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Re: [ox] Re: Verantwortung übernehmen!



Hallo Stefan Meretz, Stefan Merten et al!

Ich heiße Jacob Steinhagen und komme aus Schlesvig-Holstein.
Seit über 20 Jahren bin ich am Anarchismus interessiert, der ja
laut Proudhon die eigentliche, am nicht überwundenen absoluten 
Denken gescheiterte Zielvorstellung der französischen Revolution
von 1789 war.

Am Freitag, 7. Juli 2006 09:58 schrieb Stefan Meretz:
Mit anderen Worten: Es kommt zu einem ziemlich normalen
Ausdifferenzierungsprozess, in dem IMHO geklärt werden muss (resp.
werden wird - wie auch immer), welche Ziele sich die Beteiligten
setzen. Danach habe ich nun explizit gefragt. Ich habe die Erfahrung
gemacht, dass es gut ist, sich über die Ziele zu verständigen, bevor
ein neuer Prozess (oder eine neue Etappe eines Prozesses) beginnt. Mir
geht es um einen _rough consensus_.

Mit anderen Worten:
In fünf Jahren hat das Projekt Ökonux es versäumt, sich Ziele zu setzen
und die diffusen Vorstellungen, was eine GPL-Gesellschaft sein könnte,
zu konkretisieren. So wie Menschen, die zusammenkommen, um ein 
'Soziales Zentrum' aufzubauen, ohne sich über die konkreten Ziele und
die evtl. vorhandenen oder nicht vorhandenen Gemeinsamkeiten aller
Beteiligten klar zu sein, die das 'Soziale Zentrum' tragen und über die
Inhalte des Zentrums entscheiden.

Ein wirklich tragfähiges "Wir"-Gefühl konnte sich aufgrund mangelnder
konkreter Ziele noch nicht entwickeln wie beispielsweise in einer MUD-
Community, in der das gemeinsame Spiel die konkreten Ziele vorgibt.
Es entstand ein diffuser "öffentlicher Raum", in dem sich hunderte von
Menschen aufhalten und der über Jahre höchst unterschiedliche Men-
schen bereicherte, für deren Pflege aber nur ganz wenige Menschen die
Verantwortung trugen bzw. sich mit diesem identifizierten. Dieser Mangel
wird deutlich darin, wie wenige Menschen im Vergleich zu den in den
Listen eingetragenen Usern Mitglied im Trägerverein wurden.

Insbesondere die Machtverteilung zwischen jenen, die diesen öffentlichen
Raum zur Verfügung stellen und den Usern, die diesen nutzen, blieb weit-
gehend ungeklärt. So entstand der ursprüngliche Konflikt genau an die-
ser Bruchstelle, zu dem der Konflikt mit CR lediglich als Tüpfelchen auf
dem i auf der Liste ox hinzutrat. Man gibt eine Macht der Verfügungsge-
walt nicht dadurch auf, indem man sich als Erster unter Gleichen seiner
Rolle verweigert, sondern dadurch, daß man diese Verfügungsgewalt
einer kollektiven Kontrolle durch Dritte unterstellt und die Absprache
mit anderen Verantwortlichen sucht bzw. sich Mitverantwortliche sucht, 
bevor man tätig wird. Alleingänge tragen in sich immer ein Konfliktpo-
tential, was den öffentlichen Raum zerstört - eben weil darin die unglei-
che Machtverteilung im Gegensatz zur öffentlichen Bekundung des List-
owners als Erster unter Gleichen besonders deutlich wird.

Ferner gehen wir hier mit einer Technik um, die - einmal von ihrer glo-
balen und lokalen befreienden Wirkung abgesehen - in sich die Macht-
verteilung der bürgerlichen Gesellschaft vergegenständlicht. Dies zeigt
sich darin, daß ein List-owner oder Verwalter erforderlich ist, der in je-
dem Falle via Passwort mehr Macht besitzt als die User seiner Webseite
oder Mailliste(n), selbst wenn die Gestaltung einer Themenseite den usern
überlassen werden kann. Dadurch wird nach der Faktenlage die Macht-
stellung eines 1. Vorstandvorsitzenden eines Trägervereines unterstützt,
solange dieser auch Verantwortlicher der virtuellen Strukturen ist - je-
denfalls solange, wie in der Satzung des Trägervereines nichts anderes
(Trennung des Vorsitzes von der Verantwortlichkeit für das Virtuelle z.B.) 
vereinbart wurde. Kollektive Konsensbeschlüsse und Kollektivverantwort- 
lichkeiten lassen sich inzwischen auch in der Satzung bzw. Neufassung 
einer Satzung von Trägervereinen nach bürgerlichem Recht in der BR 
Deutschland festschreiben. 

Insbesondere über die Rolle bedeutender Personen für eine soziale Struk-
tur liegen bei mir völlig andere Erfahrungen vor. Soziale Strukturen nei-
gen in unserer europäischen Kultur dazu, sich viel zu stark an den bedeu-
tenden Personen auszurichten und Probleme mit diesen nicht aufzugrei-
fen, solange kein Konflikt vorliegt, der die Bereitschaft des gegenseitigen 
Zuhörens automatisch gegen Null fallen lässt. Da Freiheit von den meisten
Menschen in unserer Kultur als Ungehorsam mißverstanden wird, werden
bedeutende Personen all zu häufig zur Zielscheibe dieses Ungehorsam,
zur Projektionsfläche negativer Gefühle und Feindvorstellungen. Einerseits
lehnt man sich zurück und überlässt in öffentlichen Räumen oder Gruppen
diesen bedeutenden Personen jegliche Verantwortung, andererseits wird
ein Zwang zum Hahnenkampf in die soziale Struktur eingeführt, eben weil
die Unterteilung in Menschen bedeutender und weniger bedeutender
Stellung automatisch eine Hierarchie etabliert, die zur eigentlichen sozia-
len, informellen Struktur wird - solange man nicht durch bewußte organi-
satorische Maßnahmen gegensteuert.

Soziale Strukturen geraten in Gefahr, so schreibst Du, Stefan Merten, wenn
die bedeutende(n) Person(en) die Struktur verlassen - im Umkehrschluß
bedeutet dies, daß die soziale Struktur in ihrem Verhalten, ihrer Themen-
wahl und ihrer Diskussionsführung sich an der/den bedeutende(n) Perso-
n(en) ausrichten muß, dieser bzw. diesen gefallen muß, um diese bzw.
diesen in der sozialen Struktur zu halten. Ich glaube, daß wir uns als am
Anarchismus interessierten Menschen leicht darauf verständigen können,
daß dies Freiheit für alle weniger bedeutenden Menschen in der sozialen 
Struktur faktisch ausschließt. Ein solcher "Anarchismus" hätte ganz ein-
fach den Praxistest nicht bestanden.

Ist es nicht eine Erkenntnis des Anarchismus, daß aus Begabung und
Interesse keine bevorzugte Stellung einer oder mehrerer Personen in
einer sozialen Struktur erwachsen darf?

Gruss,
Jacob


________________________________
Web-Site: http://www.oekonux.de/
Organisation: http://www.oekonux.de/projekt/
Kontakt: projekt oekonux.de



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