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[ox-de] Re: [ox-de] Wirtschaftsinformatik



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Hallo Hans-Gert,

Ich habe inzwischen wenigstens die 9 Seiten Einleitung gelesen (weiß
gar
nicht mehr, wo ich den Ausdruck her habe, bei Google-Books sind nur
Teile davon zu sehen). Deine Arbeit bzw. die Arbeiten von Mertens,
auf
die du dich beziehst, sind nun 10 bis 15 Jahre alt und in einer
schnelllebigen Zeit wie der heutigen wäre es interessant zu sehen, ob

sich die Dinge wie prognostiziert weiterentwickelt haben bzw. welche
Modifikationen es gibt.

Bei Amazon ist glaube ich die ganze Einleitung online. Kannst aber
auch das Manuskript haben!

Also zur Weiterentwicklung: Mertens hat 2007 in einem grösseren
Vortrag (Jahresversammlung des Verbandes der Hochschullehrer für BWL)
zu seiner "These" Stellung genommen und dabei auch meine Arbeit kurz
zitiert, er ist im wesentlichen bei seiner Aussage geblieben, ist auch
online verfügbar, wenn Du mal googelst (am besten Mertens und ich).
Ich selber bin ja der Meinung dass gerade die Entwicklungen um die
"Personal Fabrication" meine Kernthese - dass die generalisierbare
Entwicklungstendenz in der Wirtschaftsinformatik, damit aber
eigentlich in der Ökonomie simultan Automation UND Individualisierung
sowie auch Miniaturisierung beinhaltet - sich wunderbar bestätigt hat.
Es wird also nicht ein gewinnorientiert für den Markt produzierendes
vollautomatisiertes Unternehmen am "Ende" dieser Entwicklung dastehen
(..."das kein Arbeitnehmer und keine Arbeitnehmerin mehr betreten
muss", wie Mertens noch in seinem Vortrag 2007 (evtl auch 2006!)
formuliert hat), sondern eine universale Produktionsmaschine, die
Gebrauchswerte produziert, weil sie eben direkt in der
Verfügungsgewalt des Konsumenten sich befindet. Da ist nix mehr
dazwischen, zwischen Konsument und Produzent, damit kein Markt, kein
Tausch, eine ganz andere Art von Professionalisierung und
Arbeitsteilung.... dies alles jedenfalls in der "Sphäre" der
"industriellen" (also maschinell unterstützten) Konsumgüterproduktion.
          

Wir haben das ja hier ausgiebig diskutiert.

Ich denke, dass der Hauptgegenstand der Wirtschaftsinformatik,
wenigstens so, wie sie bei uns gelehrt wird, heute doch weniger auf
">sinnvolle Vollautomation" der produktiven Ebene, sondern viel
stärker
auf die Formalisierung der kommunikativen Ebene gerichtet ist. Ich
denke, das betrifft sowohl die WI als Wissenschaft (mit Themen wie
Business Engineering, System Engineering, die Entwicklung
entsprechender
Modellierungssprachen und -metasprachen sowie der unterstützenden
Werkzeuge usw.) als auch die Praxisrelevanz der WI (siehe etwa die
aktuellen Entwicklungen im Bereich der ISO 15504, CMMI und die
Querelen
um ITIL 3).

Meinst Du Formalisierung sei der "letzte" Zweck? einfach mal
Formalisieren? wie sollte man das begründen? also ich empfehle Dir
dann doch ein paar Seiten mehr zu lesen, ich habe mich mit all diesen
Fragen wirklich sehr ausgiebig beschäftigt.  

Das bedeutet insbesondere, dass der Fokus nicht auf einer weiteren
betriebsorganisatorischen Optimierung innerbetrieblicher Prozesse
liegt,
sondern auf der nächst höheren Vernetzungsebene der
zwischenbetrieblichen Prozesse (bis hin zum Phänomen, in großen
Unternehmen die letzteren Formalisierungsansätze auch
innerbetrieblich
zur Anwendung zu bringen).

Natürlich geht die Entwicklung da von der innerbetrieblichen zur
zwischenbetrieblichen "Integration" (wie das damals hiess), habe ich
auch zu Stellung genommen (B2B, B2C etc.), für meinen Geschmack haben
die Kollegen von der Mass Customization (Piller et al.) die
unterliegenden Trends sehr gut beschrieben, die Wirtschaftsinformatik
hat da nach meinem Eindruck etwas den Überblick verloren (ich erinnere
da an den geradezu bestürzend dümmlichen Einfall von Hans-Ulrich Buhl,
derzeitiger Hauptherausgeber der Zeitschrift Wirtschaftsinformatik,
von der "Voll-Virtualisierung"  gewissermassen als Nachfolge-Parole
zur Mertensschen Vollautomation).

Wie siehst du das? Das würde insbesondere die Automatisierungsthese
(und
mglw. auch die Fabber etc.) in deutlich anderem Licht erscheinen
lassen.
I>ch denke sogar, dass dies zwei verschiedene technologische
Paradigmen
sind, die zu verschiedenen Kondratjew-Zyklen gehören (in einer weiter
zu
schärfenden Semantik, siehe unten).

Also diese Tendenz - mal beschrieben wie bei Marx als
Kapitalisierungstrend (vom lebendigen zum toten Kapital), mal als
historischer Trend zur Produktivitätsteigerung, mal wie z B in den
1960er Jahren bei Arnold Gehlen als genereller Trend durch die gesamte
Kulturgeschichte, der sich gleichsam hinter dem Rücken des Menschen
durchsetze (nachzulesen bei einer von Habermas' Frühschriften), und
noch viele andere mehr - ist so unverkennbar, also - lies doch
vielleicht mal bei Marx nach. Ich schaff das nicht mehr, das noch
mal auszumalen hier.   

Bei Fuchs-Kittowski, der bereits seit Ende der 60er Jahre sein
Konzept
"Hardware - Software - Orgware" entwickelt hat, heißt es dazu
übrigens
zentral

"Der Mensch ist die einzig kreative Produktivkraft, er muß Subjekt
der
Entwicklung sein und bleiben. Daher ist das Konzept der
Vollautomatisierung, nach dem der Mensch schrittweise aus dem Prozeß
eliminiert werden soll, verfehlt!"

Kenne ich bestens, habe ich auch bearbeitet. Natürlich ist der Mensch
Subjekt der Geschichte, soll er auch bleiben, aber es ist ein
tragischer Trugschluss zu glauben dass "Automation"  als solche das
verhindere. Ich kann da immer wieder nur Kant zitieren: Erhebung der
Autonomie des Willens (das ist Kants Formel für mündiges Subjekt)
gegen die Heteronomie der wirkenden Ursachen, also: gegen Frithjof
Bergmanns kalte Winter ohne gehacktes Holz! Himmel Arsch und Zwirn,
ich kann nicht glauben dass das alles so schwer zu kapieren sein soll.
Inzwischen nicht mehr. Ich habe mir dazu auf 333 Seiten niedergelegte
jahrzehntelange Gedanken gemacht, drum ist mein Geduldsvorrat
abgeschmolzen, wenn ich das mal so sagen darf.     

Fuchs-Kittowski und auch einer meiner Betreuer, Arno Rolf, haben
damals die Idee der "unterstützenden Sichtweise" der Informatik
entdeckt und geglaubt, das sei dann was anderes als die "ersetzende
Sichtweise", also die böse, Menschen im Betrieb ersetzende Informatik
und Automation. Wenn die Informatik den arbeitenden Menschen das Leben
nur leichter macht, aber sie nicht den Job verlieren, dann wär alles
gut.... Also ich empfehle Dir dann nachzulesen was ich dazu
geschrieben habe, ich kann das an dieser Stelle nicht mehr so weit
aufrollen.  

Insofern wäre die These der "vernünftigen Vollautomatisierung", von
der
du ja im Wesentlichen abgerückt bist, wenn ich es recht verstanden
habe,
eine aus dem letzten Kondratjew, die Vernetzungsthese eine aus den
neuen.

Also ich kann Dir da zu Kondratieff und Formalisierungszyklen oder
Trivialisierung nicht folgen. In der Informatik geht es ja immer um
Berechenbarkeit, und wenn irgendwelche (möglicherweise ökonomisch
verwendbaren) Operationen algorithmisch beschreibbar und damit nach
Church-Turing berechenbar sind, sind sie prinzipiell automatisierbar,
natürlich sind sie dann auch in einem gewissen Sinne trivial, wenn man
es denn so sehen will. Ja warum nicht, lass die Maschinen die
trivialen Sachen machen, wir wenden uns dann mit erhobenem Haupt
wichtigeren Dingen zu.... das Problem ist doch nur, die passende
ökonomische Organisation dazu zu finden. Ich dachte darum geht es hier
in diesem Debattierclub.

Viele Grüsse,
Ludger



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Organisation: http://www.oekonux.de/projekt/
Kontakt: projekt oekonux.de



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