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Freiwilligkeit und Verbindlichkeit (was: Re: [ox-de] keimform.de: Sackgassen)



Hallo Ludger,

On 06/28/2010 11:49 AM, Ludger.Eversmann t-online.de wrote:
ich stimme Dir in fast allem vollkommen zu, und finde das sehr wichtig
dass Du das alles so klar zum Ausdruck gebracht hast. 

Ich glaube allerdings nicht so sehr an die Freiwilligkeit als
wesentliches Medium oder Moment einer Forwärtsbewegung in eine andere
Gesellschaft. 

Eine Freiwilligkeit als bestimmendes Konstituens der Conditio Humana
sozusagen, also nicht als je individuelle motivbildende Disposition
des einzelnen Akteurs, ist wohl erst erreicht wenn die Lebensnot, die
Notwendigkeit der vorausschauenden Vorsorge, in dem Sinne auch
Knappheit von lebensnotwendigen Gütern und Dienstleistungen, dauerhaft
und verlässlich überwunden ist, für ganze Volkswirtschaften,
möglicherweise auch auf der ganzen Welt.
[...]
Aber: ein Gesundheitssystem z B
aus lauter Freiwilligen, ohne geregelte bindende Zeiten der
Verfügbarkeit und Leistungbereitschaft wird es wohl nie geben. 

Man sollte "Freiwilligkeit" nicht mit "Unverbindlichkeit" verwechseln.

"Freiwillig" ist ja erstmal nur das Gegenteil von "erzwungen", wobei der
Zwang entweder direkt (durch eine erzwingende Instanz) oder indirekt (durch
die gesellschaftlichen Verhältnisse) hervorgerufen sein kann. Werde ich zum
Militärdienst eingerufen, ist das ein direkter Zwang, der
bei Verweigerung mit Verschleppung und Haft geahndet werden kann
[http://www.kampagne.de/Wehrpflichtinfos/Totalverweigerung.php]. Zum Verkauf
meine Arbeitskraft werde ich dagegen durch niemand direkt gezwungen, sondern
nur durch den "stummen Zwang der Verhältnisse" -- sofern ich nicht reich
genug bis, ihn zu entgehen, bleiben i.A. nur Betteln oder Verhungern als
wenig angenehme Alternativen (auch staatliche Leistungen wie Hartz IV gibt
es ja nur, wenn man die Bereitschaft zum Verkauf seiner Arbeitskraft
zumindest erfolgreich simuliert -- da wird der indirekte Zwang dann wieder
zum direkten).

Wenn sich Leute freiwillig für eine bestimmte Tätigkeit entscheiden,
bedeutet dass, kein solcher direkter oder indirekter Zwang vorhanden ist.
Allerdings kann der *individuellen* Freiwilligkeit dabei durchaus eine
*gesellschaftliche* Notwendigkeit entsprechen. Z.B. das Kinder-Kriegen und
-Aufziehen: dazu ist in unserer Gesellschaft niemand *gezwungen,* aber wenn
sich nicht Leute freiwillig fürs Kinderkriegen entscheiden würden, würde die
Menschheit aussterben.

Ähnliches gilt für viele andere Bereiche -- Nahrungsmittelproduktion,
Hausbau, Gesundheitspflege, Verkehrssysteme etc.: es gibt eine
*gesellschaftliche* Notwendigkeit, dass sie gemacht werden, der aber i.A.
keine *individuelle* Notwendigkeit, sich direkt um jeden dieser Bereiche zu
kümmern, entspricht (tatsächlich wäre jede/r einzelne hoffnungslos
überfordert, wenn sie/er all diese Dinge selber übernehmen müsste). Andere
Dinge sind zwar keine absolute gesellschaftliche Notwendigkeit (die
Menschheit konnte auch ohne Linux und Wikipedia überleben), aber zweifellos
eine Bereicherung für eine Gesellschaft, die über sie verfügt.

In all diesen Bereich ist es denkbar (und tatsächlich in vielen Fällen ja
auch schon der Fall), dass sich Leute freiwillig in ihnen engagieren, d.h.
ohne durch einen Zwang (z.B. den Zwang zum Geldverdienen) dazu genötigt zu
sein. Solange sich jeweils genug Leute finden, die sich einbringen wollen
und können, reicht das -- die gesellschaftliche Notwendigkeit wird erfüllt,
ohne dass es individuellen Zwangs bedarf.

Die Freiwilligkeit der Beteiligten ist dabei aber keine Unverbindlichkeit --
auch bei Freier Software oder bei freiwilligen Aktivitäten z.B. im
Bekanntenkreis ist es ja normalerweise selbstverständlich, dass man
übernommene Aufgaben auch tatsächlich ausführt und nicht einfach ohne
Vorwarnung hinschmeißt. Man legt eine Aufgabe vielleicht nieder, wenn man
sie nicht mehr wahrnehmen kann oder will, das aber im Allgemeinen nicht ohne
eine gewisse Vorlaufzeit, die es den anderen ermöglicht, sich um Ersatz zu
bemühen.

Auch bspw. gemeinschaftliche organisierte Feste oder Parties würden ja
überhaupt nicht funktionieren, wenn die Beteiligten die einmal eingegangenen
Vereinbarungen reihenweise nicht erfüllen würden -- das ist aber im
Allgemeinen nicht der Fall, denn wenn man sich nicht für das, was da
passiert, bzw. für die anderen, die sich daran beteiligen, interessieren
würde (und daher auch am Erfolg interessiert wäre), hätte man sich ja erst
gar nicht beteiligt -- abgesehen davon, dass natürlich auch der eigene Ruf,
die eigene Reputation auf dem Spiel steht.

Herzliche Grüße
	Christian

-- 
|------- Dr. Christian Siefkes ------- christian siefkes.net -------
| Homepage: http://www.siefkes.net/ | Blog: http://www.keimform.de/
|    Peer Production Everywhere:       http://peerconomy.org/wiki/
|---------------------------------- OpenPGP Key ID: 0x346452D8 --
Du willst mir sagen, dass Religion, dass Theologie vernünftig ist? Eine
"Wissenschaft", die etwas untersucht, das es gar nicht gibt?!
        -- Thomas Gil



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