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Re: [ox] Re: Verantwortung übernehmen!



Hi Jac,

Am Friday 14 July 2006 06:05 schrieb Jac:
auszuführen. Also zum Beispiel zu schreiben: "Wenn ich dich richtig
verstehe, dann meinst du, dass..." Das vermeidet, auf eine
Fight-Ebene von vermuteten Unterstellungen etc. zu rutschen.

Dies schützt nicht immer vor einem Dissenz. Manch einer findet schon
vorsichtig angedeutete Vermutungen so furchtbar, um die Messer zu
wetzen.

Na ich nicht. IMHO geht es darum, unterschiedliche Perspektiven auf die 
gemeinsame Welt diskutierbar zu machen. Vermutungen explizit zu machen, 
ist ein Vorschlag, das zu tun ohne die Messer zu wetzen.

Nach meiner Meinung sind Freiheit und Selbstentfaltung keine
Gegensätze. Sie können genau dann als Gegensätze _erscheinen_, wenn
gerade keine Selbstentfaltung - die die Anderen als
Entfaltungsvoraussetzung als Teil der eigenen Selbstentfaltung
versteht - vorliegt, sondern ist sozusagen das bürgerlichen
Pendant: die "Selbstverwirklichung". Diese geht in der Tat von
einem isolierten, eigentlich ungesellschaftlichen Individuum aus.
Hier trifft dann auch deine Kritik vollumfänglich zu.

Es wird mir nicht klar - angesichts der Kommunikationsstörung von
klein auf und der nicht in der eigenen Lebendigkeit verankerten Per-
sönlichkeit jedes Einzelnen in autoritären Gesellschaften und
Kulturen - welches Selbst sich hier entfalten soll und weshalb
Selbstentfaltung und -verwirklichung nicht als Synonyme zu behandeln
sind. Das vor- handene Selbst ist ein verstümmeltes, im Sinne der
Gesellschaft der Kampfhunde zugerichtetes Selbst.

Es ist aber dennoch ein Selbst, eine Person, eine Persönlichkeit. Und 
Selbstentfaltung ist genau auch eine Form, sich mit Zurichtungen 
auseinanderzusetzen und eigene Einschränkungen zu überwinden. 

Für mich beinhaltet Selbstentfaltung den bürgerlichen Pedant, ein
Selbst in Übereinstimmung mit den sittlichen Forderungen der äußeren
Ordnung, mit der uns  zu identifizieren wir erlernt haben, zu
entfalten. Selbstverwirklichung dagegen ist revolutionäre Forderung,
durch Analyse der Kommunikationsstörung, die unserer Entwicklung der
Persönlichkeit zugrundeliegt, zur ursprünglichen Autonomie der
Übereinstimmung mit allen Bedürfnissen, Wünschen und Emotionen zu
gelangen.

Na, das ist nur ein umgekehrte Wortverwendung: Im Oekonux-Kontext wird 
es umgekehrt benutzt.

Alleingänge im Sinne einer auf gemeinsamen Entscheidungen
egalitärer Natur über das gemeinsame Projekt aufsattelnden
Verantwortlichkeit sind massiv zu fördern, nicht Alleingänge,

Alleingänge im Sinne der Selbstentfaltung sind zu befördern. Sie
schließen die _individuelle_ Verantwortlichkeit mit ein. Meine
Intervention, die ich am 6.7.2006 begonnen habe, ist in diesem
Sinne ein Alleingang. Ich übernehme dafür die Verantwortung, lasse
mich kritisieren, diskutiere meinen Vorschlag mit anderen, beziehe
andere Vorschläge mit ein. Im traditionellen Verständnis ist es
dann eigentlich kein "Alleingang" mehr. Doch das übersieht, dass es
immer individuelle Menschen sind, die - "allein" im Sinne von
"individuell" - handeln: Sie entscheiden sich letztlich "allein",
etwas zu tun oder zu lassen. Und diese individuellen Menschen sind
zu stärken, sind zu ermutigen, so dass sie verantwortungsvoll
handeln können.

Existentiell gesehen ist jeder in seinem Kopf/Körper allein. Dies
setzt allerdings voraus, daß dieser Mensch nur eine, in seinem
Empfinden, Wünschen und Wollen verankerte Persönlichkeit entwickelt
hat. Ist diese Verankerung nicht gegeben, sind in einem und demselben
Körper beliebig viele Persönlichkeiten möglich - und liegt eine
schizoide Spaltung des Bewußtseins vor, so kann eine Persönlichkeit
in sich selbst zur Gruppe werden.

Uh, mit der Schizophrenie führst du jetzt eine ganz neue Baustelle ein, 
die selber eine ziemlich umfängliche Diskussion bedeutet. Das ist mir 
jetzt zu groß.

Da der Mensch allein im Sinne von individuell ist, geht der
Spiegelung gesellschaftlicher Verhältnisse die eigene Existenz - auch
als materielle Körperlichkeit - mit allen Wünschen, Bedürfnissen und
Emotionen voraus. Dies wird von vielen entfremdeten MarxistInnen
heftig negiert, da dadurch die Gesellschaft und das gesellschaftliche
Verhältnis nicht mehr Primat sein kann, sondern diese Rolle an den
konkret lebenden Menschen in seiner Körperlichkeit abtreten muß.

IMHO sind die Wünsche, Bedürfnisse und Emotionen die je individuelle 
Spiegelung der gesellschaftlichen Verhältnisse. Die Begründung dafür 
ist die gesellschaftlichen Natur des Menschen. Die individuelle 
Existenz ist gesamtgesellschaftlich vermittelt. Der konkret lebende 
Mensch in seiner Körperlichkeit ist ein gesellschaftlicher Mensch. So 
etwas wie eine bloße ungesellschaftliche Körperlichkeit gibt es IMHO 
nicht. Die Primatfrage finde ich an der Stelle nicht nützlich, weil sie 
vom Vermittlungsverhältnis von Mensch und Gesellschaft wegführt.

Entscheidet sich ein Mensch wirklich "allein", der eine bestimmte
Reflexion gesellschaftlicher Ordnung - des "Du sollst..." und des "Du
darfst nicht...." -  verinnerlicht hat, darin ergo erlernten
Prämissen seiner früheren Erzieher z.B. oder einer Partei bzw.
Ideologie folgt, die die von den Eltern vorgelebten Ordnung ein Stück
weit ersetzte, was "natürlich" und was "unnatürlich" ist? Handelt er
wirklich eigenver- antwortlich, wenn eine Ideologie oder die
verinnerlichte Ordnung der Eltern ihn darin bestärken muß, daß seine
Handlungsweise richtig ist? Ist er unter diesen Gegebenheiten
eigentlich frei?

Gute Fragen. Sie illustrieren aus meiner Sicht das gesellschaftliche 
Vermittlungsverhältnis des individuellen Menschen. Zu den gegebenen je 
individuellen Bedingungen - wozu Eltern, Partei, Ideologie, Biografie 
etc. gehören -, kann sich der Mensch bewusst (nicht normativ gemeint, 
eher im Sinne von "wissend") ins Verhältnis setzen. Diese Möglichkeit, 
sich zu den Bedingungen zu verhalten und Alternativen zu haben, macht 
die spezifische Freiheit des Menschen aus.

Was ich damit betone, ist die individuelle Verantwortung, was ich
tendenziell obsolet machen möchte, sind dir von dir
vorgeschlagenen "gemeinsamen Entscheidungen egalitärer Natur".

Warum beziehst Du andere Vorschläge ein, warum diskutierst Du
Deinen Vorschlag mit anderen?
Indem Du andere Vorschläge einbeziehst und Deinen Vorschlag anderen
zur Beurteilung und zur Diskussion mitteilst, handelst Du schon im
Sinne gemeinsamer Entscheidungen egalitärer Natur. Denn dies läßt
vermuten, daß Dir die Meinung anderer wichtig ist, daß Du auf ihr
Einverständnis mit Deinem Vorschlag hoffst und bereit bist,
Änderungen Deines Vorschlages zuzulassen oder ihn durch einen anderen
Vorschlag eines anderen Menschen zu ersetzen, damit auch andere
einverstanden sein können. Ist dies der Fall, so wird durch die
Entscheidung für diesen modifizierten Vorschlag eine ihrer Tendenz
nach egalitäre Entscheidung getroffen, die auf einem consensualem
Diskussionsergebnis beruht.

Ok, es handelt sich trotzdem nicht um eine gemeinsame Entscheidung, 
sondern um meine Entscheidung. Ich stelle meine Vorschläge zur 
Diskussion, lasse sie kritisieren, erwäge andere Vorschläge etc., weil 
ich mich entfalten will - und dazu brauche ich die Anderen. Sie sind 
meine Entfaltungsvoraussetzung, wie ich ihre bin. Konsens hilft mir da 
nicht viel weiter, eher, wenn andere meine Gründe verstehen und meine 
Entscheidung auf dieser Grundlage als meine Entscheidung akzeptieren 
können. Ich bin mehr an einer Dynamik der Unterschiedlichkeit als an 
einem kompromissigen statischen Konsens interessiert. Wie du merkst und 
im Archiv nachlesen kannst, bin ich kein Verfechter des Konsensprinzips 
(Debatte mit StefanMn).

Verstehe
ich dich richtig, dass du damit "demokratische Entscheidungen"
meinst? Meiner Meinung nach schließen sich Egalität und
Entscheidung aus.

Egalität bezieht sich in diesem Falle darauf, daß alle zur zu
treffenden Entscheidung angehört wurden. Der Konsens, mit welchem auf
vielen Mailinglisten Entscheidungen getroffen werden, ist in diesem
Sinne egalitär, da alle angehört und der Entscheidung zustimmen
müssen - oder deutlich machen müssen, einer Entscheidung nicht im
Wege zu stehen trotz anderer Meinung - , um zu einem Konsens zu
gelangen.

Konsens wurde hier auf ox bisher so definiert, dass dieser hergestellt 
ist, wenn niemand widersprechen muss. Das ist schon ein deutlicher 
Unterschied zu der Forderung, dass alle zustimmen müssen. In der Regel 
äußern sich die meisten nämlich nicht.

Wie gesagt bin ich nicht für das Konsensprinzip, weder für das einfache 
(keiner widerspricht) noch das erweiterte (alle stimmen zu). Aus meiner 
Sicht wird dadurch Selbstentfaltung und Selbstverantwortung nicht 
befördert - und um die geht es mir. In Praxi kann ich aber gut damit 
leben, dass es hier auf Ox angewendet wird (das einfache Verfahren).

Theoretisch diskutiert gibt es so etwas wie Egalität, was ja Gleichheit 
bedeutet, nicht. Wir sind sind nun mal nicht gleich. Es geht also nach 
meiner Meinung nicht darum, durch welches Verfahren auch immer eine 
(scheinbare) Gleichheit herzustellen, sondern darum, Ungleichheit in 
einem Prozess produktiv zu machen.

Vorschläge dazu hat Christoph Spehr in seiner "Theorie der freien 
Kooperation" entwickelt. Darum gab es eine größere Ox-Debatte (siehe 
Archiv) und ein Buch, in dem viele Beiträge auch von Ox'is erschienen 
sind: http://www.rosalux.de/cms/index.php?id=5594

Christophs Text zum Download: 
http://www.rosalux.de/cms/fileadmin/rls_uploads/pdfs/texte9.pdf
Mein Buchbeitrag als open theory Projekt: 
http://www.opentheory.org/dschungel/text.phtml

Ferner muß mit Selbstentfaltung in einem Rahmen des Endes der
eigenen Freiheit an der Freiheit der anderen (für Freiheit kann
auch Selbstentfaltung eingesetzt werden!) eine gewisse Aufgabe
und ein bestimmter Verzicht verbunden werden - der Verzicht auf
Positionen und Handlungen, die andere in ihrer Freiheit oder
Selbstentfaltung beeinträchtigen. Aufgabe und Verzicht stehen
deshalb nicht in Opposition zur Selbstentfaltung.

Vielleicht haben wir auch unterschiedlich Begriffe von "Verzicht",
also ich habe für den Begriff eigentlich keine Verwendung. Ich
versuche es zu erklären.

Ganz generell haben Menschen immer Handlungsalternativen: Sie
können so oder auch anders handeln. Oder sie können etwas tun oder
es lassen. Dieses "etwas nicht zu tun" ist für mich kein Verzicht,
sondern wie die anderen Alternativen auch eine begründete
Handlungsmöglichkeit.

Der "Verzicht" ist hier also umgangssprachlich für
"begründeterweise etwas nicht tun" zu verstehen und nicht als "ich
unterdrücke einen Wunsch".

Dein Beispiel habe ich gelöscht, weil es falsch gewählt war.

Deiner Meinung nach - meiner Meinung nach war es richtig (besser: 
passend). Beispiele erklären ohnehin nichts, sie illustrieren nur 
bereits gesagtes. Dein Beispiel illustriert IMHO nichts anderes 
(deswegen auch entfernt) - nur dass ich es nicht als "Verzicht" 
formulieren würde, sondern schlicht als begründermaßen bessere 
Handlungsmöglichkeit.

In früheren Mails habe ich deutlich zu machen versucht, daß die
Ursache des Konkurrenzverhaltens in die Analyse der Gesellschaft
einbezogen wer- den muß - und daß diese Ursache in der Reflexion über
die Natur des (Klein-)Kindes durch Erwachsene mit großer
Wahrscheinlichkeit vermutet werden kann.

In dem du die Untersuchung des Konkurrenzverhaltens der Analyse der 
Gesellschaft hinzufügen willst, betrachtest du sie eigentlich als 
getrennt - oder? Das sehe ich nicht so. Konkurrenzverhalten ist eine 
Handlungsmöglichkeit im Vermittlungsverhältnis zur Gesellschaft. Aber 
du hast recht: Das können viele nicht zusammen denken. Individuum und 
Gesellschaft sind in der bürgerlichen Denkform getrennte Dinge - so ein 
Begriff wie "gesellschaftliche Natur des Menschen" empfinden viele als 
verbalen Taschenspielertrick.

Ciao,
Stefan

-- 
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Organisation: http://www.oekonux.de/projekt/
Kontakt: projekt oekonux.de



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