Re: [ox-de] keimform.de: Produktive Schweine und unproduktive Kinder
- From: Hans-Gert Gräbe <hgg hg-graebe.de>
- Date: Tue, 27 Jul 2010 13:17:46 +0200
Hallo Stefan,
Am 07/21/10 21:48, schrieb Stefan Meretz:
spannende Zahlen, allein die Systematik bleibt mir verschlossen, was
denn nun genau "unbezahlte Arbeit" ist.
Da musst du, wenn dich das interessiert, in die ausführlicheren
Dokumente und Artikel gucken. Diese Agitprop-Broschüre leistet das
nicht. Der Artikel von Dieter Schäfer ist in dieser Hinsicht ganz
interessant (unter den Quellen).
Im Band "Alltag in Deutschland. Analysen zur Zeitverwendung"
- Forum der Bundesstatistik - Band 43, S. 247 ff. <http://is.gd/dzoFm>
Ist in der Tat sehr interessant, weil die doch großen methodischen
Probleme deutlich werden. Ich nehme an, die Zahlen in der
"Agitprop-Broschüre" beziehen sich weitgehend auf diese Untersuchung(?),
in der zunächst ein (methodisch für allgemeine Zwecke der
Zeitbudgetierung m.E. durchaus sinnvolles) "Haushalts-Satellitensystem"
umrissen wird.
Weiter heißt es: "Die Abgrenzungen der Begriffe 'Haushaltsproduktion'
und 'unbezahlte Arbeit' beziehen sich im Satellitensystem weitgehend auf
dieselben Aktivitäten. Während der Terminus 'Haushaltsproduktion' auf
den Produktionsprozess bzw. das Ergebnis (Output) dieses Prozesses
abstellt, bezieht sich der Begriff 'unbezahlte Arbeit' auf die
wichtigste Inputvariable bei der Produktion, die Arbeit." Damit wird auf
die üblichen zwei Betrachtungsansätze des BIP abgestellt, was die
Anschlussfähigkeit zu anderen VWL-Diskursen herstellt, aus
wissenschaftsmethodischer Hinsicht sicher löblich. Allein wird in den
BIP-Rechnungen 'Arbeit' und 'bezahlte Arbeit' gleichgesetzt, denn bei
der Erhebung werden die entsprechenden *Einkommensverhältnisse*
analysiert. Anders kann es auch gar nicht sein, denn andere
"verlässliche" Daten stehen nicht zur Verfügung. Siehe etwa
"Verteilungsrechnung" unter
http://de.wikipedia.org/wiki/Bruttoinlandsprodukt
Ganz spannend dann: "Zur Abgrenzung der Arbeit von persönlichen bzw.
Freizeitaktivitäten im Rahmen einer makroökonomischen Betrachtung wird
üblicherweise das Dritt-Personen-Kriterium herangezogen. Danach sind
solche Aktivitäten Tätigkeiten im ökonomischen Sinn (und somit
unbezahlte Arbeit, soweit sie nicht Erwerbsarbeit darstellen), die auch
von Dritten gegen Bezahlung übernommen werden könnten." Also eine klare
Gleichung als ("üblicherweise" zu verwendende) Begriffsdefinition:
unbezahlte Arbeit = potenziell bezahlbare Arbeit
Für mich ist der Ansatz aus zwei weiteren Gründen ein Ideologem. Einmal
die Verwendung des Worts "Produktion", was in diesem Kontext die
Analogie zur Warenproduktion konnotieren soll und eine schizophrene
Aufspaltung derselben "Haushaltsarbeiter" in Produzenten und Konsumenten
impliziert, die sich selbst ihre Leistungen verkaufen. So
"fetischisiert" sind sie realiter, Gott sei Dank, wohl in der
überwiegenden Mehrzahl nicht. Die Rechnungen sind also eigentlich
Sandkastenspiele, ihre Wirkung vor allem eine mentale.
Zum anderen die Identifizierung beider Begriffe - "unbezahlte Arbeit"
gibt es nur bzw. vorwiegend (siehe die besondere Berechnung der
Wegezeiten) im häuslichen Bereich, in dem sich (aus
ökonomietheoretischer Sicht) die Arbeitskraft eigenverantwortlich (!)
reproduziert. Hier müssen also auch Lohnarbeiter/innen (und, mit Blick
auf die statistischen Zahlen, Frauen deutlich mehr als Männer)
unternehmerische Qualitäten im Sinne der rationalen Ressourcenplanung
entwickeln.
Zweitens, und das habe ich angemerkt, gibt es tatsächlich ein
strukturelles Problem, was eigentlich hier "Arbeit" ist, und was nicht.
Das Problem sehe ich weniger, wenn man - im obigen Sinne - versteht,
dass die Vereinigung aus "bezahlter" und "unbezahlter" Arbeit in den
hier aufgerufenen Bedeutungen den Begriff "Arbeit" nicht bereits
ausschöpft. Wenn man Arbeit mit Reproduktion der Lebensbedingungen
indetifiziert, oder von mir aus auch "zweckgerichteter Tätigkeit", dann
sehen das die Autoren der Studie aus ihrer Sicht übrigens auch so - es
gibt noch "Hobby", "Freizeitaktivitäten" usw. Außerdem ist diese
Unschärfe kein Spezifikum von "Haushaltsproduktion", wie du an der
Diskussion um die Einordnung der Wegezeiten siehst. Sind die nun
"bezahlt" oder "unbezahlt" oder was Drittes (die Statistik entscheidet
sich für die letztere Variante)? Ist das Fegen der Werkhalle bezahlte
oder unbezahlte Arbeit? usw.
Ich weiß nicht, ob die Studie wirklich so weit trägt, wie du daraus
argumentierst. Mal abgesehen davon, dass sie eher auf verschiedene
Arten von "Tätigkeiten" denn auf "Arbeit" in einem
ökonomietheoretisch fassbaren Sinn abstellt, die in einem komplexen
Prozess gesellschaftlicher Reproduktion anfallen, in dem ja auch in
dieser Gesellschaft die speziell über Geld vermittelten nur einen Teil
ausmachen.
Das war genau Ziel meines Artikels: Die Studie ist völlig in
"ökonomietheoretisch fassbarem Sinn" abgefasst und interpretiert worden
(bis hin zur ziemlich willkürlichen Rückrechnung in BIP-kompatible
Größen).
D'accord, wobei die BIP-Rechnungen ihre eigenen Tücken aufweisen - die
Wertkategorie ist nun einmal fraktal und die VWL-Rechnungen können sich
nur auf die steuerlich mitgeteilten Zahlen stützen, Wertrechnung ist in
dem Sinne eine Preisrechnung (was wohl nur unter Marxisten anders
gesehen wird). Dass die verschiedenen Rechnungsansätze im klassischen
Bereich der VWL zum selben Ergebnis führen, liegt einzig daran, dass in
der doppelten Buchführung der lokalen Unternehmen die Soll- und
Haben-Seiten zu gleichen Ergebnissen saldieren müssen. Das lässt sich
leider nicht auf "Haushaltsproduktion" übertragen, denn da werden keine
Bücher geführt. Abb. 5 offenbart das Dilemma des Ansatzes. Verschiedene
ökonomische Theorien darüber, was dort faktisch passiert, führen zu sehr
verschiedenen Ergebnissen.
> Dabei sollte eigentlich klar werden, dass der größte Teil der
gesellschaftlichen Reproduktion nicht über "Arbeit", also nicht
ökonomisch, sondern über andere "Tätigkeiten", also nicht-ökonomisch,
läuft, was gemeinhin ausgeblendet wird. Die Studie macht die Abspaltung
der Nicht-Wertsphäre sichtbar -- und die Dominanz der Ökonomie, beides.
Genau darauf bezog sich meine Bemerkung bzgl. der Tragweite deiner
Argumentation. Wieso gibt es (in dieser Gesellschaft) eine
"Nicht-Wertsphäre"? Sind die häuslichen reproduktiven Aktivitäten der
Wertkategorie entzogen? Ist die Wertkategorie nicht eher so was wie eine
"Overlay"-Struktur, in der sich *gewisse* Aspekte der komplexen
Prozesse gesellschaftlicher Reproduktion widerspiegeln? Der ganze
Bereich der "Haushaltsproduktion" steht und fällt ja mit einem gewissen
"Wertdurchsatz", so wie die Benardzellen zusammenfallen, wenn die
Herdplatte abgeschaltet wird. Beruhen die Wertabspaltungsansätze nicht
auf derselben Begriffsdefinition "unbezahlte Arbeit = potenziell
bezahlbare Arbeit", allein negativ gewendet?
Viele Grüße,
Hans-Gert
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