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Gesellschaftliche Natur oder nicht (was: Re: [ox] Re: Verantwortung übernehmen!)



Hi Jac,

nach meinem Endruck kommen wir jetzt zu ein paar wesentlichen 
Unterschieden. Das ist nicht verkehrt, man muss sich nicht über alles 
einigen. Unterschiede herauszuarbeiten, ist auch ein Fortschritt.

Na ich nicht. IMHO geht es darum, unterschiedliche Perspektiven auf
die gemeinsame Welt diskutierbar zu machen. Vermutungen explizit zu
machen, ist ein Vorschlag, das zu tun ohne die Messer zu wetzen.

Dem Du dann anschließend nicht ganz gerecht geworden bist.

Nicht? Sag einfach Bescheid:-)

Übrigens: IMHO heisst soviel wie "meines Erachtens", wörtlich "in my 
humble opinion".

Am Sunday 16 July 2006 07:39 schrieb Jac:
wurde lediglich ausgesagt, daß  dies eine ihrer Lebendigkeit
entfremdete, verstümmelte Persönlichkeit sei, die zu überwinden und
durch einen Prozess einer Entwicklung einer anderen Persönlichkeit zu
ersetzen sei. Die entfremdete Persönlichkeit etabliert Bedürfnisse,
die nur in einer Kampfhundegesellschaft zu befriedigen sind, zwingt
unbewußt zum Kampfhundeverhalten

Nee, nichts und niemand zwingt, ich kann auch "nein" sagen. Und IMHO 
gibt es auch keine "entfremdete Persönlichkeit", wir sollten uns vor 
Typologisierungen hüten. Es sind immer noch die Verhältnisse, die 
entfremdend sind, aber wie ich mich dazu verhalte, ist nicht 
ausgemacht. Es mag sein, dass die Mehrheit auf so reagiert wie du 
beschreibst - aber das ist nicht vorgegeben und es ist vor allem keine 
Eigenschaft von Personen.

- sie ist weder eine Zurichtung noch 
eine Einschränkung bzw. wird nicht bewußt als solche erlebt, sondern
eine schlicht auf Furcht vor der eigenen Lebendigkeit, Hilflosigkeit
und Ohnmacht entwickelte, daher nicht in der eigenen Lebendigkeit
verankerte Persönlichkeit.

Ich halte es eher viel praktischer für eine Furcht vor Bedingungen, 
unter denen mir Handlungsmöglichkeiten genommen werden.

Menschliche Körperlichkeit beinhaltet die Fähigkeit zu Wünschen,
Bedürfnissen und Emotionen.

Ja, klar, es ist aber nicht bloß die Körperlichkeit, sondern der ganze 
gesellschaftliche Mensch. Das ist ein Unterschied.

Selbst ein neugeborener Mensch nutzt 
schon diese Fähigkeit - unabhängig davon, ob er in eine Gruppe
hineingeboren wurde oder nicht. Auch sogenannte Wolfskinder waren
zu Emotionen, Wünschen und Bedürfnissen fähig. Die umgebende
Gruppe spiegelt ihm entweder den vollständigen Satz seiner Wünsche,
Emotionen und Bedürfnisse oder nur eine Auswahl, wodurch eine auf
der Furcht vor der eigenen, bedrohlichen Lebendigkeit beruhende
Persönlichkeit entwickelt wird, die in der eigenen Lebendigkeit nicht
verankert ist.

Die Gruppe ist "schuld"? Diese Vermutung ist IMHO nicht zu halten. Was 
meinst du mit "eigener Lebendigkeit" - ist das so eine Art 
ursprüngliche, bloß körperliche, also ungesellschaftliche Eigentlichkeit 
des Menschen?

Nicht die anfänglichen Wünsche, Bedürfnisse und Emotionen, sondern
die aus der Auswahl dieser erwachsende Persönlichkeit - und alle
dieser der Auswahl erwachsenden Persönlichkeit entwachsenden
Emotionen, Wünsche und Bedürfnisse -  sind in unserer autoritären
Kultur gesellschaftlich vermittelt.

Das sehe ich anders: Es gibt keinen ursprünglich ungesellschaftlichen 
Menschen, sondern die menschliche Lebenstätigkeit mit allen 
Bedürfnissen, Emotionen und Motivationen ist von Anbeginn an 
gesellschaftlich vermittelt.

Es gibt m.E. keinen Menschen einer "reinen Ursprünglichkeit", der 
dann versaut wird. Es gibt auch nicht so etwas wie einen Satz 
ursprünglicher (unversauter) Bedürfnisse etc., sondern diese sind ja 
gerade Resultat der individuellen Auseinandersetzung des Menschen mit 
der Welt. Sie spiegeln also von Anbeginn an die je individuelle Art und 
Weise der gesellschaftlichen Vermittlung wider.

Gesellschaftlich vermittelte 
Emotionen, Bedürfnisse und Wünsche setzen eine Identifikation mit
einer äußeren Ordnung voraus,

Nein, gesellschaftliche Vermittlung setzt IMHO nichts voraus.

die als wesentlicher als das innere 
Erleben angesehen werden muß, um Relevanz für die spätere
Persönlichkeit zu besitzen. Kein Mensch wird mit dieser 
Identifikation schon geboren, sondern diese Identifikation wird nach
der Geburt erlernt.

Identifikation ist nur eine Möglichkeit. Aus meiner Sicht ist das 
wesentliche die Erweiterung der Handlungsfähigkeit des wachsenden 
Menschen, um schrittweise mehr Verfügung über je seine 
Lebensbedingungen zu gewinnen. Wie der individuelle Mensch das jeweils 
versucht zu erreichen, ist überhaupt nicht vorgegeben. Das kann 
temporär auch mal der (untaugliche) Versuch einer Identifikation mit 
irgendwem oder irgendwas sein, aber auch das ist nicht vorgegeben.

Nur so sind die verschiedenen Freiheitsgrade von 
Gesellschaften überhaupt denkbar, auf verschiedene Situationen
angemessen reagieren zu können.

Durch Identifikation?

Und noch ein logisches Argument: Spiegelung setzt einen
eigenständigen Spiegel voraus, in dem sich das Gespiegelte abbilden
kann. Negiert man durch die Spiegelungsthese den eigenständigen
Spiegel, kann nichts gespiegelt oder auf dem Spiegel abgebildet
werden. Die Behauptung, einer Spiegelung gehe ein eigenständiger
Spiegel voraus - hier die Existenz des Menschen - kann nicht durch
die Behauptung, alles sei nur eine Spiegelung der Gesellschaft,
widerlegt werden, ohne die eigene Argumentation ins Absurde zu
verschieben.

Das hast du missverstanden. Ich habe geschrieben: "...Bedürfnisse und 
Emotionen (sind) die je individuelle Spiegelung der gesellschaftlichen 
Verhältnisse. Die Begründung dafür ist die gesellschaftlichen Natur des 
Menschen. Die individuelle Existenz ist gesamtgesellschaftlich 
vermittelt."

Ich verwende Spiegelung im Sinne der Widerspiegelung (ja, hätte ich so 
schreiben sollen). Es gibt unterschiedliche Formen der Widerspiegelung: 
Die unmittelbare Widerspiegelung des physikalischen Spiegels (die ich 
hier nicht meine) und die vermittelte Widerspiegelung, die ich meine.

Ein Beispiel dazu: Die evolutionäre Herausbildung der Flossen des 
Fisches spiegeln die physikalischen Eigenschaften des Wassers wider. 
Die Vermittlungsinstanz ist hier der Selektionsvorteil in der Evolution, 
den eine verbesserte Fortbewegung bietet. Verbesserte Fortbewegung 
kommt nur zustande, wenn die Flossenform den Eigenschaften des Wassers 
so angemessen ist, dass mit ihnen ein Rückstoß erzeugt werden kann. 
Etc.

Entsprechend beim Menschen: Es gibt keine unvermittelten Handlungen. 
Bedürfnisse, Emotionen und Motivationen spiegeln je meine 
gesellschaftlich vermittelte Existenz wider. Es handelt sich also nicht 
um eine "Einprägung" etc. nach dem Reiz-Reaktions- oder 
Input-Output-Schema der traditionellen Psychologie, sondern um (m)eine 
aktive Lebenstätigkeit.

Gute Fragen. Sie illustrieren aus meiner Sicht das
gesellschaftliche Vermittlungsverhältnis des individuellen
Menschen. Zu den gegebenen je individuellen Bedingungen - wozu
Eltern, Partei, Ideologie, Biografie etc. gehören -, kann sich der
Mensch bewusst (nicht normativ gemeint, eher im Sinne von
"wissend") ins Verhältnis setzen. Diese Möglichkeit, sich zu den
Bedingungen zu verhalten und Alternativen zu haben, macht die
spezifische Freiheit des Menschen aus.

Sie illustrieren das gesellschaftliche Vermittlungsverhältnis der
entfremdeten Persönlichkeit des individuellen Menschen, da die
Fähigkeit zu Emotionen, Wünschen und Bedürfnissen außerhalb
der Gesellschaft nicht plötzlich verloren geht.

S.o.: Es gibt keinen Typ "entfremdete Persönlichkeit".
Und es gibt auch kein "außerhalb der Gesellschaft".

Ok, es handelt sich trotzdem nicht um eine gemeinsame Entscheidung,
sondern um meine Entscheidung. Ich stelle meine Vorschläge zur
Diskussion, lasse sie kritisieren, erwäge andere Vorschläge etc.,
weil ich mich entfalten will - und dazu brauche ich die Anderen.
Sie sind meine Entfaltungsvoraussetzung, wie ich ihre bin. Konsens
hilft mir da nicht viel weiter, eher, wenn andere meine Gründe
verstehen und meine Entscheidung auf dieser Grundlage als meine
Entscheidung akzeptieren können. Ich bin mehr an einer Dynamik der
Unterschiedlichkeit als an einem kompromissigen statischen Konsens
interessiert. Wie du merkst und im Archiv nachlesen kannst, bin ich
kein Verfechter des Konsensprinzips (Debatte mit StefanMn).

Und die Anderen?
Andere verstehen Deine Gründe und Du willst die Gründe anderer
verstehen. Dadurch, daß andere Deine Entscheidung akzeptieren sollen,
Du jedoch nichts verlauten läßt, ihre Entscheidung als ihre zu
akzeptieren,

Uh, ich muss jetzt wohl deutlicher "je ich" und "ich" trennen. Sorry, 
mein Fehler. Mit "ich" meine ich in der Regel das 
verallgemeinerte "ich", das "jeweils ich" (aber nicht: "wir"). Es geht 
also nicht ausschließlich um mich persönlich, sondern um den 
allgemeinen Standpunkt erster Person.

Es geht also darum, die Begründungen je meiner Entscheidungen im Modus 
der Selbstentfaltung (die die Anderen miteinschließt) zu verdeutlichen.

etablierst Du einen versteckten absolut diktatorischen 
Anspruch und führst durch die Hintertür eine Hierarchie anhand der
Akzeptanz Deiner Entscheidung als ausschließlich Deiner ein.

Auch wenn du "ich" als persönliches "ich" liest, weiss ich nicht, wie du 
darauf kommst. Wie sollte ich eine Hierarchie einführen und Diktatur 
ausüben? Und was hat das mit der Akzeptanz von Entscheidungen zu tun? 
Ich akzeptiere deine Entscheidungen doch auch ohne dass du eine 
Hierarchie oder Diktatur einführst.

Andere dürfen Dich kritisieren und Dich durch ihre Kritik bereichern,
aber sie sollen allein Dir die Entscheidung überlassen und diese
Entscheidung als Deine akzeptieren.

Also: Jede/r entscheidet für sich selbst - das ist doch elementar, oder?

Geht es es dir um die Mittel der Entscheidung, die Konsequenzen, die 
Reichweite, die Betroffenheit? Darüber hab ich in der Tat noch nichts 
gesagt.

Zur offenen Hierarchie und Herrschaft gerät dieses Verhalten
allerdings erst dann, wenn dieses auf einer Ungleichheit des Zuganges
zur dem Miteinander zugrundeliegenden Technik beruht. Die durch die
Technik gegebene Zugangsungleichheit wird nicht organisatorisch
neutralisiert.

Ja, richtig, das ist aber ein eigenes Thema. Dazu hat - wie ich finde - 
(wieder mal) Christoph Spehr nützliches gesagt, wobei ich den 
Titel "Trust no one" sehr provokativ finde, weil es um die Bedingungen 
von Vertrauen geht: http://www.all4all.org/2004/05/820.shtml

Egalität bezieht sich in diesem Falle darauf, daß alle zur zu
treffenden Entscheidung angehört wurden. Der Konsens, mit welchem
auf vielen Mailinglisten Entscheidungen getroffen werden, ist in
diesem Sinne egalitär, da alle angehört und der Entscheidung
zustimmen müssen - oder deutlich machen müssen, einer
Entscheidung nicht im Wege zu stehen trotz anderer Meinung - , um
zu einem Konsens zu gelangen.

Konsens wurde hier auf ox bisher so definiert, dass dieser
hergestellt ist, wenn niemand widersprechen muss. Das ist schon ein
deutlicher Unterschied zu der Forderung, dass alle zustimmen
müssen. In der Regel äußern sich die meisten nämlich nicht.

Das wir da beide formulieren "das niemand widersprechen muß" fällt
Dir nicht auf?

"... der Entscheidung zustimmen müssen - oder deutlich machen müssen, 
einer Entscheidung nicht im Wege zu stehen" liest sich sehr aktiv.

Ein Mensch kann erst feststellen, daß er nicht 
widersprechen muß, wenn er mitlesen und das Gelesene verstanden hat.
Dies kann man auch als Anhören aller deuten, da er so die Chance,
Stellung zu nehmen, erhält. Seine Nichtwahrnehmung dieser Chance wird
als Zustimmung gewertet, da er ja seine Chance ergreifen und
widersprechen würde, wenn er die Entscheidung nicht akzeptieren kann.
Durch Nichtbeteiligung macht er deutlich, einem Konsens der Anderen
nicht im Wege zu stehen. Vorn oder hinten herum kommt man zum
gleichen Ergebnis: alle werden gehört und alle tragen die gemeinsamen
Entscheidungen - oder sie widersprechen diesen.

Ok, du meinst es also passiv.

Offensichtlich hast Du mir nicht zugehört.

Bitte nicht solche Sätze, sie sind unnötig und ärgern mich nur.

Im Rest haben wir halt einen unüberwindlichen Dissenz.

Äh, wo jetzt - sagen wir mal - hauptsächlich?

Ich sehe die gesellschaftliche Natur des Menschen als strittig. Für mich 
ist sie biologische Eigenschaft des Menschen, du scheinst zwischen 
einer ungesellschaftlichen und gesellschaftlichen Phase oder 
Eigenschaft beim Menschen zu unterscheiden. Richtig?

Ciao,
Stefan

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