
  Home Page: http://www.informatik.uni-leipzig.de/~graebe

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