Re: [ox-de] Wirtschaftsinformatik
- From: Hans-Gert Gräbe <hgg hg-graebe.de>
- Date: Fri, 30 Jul 2010 22:53:14 +0200
Hallo Ludger,
Am 07/22/10 20:55, schrieb Ludger.Eversmann t-online.de:
Bei Amazon ist glaube ich die ganze Einleitung online. Kannst aber
auch das Manuskript haben!
Ja, daran wäre ich interessiert.
Zu den Mertens-Sachen
... wenn Du mal googelst (am besten Mertens und ich).
habe ich leider nichts gefunden, aber deine 2002er Kontroverse mit MüMe
und vor allem die "Perspektiven von Informatik und Wirtschaftsinformatik
als technischpolitische Wissenschaften"
http://www.mathematik.uni-marburg.de/~hesse/symposium/pdf/EFs06Eversm.pdf waren
sehr aufschlussreich, um den Kontext deiner Überlegungen und die
bestehenden kommunikativen Probleme zwischen uns besser zu verstehen.
Mit dem diskurs-ethischen Zugang kann ich bisher wenig anfangen, auch
wenn ich verstehe, dass ein sprachkritisches Herangehen einen guten Teil
der philosophischen Tradition des 20. Jahrhunderts geprägt hat. Ich
verstehe auch, dass ein solcher Zugang tragfähig sein kann, denn Sprache
in einem umfassenden Verständnis ist ja letztlich der "einen großen
Erzählung" (welcher Hesses alter Siddhartha am Fluss lauscht)
nachempfunden und somit eng mit den Praxen der Menschen verbunden.
Allerdings muss der Ansatz die Konsequenzen des "babylonischen
Sprachgewirrs" einer hochgradig arbeitsteiligen Gesellschaft irgendwie
berücksichtigen (siehe die kurze Sentenz zur "Sprache der Physik" in
meiner Mail vom 5.5.), was ich bei dir nur auf eine Weise sehe (deine
Mail vom 2.5.):
Wissen, Kultur, Vernunftgebrauch lassen sich verstehen als in einer
Sprachgemeinschaft herausgebildete Handlungs- und Denkweisen, die an
dieser regulativen Zielidee - Erhebung des Willens... - orientiert
sind. Also: Schöpfung von Zuständen der Lebensbedingungen, die
begründeten bzw. begründbaren Rechtfertigungsansprüchen zugänglich
sind - ich sehe den Fortschrittsbegriff hier ganz gut aufgehoben, und
fühle mich damit ganz wohl. So etwas zu benennen, zu formulieren und
zu begründen, heisst nicht, zu diktieren: ganz im Gegenteil.
Dem würde dir in einem marxistisch tradierten Diskurs natürlich sofort
die Frage nach der Genese und Klassengeprägtheit dieser "Handlungs- und
Denkweisen" entgegengehalten. *Wie* sehr die Konstitution der
Gesellschaft diese Handlungs- und Denkweisen, auch gerade das "moderne
Denken" prägt, ist sehr schön in Eske Bockelmanns Buch "Im Takt des
Geldes" (Verlag zu Klampe 2004, eine schöne Rezension von Peter Ortlieb
- http://www.math.uni-hamburg.de/home/ortlieb/ZuBockelmann.html)
ausgeführt. Die Sprachpraxen sind also keineswegs so unverstellt, wie es
in zu einfachen diskursethischen Argumentationen möglicherweise implizit
vorausgesetzt wird.
Wie gesagt, ich kenne mich da zu wenig aus. Wir haben hier in Leipzig
einen Kollegen, der immer wieder solche Argumentationen bringt, siehe
etwa http://www.rohrbacher-kreis.de/13-Reiprich.pdf, die sich mir aber
nicht wirklich erschließen. Andererseits war vor einigen Jahren Kristóf
Nyíri in Leipzig, dessen wirklich spannendes Buch "Vernetztes Wissen:
Philosophie im Zeitalter des Internets"
http://www.phil-inst.hu/nyiri/vernetztes_wissen.htm die Potenzen eines
sprachkritischen Zugangs weit und für mich überzeugend auslotet.
Die Frage der Genese dieser "Handlungs- und Denkweisen", insbesondere
der impliziten Voraussetzungen der Genese, ist also ein Punkt, der in
einem sprachkritischen Zugang besonderer Aufmerksamkeit bedarf - deshalb
heißt er ja auch sprach*kritisch*.
Ein marxistisch tradierter Zugang (also ein Ansatz, dem ich folge) will
diese Genese direkt erfassen, versucht also primär historisch
vorzugehen, was Marx als große Leistung gegenüber dem ontischen Zugang
von Hegel (mE zu Recht) für sich reklamiert.
Das sind natürlich alles nur verschiedene Zugänge, die "eine große
komplexe Erzählung" in eine zwischen Menschen komunizierbare Form zu
bringen. Das Reden über diese verschiedenen Versuche der sprachlichen
Erschließung halte ich für sehr spannend, weil beide Seiten was lernen
können (sofern sie wollen).
Wie weit es Marx und seinen Nachfolgern insbesondere in ihren
ökonomischen Theorien gelungen ist, den Hegel wirklich "vom Kopf auf die
Füße zu stellen", wird immer wieder diskutiert, aktuell etwa auch durch
Dieter Wolf http://www.dieterwolf.net in Auseinandersetzung mit
Auffassungen der WADK-Gruppe um Stefan Meretz in Wolfs Text "Ende oder
Wendepunkt der Geschichte. Zur Einheit von Darstellung und Kritik bei
Hegel und Marx." Ich frage allerdings seit längerem, ob die Defizite,
die Wolf der WADK-Gruppe unterstellt, nicht auch bereits in Marxens
ökonomischer Theorie (Kapital Bd. 1) zu finden sind. Will ich hier nicht
vertiefen, aber so viel noch mal zu deinen Irritationen (7.5.), dass
auch auf der marxistisch tradierten Seite vieles Baustelle ist.
ich verstehe Deine Position überhaupt nicht, Du sagst Du bist Marxist, siehst
Dich aber auch in der Nähe dieses Potsdamer Manifestes, und hast zwischen all
dem Sympathien für den unternehmerischen Mittelstand... wenn ich das mal so
lapidar hier zusammenfassen darf.
In marxistisch tradierter Theorie ist es allerdings geradezu ein Muss,
Struktur und Genese eines "allgemeinen Maßes" exzessiv zu begründen, das
du als Apriori (?) voraussetzt. Du am 3.5.:
Du hast mich allerdings völlig missverstanden, was meine Position zu einem
allgemein anerkennbaren Mass für Fortschritt angeht: ich habe geschrieben, ich
lade jeden ein, dagegen zu argumentieren, dass es so etwas (allgemeines
Mass...) geben kann, weil ich glaube, dass so ein Argumentationsversuch
letztlich in einen performanten Selbstwiderspruch gerät, so würde ich mal
behaupten wollen (mit Bezug auf die bekannte Argumentationsfigur der
Diskursethik): weil so eine Argumentation letztlich die schon in der Sprache,
in der Möglichkeit des verständigungsorientierten Räsonnierens angelegten
Verallgemeinerungs- und Intersubjektivitätsansprüche würde verneinen oder
verleugnen müssen.
Ich hatte am 5.5. geantwortet
Habe ich in der Tat missverstanden. Eine solche Argumentation findest du in
meinem Text "Wie geht Fortschritt?".
und fände es spannend, diese Diskussion in der Tat zu führen, um besser
zu verstehen, was du mit "allgemein anerkennbarem Mass für Fortschritt"
meinst. Siehe in meinem Text insbesondere die Abschnitte "Das subtile
Verhältnis von Denken und Handeln" sowie "Was ist Fortschritt?", wobei
du für diese Frage über den Rekurs auf Fleissners Text hinweglesen kannst.
Dies als Vorbemerkung, um vielleicht zwei, drei Dinge aus der letzten
Mail noch mal etwas genauer zu erklären. Ich fange hinten an:
Also ich kann Dir da zu Kondratieff und Formalisierungszyklen oder
Trivialisierung nicht folgen.
Dein Begriff von Kapitalismus unterscheidet sich von dem, wie er hier
auf der Liste üblicherweise in marxistisch tradierter Weise verwendet
wird. Du setzt ihn mit der industriellen Revolution, also Entwicklungen
ab etwa 1850 gleich (du am 2.5.)
3) Der K., die industrielle Revolution begann - sehr verkürzt gesagt,
vgl. etwa Max Weber etc. - mit der durch natur- und ingenieurwissenschaftliche
Erfolge und Entdeckungen gesteigerten materiellen Produktion, also durch
mechanisch-maschinelle Unterstützung, und durch dieser Maschinennutzung
angemessene betriebliche Reorganisationen
während er bei Marx mit der Durchsetzung der modernen Geldform, wie es
Bockelmann nennt, zu Beginn des 17. Jahrhunderts einsetzt. Marx war
Zeuge und beeindruckt von einer ersten Welle der Industrialisierung
(noch jenseits der im Weberschen Sinne), die Ablösung der Manufaktur
durch Fabrikarbeit, siehe etwa Ausführungen im "Manifest" (MEW 4) wie
"Die Arbeit der Proletarier hat durch die Ausdehnung der Maschinerie und
die Teilung der Arbeit allen selbständigen Charakter und damit allen
Reiz für die Arbeiter verloren. Er wird ein bloßes Zubehör der Maschine,
von dem nur der einfachste, eintönigste, am leichtesten erlernbare
Handgriff verlangt wird. Die Kosten, die der Arbeiter verursacht,
beschränken sich daher fast nur auf die Lebensmittel, die er zu seinem
Unterhalt und zur Fortpflanzung seiner Race bedarf." (MEW 4, 469)
"Die moderne Industrie hat die kleine Werkstube des patriarchalischen
Meisters in die große Fabrik des industriellen Kapitalisten verwandelt.
Arbeitermassen, in der Fabrik zusammengedrängt, werden soldatisch
organisiert. Sie werden als gemeine Industriesoldaten unter die Aufsicht
einer vollständigen Hierarchie von Unteroffizieren und Offizieren
gestellt." (MEW 4, 469)
Die "Ausdehnung der Maschinerie" ist 1848 für Marx ein rezentes
Phänomen. Allerdings hat er ein klares Verständnis, dass die Zustände
vorher (die kleine Werkstube des patriarchalischen Meisters) und
hinterher (die große Fabrik des industriellen Kapitalisten) beide
Kapitalismus sind. Und diese Beobachtung dieser um 1850 praktisch vor
sich gehenden, primär technologisch getriggerten Transformation führt
ihn zu der Feststellung
"Die Bourgeoisie kann nicht existieren, ohne die Produktionsinstrumente,
also die Produktionsverhältnisse, also sämtliche gesellschaftlichen
Verhältnisse fortwährend zu revolutionieren." (MEW 4, 465)
Ich sage dazu: die Schlange häutet sich. Natürlich nicht permanent,
sondern nur von Zeit zu Zeit. Ein marxistisch tradierter
historisch-analytischer Zugang wird also fragen "Wie oft? Unter welchen
Bedingungen? Wie läuft so eine Transformation typischerweise ab?" usw.
Fragen, die interessanterweise im Traditionsmarxismus nie ernsthaft (im
Sinne von nachhaltig bemerkbarem Schrifttum) gestellt wurden. *Meine*
allererste Frage (ich komme aus dem Kontext einer Systemtheorie in der
mathematischen Tradition dynamischer Systeme, also der
Nicht-Luhmann-Richtung) ist dann die nach adäquaten Zeitmustern solcher
grundlegender "Häutungen der Schlange". Das meine ich mit
"Kondratjew-Wellen" (Plural), wobei die konkrete Form der "Welle"
(Kondratjew hatte wahrscheinlich keine andere Metapher, heute kennt man
ja mindestens auch noch Solitonen oder Wavelets als "wellenartige"
dynamische Strukturen) erst in einem zweiten Arbeitsschritt genauer
studiert werden kann, wenn auf dem "historischen Korpus" entsprechende
Marken angebracht sind, mit denen die Zeitmuster genauer abgegrenzt
werden können.
Der Unterschied zu deinem Zugang ist also allein, dass ich davon
ausgehe, das Kapitalismus (in meinem Verständnis) schon *mehrere*
Transformationen ähnlich der gegenwärtigen hinter sich hat, so dass es
guter Argumente bedarf, die angeblich (bzw. hoffentlich) vorhandene
überschießende neue Qualität jenseits des Übergangs von einem
"Kapitalismus, wie wir ihn kennen" zu einem solchen, "wie wir ihn bald
kennenlernen werden" (das Zeitmuster legt nahe, dass vieles schon läuft,
der eigentliche Umbau der gesellschaftlichen Strukturen aber noch
bevorsteht), herauszupräparieren.
Wobei ich den Eindruck habe, dass du mit deinem Zusatz 'der langen
Frist' auf dieselbe zeitliche Ebene hinauswillst. Ich kann mich
allerdings auch deshalb nicht so für Fabber und RepRaps begeistern wie
du, weil ich frage, ob nicht *jede* der bisherigen Transformationen ihre
eigenen "Fabber" und "RepRaps" hatte - also Erleichterungen des Alltags,
von denen die jeweilige Generation mit ebenso leuchtenden Augen erzählt
hat, während zur gleichen Zeit kritischere Geister bereits ähnlich
argumentierten wie Franz Nahrada am 24.4. mit Bergman
... dass diese Beispiele als rein plakative Belege
für das Kommen einer Erlösungsmaschine genommen werden, der uns jeden Gedanken
über das aufwändige Gestalten von Produkt- und Stoffketten erspart und
gesellschaftliche Produktion in die unmittelbare individuelle Disposition
stellt. Wer dann entdeckt, dass der Einsatz von Fabrikatoren auf wenige und
möglicherweise problematische Materialien beschränkt ist, dass sie langsam und
immer noch teuer sind, der reagiert dann mit Enttäuschung.
Auch zu Mertens These der "sinnvollen Vollautomation" kann ich nur
fragen, ob das nicht ein Menschheitstraum der instrumentellen
Beherrschung von Natur (genauer: der eigenen körperlichen Bedürfnisse)
seit Beginn der Moderne ist, der sich mit jeder neuen "Häutung der
Schlange" ebenfalls transformiert hat.
All das entwertet diese Fragen in keiner Weise, stellt sie aber in einen
historischen Kontext und fragt, wie sie in die Zeitmuster einzuordnen
sind. Diese Frage der Zuordnung zu verschiedenen Zeitmustern meinte ich
mit der Bemerkung
Insofern wäre die These der "vernünftigen Vollautomatisierung" ...
eine aus dem letzten Kondratjew, die Vernetzungsthese eine aus den
neuen.
Ich denke, diese beiden Ebenen (die der verschiedenen Zeitmuster und
deren Metaebene "Moderne") sind bei dir auch drin, wenn du schreibst
Ich kann da immer wieder nur Kant zitieren: Erhebung der
Autonomie des Willens (das ist Kants Formel für mündiges Subjekt)
gegen die Heteronomie der wirkenden Ursachen, also: gegen Frithjof
Bergmanns kalte Winter ohne gehacktes Holz!
Das zweitere passt aber überhaupt nicht hierher, denn dagegen konnte man
sich auch schon vor 1000 Jahren. Dafür sind weder Transformationen
innerhalb der Moderne noch die Moderne überhaupt von Nöten.
Noch zwei Bemerkungen zu deinem wissenschaftstheoretischen Kontext. Zum
einen, Klaus Fuchs-Kittowski (es freut mich, dass du diese Arbeiten
kennst) hat ja nicht nur
die Idee der "unterstützenden Sichtweise" der Informatik entdeckt und
geglaubt, das sei dann was anderes als die "ersetzende Sichtweise",
sondern diese Konzepte schon frühzeitig konsequent von einem Standpunkt
der Sozialisierungserfordernisse der Wissensreproduktion her aufgezogen,
die heute an vielen Stellen quer zur "Macht des Geldes" liegen. In dem
Kontext (und das ist der Kern der hier als Frei mit großem F
aufgerufenen Semantik) geht es eben gerade *nicht* darum (du am 3.5.)
dass ... Freiheit gemeint ist ... als Autonomie des Willens gegen
die Heteronomie wirkender Ursachen,
sondern als *Freizügigkeit* der Freien Rede, was Eben Moglen in seinem
"dotCommunist Manifesto"
http://emoglen.law.columbia.edu/my_pubs/dcm.html wie folgt ausdrückt
"Into their place stepped free competition, accompanied by a social and
political constitution adapted to it, and by the economic and political
sway of the bourgeois class. But ``free competition'' was never more
than an aspiration of bourgeois society, which constantly experienced
the capitalists' intrinsic preference for monopoly. Bourgeois property
exemplified the concept of monopoly, denying at the level of practical
arrangements the dogma of freedom bourgeois law inconsistently
proclaimed. As, in the new digital society, creators establish genuinely
free forms of economic activity, the dogma of bourgeois property comes
into active conflict with the dogma of bourgeois freedom. Protecting the
ownership of ideas requires the suppression of free technology, which
means the suppression of free speech. The power of the State is employed
to prohibit free creation. Scientists, artists, engineers and students
are prevented from creating or sharing knowledge, on the ground that
their ideas imperil the owners' property in the system of cultural
production and distribution. It is in the courts of the owners that the
creators find their class identity most clearly, and it is there,
accordingly, that the conflict begins."
Zum anderen: Wissenschaftstheorie ist, im Gegensatz zu den Vorlieben der
Altmeister selbst, einer der ganz großen blinden Flecke des
Traditionsmarxismus; dennoch gab es in Ostberlin ein ganzes Institut
"Wissenschaftstheorie" mit Leuten wie Hubert Laitko und Hansgünter
Meyer, die in der einschlägigen Fachwelt vor und nach 1990 einen
exzellenten Ruf hatten und haben und mit denen Fuchs-Kittowski in gutem
Kontakt war und ist. Es wäre mal spannend, deine Überlegungen mit (nicht
nur) diesem Diskurs über "Wissenschaft der Zukunft" abzugleichen, etwa
Laitkos schönem Aufsatz "»... es wird eine Wissenschaft sein«. Taugt
Karl Marx’ Jugendvision (1844) als Leitbild für die Wissenschaft des 21.
Jahrhunderts – immer noch oder jetzt erst recht?"
http://www.rohrbacher-kreis.de/15-Laitko.pdf
So, das soll aber nun für heute wirklich erst mal reichen.
Viele Grüße,
Hans-Gert
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