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Re: [ox] Re: Verantwortung übernehmen!



Hallo Stefan,

Am Freitag, 14. Juli 2006 11:11 schrieb Stefan Meretz:
auszuführen. Also zum Beispiel zu schreiben: "Wenn ich dich richtig
verstehe, dann meinst du, dass..." Das vermeidet, auf eine
Fight-Ebene von vermuteten Unterstellungen etc. zu rutschen.

Dies schützt nicht immer vor einem Dissenz. Manch einer findet schon
vorsichtig angedeutete Vermutungen so furchtbar, um die Messer zu
wetzen.

Na ich nicht. IMHO geht es darum, unterschiedliche Perspektiven auf die
gemeinsame Welt diskutierbar zu machen. Vermutungen explizit zu machen,
ist ein Vorschlag, das zu tun ohne die Messer zu wetzen.

Dem Du dann anschließend nicht ganz gerecht geworden bist.

Nach meiner Meinung sind Freiheit und Selbstentfaltung keine
Gegensätze. Sie können genau dann als Gegensätze _erscheinen_, wenn
gerade keine Selbstentfaltung - die die Anderen als
Entfaltungsvoraussetzung als Teil der eigenen Selbstentfaltung
versteht - vorliegt, sondern ist sozusagen das bürgerlichen
Pendant: die "Selbstverwirklichung". Diese geht in der Tat von
einem isolierten, eigentlich ungesellschaftlichen Individuum aus.
Hier trifft dann auch deine Kritik vollumfänglich zu.

Es wird mir nicht klar - angesichts der Kommunikationsstörung von
klein auf und der nicht in der eigenen Lebendigkeit verankerten Per-
sönlichkeit jedes Einzelnen in autoritären Gesellschaften und
Kulturen - welches Selbst sich hier entfalten soll und weshalb
Selbstentfaltung und -verwirklichung nicht als Synonyme zu behandeln
sind. Das vor- handene Selbst ist ein verstümmeltes, im Sinne der
Gesellschaft der Kampfhunde zugerichtetes Selbst.

Es ist aber dennoch ein Selbst, eine Person, eine Persönlichkeit. Und
Selbstentfaltung ist genau auch eine Form, sich mit Zurichtungen
auseinanderzusetzen und eigene Einschränkungen zu überwinden.

Das es keine Persönlichkeit wäre, wurde nirgends behauptet - es 
wurde lediglich ausgesagt, daß  dies eine ihrer Lebendigkeit entfremdete,
verstümmelte Persönlichkeit sei, die zu überwinden und durch einen
Prozess einer Entwicklung einer anderen Persönlichkeit zu ersetzen sei.
Die entfremdete Persönlichkeit etabliert Bedürfnisse, die nur in einer 
Kampfhundegesellschaft zu befriedigen sind, zwingt unbewußt zum
Kampfhundeverhalten - sie ist weder eine Zurichtung noch eine 
Einschränkung bzw. wird nicht bewußt als solche erlebt, sondern eine 
schlicht auf Furcht vor der eigenen Lebendigkeit, Hilflosigkeit und 
Ohnmacht entwickelte, daher nicht in der eigenen Lebendigkeit verankerte 
Persönlichkeit. Wenn die Mauer auf Sand gebaut ist, hilft es nicht, diese 
Mauer auszubessern, sondern nur, sie abzureißen, um sie auf einem 
besseren Fundament zu errichten, um ein Bild zur Illustration dessen, 
was gemeint ist, zu benutzen. 

Alleingänge im Sinne einer auf gemeinsamen Entscheidungen
egalitärer Natur über das gemeinsame Projekt aufsattelnden
Verantwortlichkeit sind massiv zu fördern, nicht Alleingänge,

Alleingänge im Sinne der Selbstentfaltung sind zu befördern. Sie
schließen die _individuelle_ Verantwortlichkeit mit ein. Meine
Intervention, die ich am 6.7.2006 begonnen habe, ist in diesem
Sinne ein Alleingang. Ich übernehme dafür die Verantwortung, lasse
mich kritisieren, diskutiere meinen Vorschlag mit anderen, beziehe
andere Vorschläge mit ein. Im traditionellen Verständnis ist es
dann eigentlich kein "Alleingang" mehr. Doch das übersieht, dass es
immer individuelle Menschen sind, die - "allein" im Sinne von
"individuell" - handeln: Sie entscheiden sich letztlich "allein",
etwas zu tun oder zu lassen. Und diese individuellen Menschen sind
zu stärken, sind zu ermutigen, so dass sie verantwortungsvoll
handeln können.

Existentiell gesehen ist jeder in seinem Kopf/Körper allein. Dies
setzt allerdings voraus, daß dieser Mensch nur eine, in seinem
Empfinden, Wünschen und Wollen verankerte Persönlichkeit entwickelt
hat. Ist diese Verankerung nicht gegeben, sind in einem und demselben
Körper beliebig viele Persönlichkeiten möglich - und liegt eine
schizoide Spaltung des Bewußtseins vor, so kann eine Persönlichkeit
in sich selbst zur Gruppe werden.

Uh, mit der Schizophrenie führst du jetzt eine ganz neue Baustelle ein,
die selber eine ziemlich umfängliche Diskussion bedeutet. Das ist mir
jetzt zu groß.

Aber genau diese Baustelle ist für das Thema wesentlich.

Da der Mensch allein im Sinne von individuell ist, geht der
Spiegelung gesellschaftlicher Verhältnisse die eigene Existenz - auch
als materielle Körperlichkeit - mit allen Wünschen, Bedürfnissen und
Emotionen voraus. Dies wird von vielen entfremdeten MarxistInnen
heftig negiert, da dadurch die Gesellschaft und das gesellschaftliche
Verhältnis nicht mehr Primat sein kann, sondern diese Rolle an den
konkret lebenden Menschen in seiner Körperlichkeit abtreten muß.

IMHO sind die Wünsche, Bedürfnisse und Emotionen die je individuelle
Spiegelung der gesellschaftlichen Verhältnisse. Die Begründung dafür
ist die gesellschaftlichen Natur des Menschen. Die individuelle
Existenz ist gesamtgesellschaftlich vermittelt. Der konkret lebende
Mensch in seiner Körperlichkeit ist ein gesellschaftlicher Mensch. So
etwas wie eine bloße ungesellschaftliche Körperlichkeit gibt es IMHO
nicht. Die Primatfrage finde ich an der Stelle nicht nützlich, weil sie
vom Vermittlungsverhältnis von Mensch und Gesellschaft wegführt.

Menschliche Körperlichkeit beinhaltet die Fähigkeit zu Wünschen, 
Bedürfnissen und Emotionen. Selbst ein neugeborener Mensch nutzt
schon diese Fähigkeit - unabhängig davon, ob er in eine Gruppe 
hineingeboren wurde oder nicht. Auch sogenannte Wolfskinder waren
zu Emotionen, Wünschen und Bedürfnissen fähig. Die umgebende 
Gruppe spiegelt ihm entweder den vollständigen Satz seiner Wünsche, 
Emotionen und Bedürfnisse oder nur eine Auswahl, wodurch eine auf 
der Furcht vor der eigenen, bedrohlichen Lebendigkeit beruhende 
Persönlichkeit entwickelt wird, die in der eigenen Lebendigkeit nicht 
verankert ist.

Nicht die anfänglichen Wünsche, Bedürfnisse und Emotionen, sondern
die aus der Auswahl dieser erwachsende Persönlichkeit - und alle dieser 
der Auswahl erwachsenden Persönlichkeit entwachsenden Emotionen,
Wünsche und Bedürfnisse -  sind in unserer autoritären Kultur 
gesellschaftlich vermittelt. Gesellschaftlich vermittelte Emotionen,
Bedürfnisse und Wünsche setzen eine Identifikation mit einer äußeren
Ordnung voraus, die als wesentlicher als das innere Erleben angesehen
werden muß, um Relevanz für die spätere Persönlichkeit zu besitzen.
Kein Mensch wird mit dieser Identifikation schon geboren, sondern 
diese Identifikation wird nach der Geburt erlernt. Nur so sind die 
verschiedenen Freiheitsgrade von Gesellschaften überhaupt denkbar,
auf verschiedene Situationen angemessen reagieren zu können. 

Und noch ein logisches Argument: Spiegelung setzt einen eigenständigen 
Spiegel voraus, in dem sich das Gespiegelte abbilden kann. Negiert man 
durch die Spiegelungsthese den eigenständigen Spiegel, kann nichts 
gespiegelt oder auf dem Spiegel abgebildet werden. Die Behauptung, einer 
Spiegelung gehe ein eigenständiger Spiegel voraus - hier die Existenz
des Menschen - kann nicht durch die Behauptung, alles sei nur eine
Spiegelung der Gesellschaft, widerlegt werden, ohne die eigene 
Argumentation ins Absurde zu verschieben.

Entscheidet sich ein Mensch wirklich "allein", der eine bestimmte
Reflexion gesellschaftlicher Ordnung - des "Du sollst..." und des "Du
darfst nicht...." -  verinnerlicht hat, darin ergo erlernten
Prämissen seiner früheren Erzieher z.B. oder einer Partei bzw.
Ideologie folgt, die die von den Eltern vorgelebten Ordnung ein Stück
weit ersetzte, was "natürlich" und was "unnatürlich" ist? Handelt er
wirklich eigenver- antwortlich, wenn eine Ideologie oder die
verinnerlichte Ordnung der Eltern ihn darin bestärken muß, daß seine
Handlungsweise richtig ist? Ist er unter diesen Gegebenheiten
eigentlich frei?

Gute Fragen. Sie illustrieren aus meiner Sicht das gesellschaftliche
Vermittlungsverhältnis des individuellen Menschen. Zu den gegebenen je
individuellen Bedingungen - wozu Eltern, Partei, Ideologie, Biografie
etc. gehören -, kann sich der Mensch bewusst (nicht normativ gemeint,
eher im Sinne von "wissend") ins Verhältnis setzen. Diese Möglichkeit,
sich zu den Bedingungen zu verhalten und Alternativen zu haben, macht
die spezifische Freiheit des Menschen aus.

Sie illustrieren das gesellschaftliche Vermittlungsverhältnis der
entfremdeten Persönlichkeit des individuellen Menschen, da die
Fähigkeit zu Emotionen, Wünschen und Bedürfnissen außerhalb 
der Gesellschaft nicht plötzlich verloren geht.

Was ich damit betone, ist die individuelle Verantwortung, was ich
tendenziell obsolet machen möchte, sind dir von dir
vorgeschlagenen "gemeinsamen Entscheidungen egalitärer Natur".

Warum beziehst Du andere Vorschläge ein, warum diskutierst Du
Deinen Vorschlag mit anderen?
Indem Du andere Vorschläge einbeziehst und Deinen Vorschlag anderen
zur Beurteilung und zur Diskussion mitteilst, handelst Du schon im
Sinne gemeinsamer Entscheidungen egalitärer Natur. Denn dies läßt
vermuten, daß Dir die Meinung anderer wichtig ist, daß Du auf ihr
Einverständnis mit Deinem Vorschlag hoffst und bereit bist,
Änderungen Deines Vorschlages zuzulassen oder ihn durch einen anderen
Vorschlag eines anderen Menschen zu ersetzen, damit auch andere
einverstanden sein können. Ist dies der Fall, so wird durch die
Entscheidung für diesen modifizierten Vorschlag eine ihrer Tendenz
nach egalitäre Entscheidung getroffen, die auf einem consensualem
Diskussionsergebnis beruht.

Ok, es handelt sich trotzdem nicht um eine gemeinsame Entscheidung,
sondern um meine Entscheidung. Ich stelle meine Vorschläge zur
Diskussion, lasse sie kritisieren, erwäge andere Vorschläge etc., weil
ich mich entfalten will - und dazu brauche ich die Anderen. Sie sind
meine Entfaltungsvoraussetzung, wie ich ihre bin. Konsens hilft mir da
nicht viel weiter, eher, wenn andere meine Gründe verstehen und meine
Entscheidung auf dieser Grundlage als meine Entscheidung akzeptieren
können. Ich bin mehr an einer Dynamik der Unterschiedlichkeit als an
einem kompromissigen statischen Konsens interessiert. Wie du merkst und
im Archiv nachlesen kannst, bin ich kein Verfechter des Konsensprinzips
(Debatte mit StefanMn).

Und die Anderen?

Andere verstehen Deine Gründe und Du willst die Gründe anderer verstehen.
Dadurch, daß andere Deine Entscheidung akzeptieren sollen, Du jedoch
nichts verlauten läßt, ihre Entscheidung als ihre zu akzeptieren, etablierst
Du einen versteckten absolut diktatorischen Anspruch und führst durch
die Hintertür eine Hierarchie anhand der Akzeptanz Deiner Entscheidung
als ausschließlich Deiner ein. Andere dürfen Dich kritisieren und Dich durch
ihre Kritik bereichern, aber sie sollen allein Dir die Entscheidung überlassen
und diese Entscheidung als Deine akzeptieren.

Zur offenen Hierarchie und Herrschaft gerät dieses Verhalten allerdings
erst dann, wenn dieses auf einer Ungleichheit des Zuganges zur dem
Miteinander zugrundeliegenden Technik beruht. Die durch die Technik
gegebene Zugangsungleichheit wird nicht organisatorisch neutralisiert.

Verstehe
ich dich richtig, dass du damit "demokratische Entscheidungen"
meinst? Meiner Meinung nach schließen sich Egalität und
Entscheidung aus.

Egalität bezieht sich in diesem Falle darauf, daß alle zur zu
treffenden Entscheidung angehört wurden. Der Konsens, mit welchem auf
vielen Mailinglisten Entscheidungen getroffen werden, ist in diesem
Sinne egalitär, da alle angehört und der Entscheidung zustimmen
müssen - oder deutlich machen müssen, einer Entscheidung nicht im
Wege zu stehen trotz anderer Meinung - , um zu einem Konsens zu
gelangen.

Konsens wurde hier auf ox bisher so definiert, dass dieser hergestellt
ist, wenn niemand widersprechen muss. Das ist schon ein deutlicher
Unterschied zu der Forderung, dass alle zustimmen müssen. In der Regel
äußern sich die meisten nämlich nicht.

Das wir da beide formulieren "das niemand widersprechen muß" fällt
Dir nicht auf? Ein Mensch kann erst feststellen, daß er nicht widersprechen
muß, wenn er mitlesen und das Gelesene verstanden hat. Dies kann man
auch als Anhören aller deuten, da er so die Chance, Stellung zu nehmen, 
erhält. Seine Nichtwahrnehmung dieser Chance wird als Zustimmung 
gewertet, da er ja seine Chance ergreifen und widersprechen würde, wenn 
er die Entscheidung nicht akzeptieren kann. Durch Nichtbeteiligung 
macht er deutlich, einem Konsens der Anderen nicht im Wege zu stehen.
Vorn oder hinten herum kommt man zum gleichen Ergebnis: alle werden
gehört und alle tragen die gemeinsamen Entscheidungen - oder sie
widersprechen diesen. 

Theoretisch diskutiert gibt es so etwas wie Egalität, was ja Gleichheit
bedeutet, nicht. Wir sind sind nun mal nicht gleich. Es geht also nach
meiner Meinung nicht darum, durch welches Verfahren auch immer eine
(scheinbare) Gleichheit herzustellen, sondern darum, Ungleichheit in
einem Prozess produktiv zu machen.

Offensichtlich hast Du mir nicht zugehört. Die Gleichheit der Chance
ist nicht synonym zur Gleichheit von Menschen.

Im Rest haben wir halt einen unüberwindlichen Dissenz.

Gruss,
Jacob
________________________________
Web-Site: http://www.oekonux.de/
Organisation: http://www.oekonux.de/projekt/
Kontakt: projekt oekonux.de



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