[ox-de] Wirtschaftsinformatik
- From: Hans-Gert Graebe <graebe informatik.uni-leipzig.de>
- Date: Wed, 21 Jul 2010 21:14:14 +0200
Hallo Ludger,
ich mache dazu mal einen neuen Thread auf,
HGG am 31.05.2010
> Hallo Ludger,
>
> damit ich das besser verstehe:
> Ist das "Wirtschaftsinformatik der 'langen Frist'"? Ich habe bei
> http://books.google.de einen entsprechenden Link gefunden.
Ludger.Eversmann t-online.de am 31.05.2010
> Hallo Hans-Gert,
>
> ja genau, das ist die.
Ich habe inzwischen wenigstens die 9 Seiten Einleitung gelesen (weiß gar
nicht mehr, wo ich den Ausdruck her habe, bei Google-Books sind nur
Teile davon zu sehen). Deine Arbeit bzw. die Arbeiten von Mertens, auf
die du dich beziehst, sind nun 10 bis 15 Jahre alt und in einer
schnelllebigen Zeit wie der heutigen wäre es interessant zu sehen, ob
sich die Dinge wie prognostiziert weiterentwickelt haben bzw. welche
Modifikationen es gibt.
Ich denke, dass der Hauptgegenstand der Wirtschaftsinformatik,
wenigstens so, wie sie bei uns gelehrt wird, heute doch weniger auf
"sinnvolle Vollautomation" der produktiven Ebene, sondern viel stärker
auf die Formalisierung der kommunikativen Ebene gerichtet ist. Ich
denke, das betrifft sowohl die WI als Wissenschaft (mit Themen wie
Business Engineering, System Engineering, die Entwicklung entsprechender
Modellierungssprachen und -metasprachen sowie der unterstützenden
Werkzeuge usw.) als auch die Praxisrelevanz der WI (siehe etwa die
aktuellen Entwicklungen im Bereich der ISO 15504, CMMI und die Querelen
um ITIL 3).
Das bedeutet insbesondere, dass der Fokus nicht auf einer weiteren
betriebsorganisatorischen Optimierung innerbetrieblicher Prozesse liegt,
sondern auf der nächst höheren Vernetzungsebene der
zwischenbetrieblichen Prozesse (bis hin zum Phänomen, in großen
Unternehmen die letzteren Formalisierungsansätze auch innerbetrieblich
zur Anwendung zu bringen).
Wie siehst du das? Das würde insbesondere die Automatisierungsthese (und
mglw. auch die Fabber etc.) in deutlich anderem Licht erscheinen lassen.
Ich denke sogar, dass dies zwei verschiedene technologische Paradigmen
sind, die zu verschiedenen Kondratjew-Zyklen gehören (in einer weiter zu
schärfenden Semantik, siehe unten).
Bei Fuchs-Kittowski, der bereits seit Ende der 60er Jahre sein Konzept
"Hardware - Software - Orgware" entwickelt hat, heißt es dazu übrigens
zentral
"Der Mensch ist die einzig kreative Produktivkraft, er muß Subjekt der
Entwicklung sein und bleiben. Daher ist das Konzept der
Vollautomatisierung, nach dem der Mensch schrittweise aus dem Prozeß
eliminiert werden soll, verfehlt!"
http://www.wissenschaftsforschung.de/JB00_9-88.pdf oder
http://www.informatik.uni-leipzig.de/~graebe/Texte/Fuchs-02.pdf
Siehe ebenda seinen Ansatz "Das Orgwarekonzept - Einheit von
Informationssystem-, Arbeits- und Organisationsgestaltung und komplexe,
nutzerbezogene, partizipative Informationssystemgestaltung"
Dort heißt es u.a.
"Wenn die Informatik begriffen wird als die theoretische Grundlage
dessen, was auf dem Gebiet der Hard-, Soft- und Orgware getan werden
muß, um hohe Effekte bei der humanen Anwendung der IKT zu erreichen,
dann hat sie sich auch in der Vergangenheit qualitativ und quantitativ
entwickelt. Einfach deshalb, weil die Methoden des Entwurfs und der
Implementierung von computerunterstützten Informationssystemen, die
Inhalte und Niveaustufen der Information sowie die Organisations-,
Arbeits- und sozialpsychologische Komplexität dieser Systeme immer
umfassender berücksichtigt werden mußten." So visionär KFK und Wenzlaff
bereits 1986 unter Ostberliner Bedingungen! Ich denke, erst heute ist
die Zeit ran, das praktisch umzusetzen.
Du schreibst weiter
D h Mertens, Marx, und Mandel sind sich möglicherweise darin einig,
dass es diesen Trend zur Automation gibt, zum Bau von Parks von
automatischen Maschinen, aber: die haben alle zusammen nicht kapiert,
dass es darauf ankommt dass dieser Maschinenpark eben genau so
aussieht wie er sich heute - mit dieser maximalen Individualisierung,
auch Miniaturisierung, also im Prinzip mit digitalen Fabrikatoren und
Open Source - darstellt. Erst so kann dieser Maschinenpark diesen -
grossen und heiligsten! - Zweck erfüllen, der Menschheit zu diesem
grossen Fortschritt zu verhelfen: ein neuer von materiellen und
wirtschaftlichen Sorgen freier Mensch wird geboren.
Das scheint verdammt schwer zu kapieren zu sein.
Buchberger, Nestor der Computeralgebra im deutschsprachigen Raum,
bezeichnet die Implementierung komplizierter mathematischer Kalküle in
Software als "Trivialisierung". Ich denke, dieser Begriff lässt sich
sehr unmittelbar auf dieses Terrain übertragen. Allerdings ist der
Begriff "Trivialisierung" relativ. Ich bringe dazu gern den Vergleich,
dass der bekannte Mathematiker U. sagte "das ist trivial", weil er sah,
wie es im Prinzip geht, "da setze ich zwei Doktoranden ran, und die
fixen die Details". Die Doktoranden machten auch ihre Arbeit prächtig,
Allerdings es blieben ein paar "im Prinzip klare" Details für zwei
Diplomarbeiten übrig. Die auch bewältigt wurden usw.
Weiter scheint mir, dass diese "Trivialisierung" der Produktion in
Wellen erfolgt, denn die Automatisierung setzt die Formalisierung der
Produktion, also die Fließbandgesellschaft, voraus, die Formalisierung
die Industrialisierung, die Industrialisierung die fabrikmäßige
Produktion usw. Eine solche Etappen-Strukturierung (die sich mglw. bis
zu den Anfängen des Kapitalismus um 1620 herum zurückverfolgen lässt,
siehe das schöne Buch "Im Takt des Geldes" von Eske Bockelmann) wäre
dann für mich auch der Kern einer Theorie von Kondratjew-Wellen. Hier
werden in Abständen von etwa 50 Jahren jeweils neue Abstraktionsebenen
der Produktionsorganisation erreicht, von denen (wie bei CMMI) keine
einzige übersprungen werden kann, weil die Implementierung der je
vorherigen erst die Sprachmittel schafft, mit denen auf der nächsten
Ebene überhaupt erst kommuniziert werden kann. Was insbesondere starke
Momente einer globalen Nicht-Gleichzeitigkeit mit sich bringt, die ja
die heutigen Krisenprozesse in der "ersten Welt" ganz wesentlich
verschärfen (Rolle der BRIC-Staaten, die noch Entwicklungspotenziale aus
dem letzten Kondratjew heben können und dies auch kräftig tun).
Insofern wäre die These der "vernünftigen Vollautomatisierung", von der
du ja im Wesentlichen abgerückt bist, wenn ich es recht verstanden habe,
eine aus dem letzten Kondratjew, die Vernetzungsthese eine aus den neuen.
So weit mal ein paar Überlegungen dazu von mir.
Viele Grüße,
Hans-Gert
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