Message 12209 [Homepage] [Navigation]
Thread: oxdeT11910 Message: 74/137 L11 [In index]
[First in Thread] [Last in Thread] [Date Next] [Date Prev]
[Next in Thread] [Prev in Thread] [Next Thread] [Prev Thread]

Re: [ox-de] Re: Nochmal: gesellschaftliche Natur



Am Dienstag, 1. August 2006 11:23 schrieb Hans-Gert Gräbe:
(Jac 28.7.)

Ich trenne zwischen Evolution und Gesellschaft. Der Körper ist
evolutionär vermittelt, d.h., dem Zusammenspiel zwischen Genen und
Umwelt. Bislang ist mir kein Fall bekannt geworden, wo ein
gesellschaftliches Verhältnis sich genetisch beim Menschen abgebildet
hätte.

Genau diese Trennung kann ich - besonders auf dem Hintergrund der
"Erziehungs"frage (ich schreibe das jetzt mal bewusst in Quotes) -
überhaupt nicht nachvollziehen. Beides hat doch was mit "Entfaltung von
Erinnerungen" zu tun. Die einen "Erinnerungen" sind in den Genen
(Plural!) "gespeichert", die anderen in den "Werten", die den
Erziehungen (Plural!) zu Grunde liegen.

Mit Plural meine ich hier die jeweiligen Konkreta, also die konkreten
Gene in einem konkreten Fisch, die einen (gegenüber den prototypischen
Genen - die eine reine Abstraktionsleistung der Menschen darstellen)
Defekt enthalten, welcher dazu führt, dass gerade dieser Fisch ein
schiefes Maul bekommt.

Gene als Träger dessen, was du als evolutionär vermittelt bezeichnest,
enthalten also maximal eine vielfältige vorsortierte *Potenz* von
Entfaltungs<b>möglichkeiten</b>.
Die im Übrigen auch genau definierte Umgebungsbedingungen zu ihrer
Entfaltung benötigen, inklusive wohldefinierter Zeitfenster. Beispiel:
die Contergan-Babys. Und das geht doch nach der Geburt nahtlos weiter;
die Entfaltung des Menschleins als biopsychosoziale Einheit. Entfaltung
musischer Fähigkeiten, des geometrischen Vorstellungsvermögens,
akzentfreie Sprache usw. usw. - all das funktioniert doch ganz genauso
als Wechselspiel zwischen Anlagen und Umgebungsbedingungen in Zeitfenstern.

Erstens:
Du hast meinen Einwand gegen den Biologismus der Erklärung 
gesellschaftlicher Prozesse übersehen.

Zweitens:
Gene stellen "Erinnerungen" an einen bestimmten Aufbau eines 
Lebewesens dar - in unserem Beispiel ein Fisch. In ihnen ist keine
konkrete Erinnerung an bestimmte Umweltbedingungen gespeichert,
sondern die Umwelt greift in die Genetik höchstens wie ein
Rückkoppler ein. Durch genetische Defekte entsteht ein Fisch mit
einem schiefen Maul, ein Fisch mit Füssen statt Flossen oder mit
Flügeln - eine vorsortierte Potenz in diesen Defekten gibt es nicht.
Dies zeigen z.B. die Mäuse im Labor mit menschlichen Ohren auf
dem Rücken und andere genetische Spielereien.

Die Defekte in der Entwicklung eines Lebewesens sind in der Regel
mit der Umwelt rückgekoppelt, d.h., wenn der Fisch mit Füssen in 
seichte Gewässer gerät, können seine Füße einen Vorteil darstellen. 
Es gibt auch Defekte, die weder einen Vorteil noch einen Nachteil
für den Fisch darstellen und deshalb zu keiner Rückkopplung mit
der Umwelt führen - etwa eine leicht andere Färbung seiner 
Schuppen. 

Sind diese Mutationen zeugungsfähig und löst ihr Defekt entweder
keine oder eine positive Rückkoppelung mit der Umwelt aus, so
entsteht eine neue Art. Löst der Defekt eine negative Rückkop-
pelung mit der Umwelt aus, so entsteht - die Zeugungsfähigkeit
vorausgesetzt - trotzdem eine neue Art, wenn der Defekt durch
andere Fähigkeiten kompensiert werden kann.

Bestimmte Arten können die Bedingungen ihrer Umwelt durch
einen zufälligen genetischen Defekt auch so verändern, daß
eine andere Umwelt entsteht - dieses führen Pflanzen z.B. mit
ihrer Photosynthese vor, durch die die Umwelt zur heutigen
Sauerstoff-Biospäre verändert wurde, in welcher die früheren
Arten der Evolution niemals hätten überleben können. Reste
dieser Evolution gibt es heute an den unterseeischen Vulkanen
im Tiefseegraben.

Musische Fähigkeiten, die Entfaltung des geometrischen 
Vorstellungsvermögens etc. schließlich sind für mich ebenso
evolutionär vermittelte Fähigkeiten wie das Atmen von Luft, das
Erlernen des Gehens auf zwei Beinen oder das Erzeugen von
Lauten, rückgekoppelt mit der Umwelt. Sie sind letztlich durch 
die Fähigkeit des menschlichen Körpers als Teil der Evolution 
vermittelt, nicht durch die Gesellschaft. Begabung entsteht
nicht durch Reflexion, sondern stellt die Hardware, um eine
bestimmte Reflexion - z.B. in der Musik, Malerei oder in der
geometrischen Mathematik zu ermöglichen.

Gesellschaft dagegen erwächst der Reflexion und Vergegen-
ständlichung von Reflexion in der Produktion von Waren,
Werten, Nomenklaturen, der Selbstwahrnehmung und einer 
bestimmten gesellschaftlichen Organisation.

Kinder erwarten nicht, daß ihr Erlebnisraum durch Erwachsene so
strukturiert wird, daß ihnen nur noch die Befolgung der Anweisungen
der Erwachsenen übrig bleibt.

Das behaupte ich auch gar nicht. Ich argumentiere nur gegen deine
Hypertrophierung dieses "Erlebnisraums", weil ich es persönlich
(Konkreta von Erziehungen; meine eigene und die meiner Kinder) nie
anders erlebt habe als dass die Möglichkeit der Entfaltung und der
abgesteckte Raum, in den hinein das Kind sich entfaltet, eine subtile
Einheit bilden. Für eine optimale Entwicklung bedarf es des
Fingerspitzengefühls des "Erziehers", nicht zu viel und nicht zu wenig
dieses Raums zu lassen.

Letztlich sollte es im Umgang mit Kindern und Erwachsenen keine
Unterschiede geben.

Ein Beispiel:
In einer Kneipe traf ich eine junge Familie. Der Vater trug ein T-Shirt
mit dem Aufdruck Sexpistols und an der Handtasche der Mutter
waren Buttons 'Keine Gewalt' und 'Atomkraft - Nein Danke' angebracht.
Sie hatten mit ihrem etwa drei Jahre altem Sohn eine Radtour gemacht.
Vater orderte für sich und die Mutter seines Sohnes einen Halben Bier,
der Sohn bekam einen Halben an wie Bier aussehendem Fruchtsaft.
Der Sohn verfolgte das Gespräch der beiden, saß mit am Tisch und
war intensiv mit "seinem Halben" beschäftigt.

Beherzt griffen Mutter und Vater nach der Speisekarte. Vater orderte 
für sich eine Pizza seine Frau suchte sich einen großen Tunfischsalat 
mit Brot aus. Der Sohn wurde weder gefragt, ob er auch etwas essen
wohle noch durfte er sich etwas aussuchen. Bald darauf wurde das 
Essen aufgetragen. Der Sohn beobachtete genau, wo die gefüllten Teller 
abgestellt wurden. Vater und Mutter begannen, ihre Speisen zu verzehren. 
Nach einer Weile schnitt der Vater ein Stück Pizza ab und schob es dem 
Sohn mit den Worten unter die Nase: "Hier, Robin, probier mal! Komm, 
es ist gut!" Doch sein Sohn schlug nur wütend die Hand des Vaters weg, 
kletterte vom Stuhl und lief davon.

Eine ganz alltägliche Scene. Unser alltägliches ökonomische Denken
läßt uns den Eltern zustimmen, dem Kleinen keine eigene Portion zu
bestellen, die er mit drei Jahren noch nicht bewältigen kann, sondern
ihm vom Teller der Erwachsenen etwas zukommen zu lassen. Doch
vermitteln wir dem Kleinen durch diese Situation nicht - ohne es uns
bewußt zu machen - daß er für eine eigene Portion 'noch zu klein' sei?
Demütigen wir ihn nicht dadurch, daß allen Erwachsenen etwas 
Eigenes zu essen gebracht wird, ihm jedoch nicht? Und tun wir da-
durch nicht genau das Gleiche wie unsere Eltern uns gegenüber, als
wir als  'dafür noch zu klein' eingestuft wurden?

Der Dreijährige wollte kein Bittsteller sein, der vom Teller der an-
deren probieren darf, sondern er wollte sich etwas aussuchen
dürfen und einen eigenen Teller hingestellt bekommen. Deshalb
seine deutlich wütende Reaktion und sein plötzliches Desinteresse
an der Mahlzeit der anderen Familienmitglieder. Wenig später
lief er herbei und schwenkte stolz einen Lolli, den er sich am
Thresen hatte aussuchen dürfen, lutschte den Lolli und wollte
zum Leidwesen seiner jungen Eltern weder von ihren Pizzaresten 
noch etwas vom Tunfischsalat abhaben.

Gruss,
Jacob
________________________________
Web-Site: http://www.oekonux.de/
Organisation: http://www.oekonux.de/projekt/
Kontakt: projekt oekonux.de



[English translation]
Thread: oxdeT11910 Message: 74/137 L11 [In index]
Message 12209 [Homepage] [Navigation]