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Re: [ox] Re: Verantwortung übernehmen!



Hallo Stefan,

Am Donnerstag, 13. Juli 2006 10:53 schrieb Stefan Meretz:
Die Diskussion um Selbstentfaltung ist sehr wichtig, sie macht einen
Kern von Oekonux aus. Deswegen gehe ich ausführlich auf deine Mail ein.
Ich möchte dich bitten, Vermutungen über meine Position auszuführen.
Also zum Beispiel zu schreiben: "Wenn ich dich richtig verstehe, dann
meinst du, dass..." Das vermeidet, auf eine Fight-Ebene von vermuteten
Unterstellungen etc. zu rutschen.

Dies schützt nicht immer vor einem Dissenz. Manch einer findet schon
vorsichtig angedeutete Vermutungen so furchtbar, um die Messer zu 
wetzen.

Nach meiner Meinung sind Freiheit und Selbstentfaltung keine Gegensätze.
Sie können genau dann als Gegensätze _erscheinen_, wenn gerade keine
Selbstentfaltung - die die Anderen als Entfaltungsvoraussetzung als
Teil der eigenen Selbstentfaltung versteht - vorliegt, sondern ist
sozusagen das bürgerlichen Pendant: die "Selbstverwirklichung". Diese
geht in der Tat von einem isolierten, eigentlich ungesellschaftlichen
Individuum aus. Hier trifft dann auch deine Kritik vollumfänglich zu.

Es wird mir nicht klar - angesichts der Kommunikationsstörung von
klein auf und der nicht in der eigenen Lebendigkeit verankerten Per-
sönlichkeit jedes Einzelnen in autoritären Gesellschaften und Kulturen
- welches Selbst sich hier entfalten soll und weshalb Selbstentfaltung 
und -verwirklichung nicht als Synonyme zu behandeln sind. Das vor-
handene Selbst ist ein verstümmeltes, im Sinne der Gesellschaft der
Kampfhunde zugerichtetes Selbst.

Für mich beinhaltet Selbstentfaltung den bürgerlichen Pedant, ein
Selbst in Übereinstimmung mit den sittlichen Forderungen der äußeren
Ordnung, mit der uns  zu identifizieren wir erlernt haben, zu entfalten.
Selbstverwirklichung dagegen ist revolutionäre Forderung, durch
Analyse der Kommunikationsstörung, die unserer Entwicklung der
Persönlichkeit zugrundeliegt, zur ursprünglichen Autonomie der 
Übereinstimmung mit allen Bedürfnissen, Wünschen und Emotionen
zu gelangen. 

Alleingänge im Sinne einer auf gemeinsamen Entscheidungen
egalitärer Natur über das gemeinsame Projekt aufsattelnden
Verantwortlichkeit sind massiv zu fördern, nicht Alleingänge,

Alleingänge im Sinne der Selbstentfaltung sind zu befördern. Sie
schließen die _individuelle_ Verantwortlichkeit mit ein. Meine
Intervention, die ich am 6.7.2006 begonnen habe, ist in diesem Sinne
ein Alleingang. Ich übernehme dafür die Verantwortung, lasse mich
kritisieren, diskutiere meinen Vorschlag mit anderen, beziehe andere
Vorschläge mit ein. Im traditionellen Verständnis ist es dann
eigentlich kein "Alleingang" mehr. Doch das übersieht, dass es immer
individuelle Menschen sind, die - "allein" im Sinne von "individuell" -
handeln: Sie entscheiden sich letztlich "allein", etwas zu tun oder zu
lassen. Und diese individuellen Menschen sind zu stärken, sind zu
ermutigen, so dass sie verantwortungsvoll handeln können.

Existentiell gesehen ist jeder in seinem Kopf/Körper allein. Dies setzt
allerdings voraus, daß dieser Mensch nur eine, in seinem Empfinden,
Wünschen und Wollen verankerte Persönlichkeit entwickelt hat. Ist
diese Verankerung nicht gegeben, sind in einem und demselben Körper
beliebig viele Persönlichkeiten möglich - und liegt eine schizoide 
Spaltung des Bewußtseins vor, so kann eine Persönlichkeit in sich
selbst zur Gruppe werden.

Da der Mensch allein im Sinne von individuell ist, geht der Spiegelung 
gesellschaftlicher Verhältnisse die eigene Existenz - auch als materielle 
Körperlichkeit - mit allen Wünschen, Bedürfnissen und Emotionen 
voraus. Dies wird von vielen entfremdeten MarxistInnen heftig negiert,
da dadurch die Gesellschaft und das gesellschaftliche Verhältnis
nicht mehr Primat sein kann, sondern diese Rolle an den konkret
lebenden Menschen in seiner Körperlichkeit abtreten muß. - Diesem
Primat entwachsen zwei eigenständige historische Bewegungen im
dialektischen Verhältnis zueinander. Zum einen die Bewegung der
Produktion als tätige Auseinandersetzung des Menschen mit der
Natur, symbolisiert in der Hand, zum anderen die Bewegung der 
Reflexion als tätige Auseinandersetzung des Menschen mit dem
Ergebnis seiner Wahrnehmung von der Natur, symbolisiert durch 
seinen Kopf bzw. sein Gehirn.

Entscheidet sich ein Mensch wirklich "allein", der eine bestimmte
Reflexion gesellschaftlicher Ordnung - des "Du sollst..." und des "Du 
darfst nicht...." -  verinnerlicht hat, darin ergo erlernten Prämissen
seiner früheren Erzieher z.B. oder einer Partei bzw. Ideologie folgt, die 
die von den Eltern vorgelebten Ordnung ein Stück weit ersetzte, was 
"natürlich" und was "unnatürlich" ist? Handelt er wirklich eigenver-
antwortlich, wenn eine Ideologie oder die verinnerlichte Ordnung der
Eltern ihn darin bestärken muß, daß seine Handlungsweise richtig ist?
Ist er unter diesen Gegebenheiten eigentlich frei?

Was ich damit betone, ist die individuelle Verantwortung, was ich
tendenziell obsolet machen möchte, sind dir von dir
vorgeschlagenen "gemeinsamen Entscheidungen egalitärer Natur".

Warum beziehst Du andere Vorschläge ein, warum diskutierst Du
Deinen Vorschlag mit anderen?

Indem Du andere Vorschläge einbeziehst und Deinen Vorschlag anderen
zur Beurteilung und zur Diskussion mitteilst, handelst Du schon im Sinne
gemeinsamer Entscheidungen egalitärer Natur. Denn dies läßt vermuten,
daß Dir die Meinung anderer wichtig ist, daß Du auf ihr Einverständnis
mit Deinem Vorschlag hoffst und bereit bist, Änderungen Deines Vorschlages
zuzulassen oder ihn durch einen anderen Vorschlag eines anderen Menschen
zu ersetzen, damit auch andere einverstanden sein können. Ist dies der Fall, 
so wird durch die Entscheidung für diesen modifizierten Vorschlag eine ihrer 
Tendenz nach egalitäre Entscheidung getroffen, die auf einem consensualem
Diskussionsergebnis beruht. 

Verstehe 
ich dich richtig, dass du damit "demokratische Entscheidungen" meinst?
Meiner Meinung nach schließen sich Egalität und Entscheidung aus.

Egalität bezieht sich in diesem Falle darauf, daß alle zur zu treffenden
Entscheidung angehört wurden. Der Konsens, mit welchem auf vielen
Mailinglisten Entscheidungen getroffen werden, ist in diesem Sinne
egalitär, da alle angehört und der Entscheidung zustimmen müssen
- oder deutlich machen müssen, einer Entscheidung nicht im Wege
zu stehen trotz anderer Meinung - , um zu einem Konsens zu gelangen.

Soziale Strukturen geraten in Gefahr, so schreibst Du, Stefan
Merten, wenn die bedeutende(n) Person(en) die Struktur verlassen -
im Umkehrschluß bedeutet dies, daß die soziale Struktur in ihrem
Verhalten, ihrer Themen- wahl und ihrer Diskussionsführung sich an
der/den bedeutende(n) Perso- n(en) ausrichten muß, dieser bzw.
diesen gefallen muß, um diese bzw. diesen in der sozialen Struktur
zu halten.

Meine Meinung dazu ist: Wenn sich jede/r in dem oben beschriebenen
Sinne an ihrer/seiner Selbstentfaltung ausrichtet, dann sind die
Andere als Entfaltungsbedingung für mich automatisch mit im Blick,
dann empfinde ich auch automatisch Verantwortung für den
gemeinsamen Prozess wie für mich. Und dann braucht auch keine
"soziale Struktur" (da ist doch keine Entität) sich an irgendwem
etwa unter Aufgabe anderer Wünsche etc. ausrichten. Das Leitbild
ist nicht Altruismus, Aufgabe und Verzicht, sondern
Selbstentfaltung.

Tatsächlich jedoch ist der oben stehende Schluß nur eine Beschreibung
des gewöhnlichen Prozesses in unstrukturierten Gruppen. In diesen
richten sich weniger bedeutende Personen an bedeutenderen Personen
aus - und sei dies nur, daß bestimmte Fragen nicht gestellt werden,
man seine unfertigen Theorien nicht einzubringen wagt, weil
bedeutendere Persönlichkeiten sehr viel ausgefeiltere  Theorien zum
Projekt beisteuern oder beigesteuert haben, man nicht auffallen oder
anecken mag etc.

Ok, das ist eine Beschreibung, die vermutlich zutrifft. Diese
Beschreibung sollten wir jedoch nicht umstandslos zur Theorie wenden in
dem Sinne, dass das immer so sei. Sondern wir sollten sie kritisch
reflektieren und überlegen, was wir tun können, um es jeder Person zu
ermöglichen, sich in Oekonux einzubringen, um etwa so etwas
wie "bedeutend/weniger bedeutend" nicht entstehen zu lassen, so dass
manche meinen, sich daran ausrichten zu müssen etc.

Genau dies war mein Anliegen. Gegenmaßnahmen sind nur durch
gemeinsame Organisation eines anderen Miteinanders möglich, d.h.,
durch Entstehen einer strukturierten Gruppe.

Ferner muß mit Selbstentfaltung in einem Rahmen des Endes der
eigenen Freiheit an der Freiheit der anderen (für Freiheit kann auch
Selbstentfaltung eingesetzt werden!) eine gewisse Aufgabe und ein
bestimmter Verzicht verbunden werden - der Verzicht auf Positionen
und Handlungen, die andere in ihrer Freiheit oder Selbstentfaltung
beeinträchtigen. Aufgabe und Verzicht stehen deshalb nicht in
Opposition zur Selbstentfaltung.

Vielleicht haben wir auch unterschiedlich Begriffe von "Verzicht", also
ich habe für den Begriff eigentlich keine Verwendung. Ich versuche es
zu erklären.

Ganz generell haben Menschen immer Handlungsalternativen: Sie können so
oder auch anders handeln. Oder sie können etwas tun oder es lassen.
Dieses "etwas nicht zu tun" ist für mich kein Verzicht, sondern wie die
anderen Alternativen auch eine begründete Handlungsmöglichkeit.

Der "Verzicht" ist hier also umgangssprachlich für "begründeterweise
etwas nicht tun" zu verstehen und nicht als "ich unterdrücke einen
Wunsch". 

Dein Beispiel habe ich gelöscht, weil es falsch gewählt war. Hinter einer
Handlungsweise verbergen sich häufig bestimmte Bedürfnisse oder
Wünsche. Verzichte ich darauf, Menschen anderer Hautfarbe z.B. als 
minderbemittelt und nicht gleichwertig anzusehen, so ist dies nicht nur 
eine begründete Handlungsmöglichkeit unter vielen, sondern ich verzichte 
darauf, mein eigenes Selbstbewußtsein auf Kosten dieser Menschen zu 
steigern - ich versage mir also einen Wunsch, jetzt zu einem gesteigerten 
Selbstwertgefühl zu gelangen.

Gleichzeitig - da gebe ich Dir recht - tue ich dies aus einem begründeten
bzw. begründbaren Interesse heraus, von anderen nicht ebenso aufgrund
einer von mir nicht austauschbaren Eigenschaft (meine Hautfarbe, meine 
sexuelle Orientierung, Behinderung etc.) als ungleichwertig behandelt zu 
werden.  Und dem Interesse, mein Gegenüber als Bereicherung meiner
Selbst zu erfahren....

In früheren Mails habe ich deutlich zu machen versucht, daß die Ursache
des Konkurrenzverhaltens in die Analyse der Gesellschaft einbezogen wer-
den muß - und daß diese Ursache in der Reflexion über die Natur des 
(Klein-)Kindes durch Erwachsene mit großer Wahrscheinlichkeit vermutet 
werden kann.

Soweit erst einmal.

heydo,
Jacob
________________________________
Web-Site: http://www.oekonux.de/
Organisation: http://www.oekonux.de/projekt/
Kontakt: projekt oekonux.de



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